Brexit lähmt die Wirtschaft
Unsicherheit über die Austrittsmodalitäten zehrt zusehends an der Substanz im Vereinigten Königreich
(dpa) - Das Gezerre um den Brexit will auch gut drei Monate vor dem geplanten EU-Austritt der Briten kein Ende nehmen. Die Chancen, dass Premierministerin Theresa May das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen durchs Parlament bringt, gelten als gering.
Für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals ist das ein Alptraum. Seit zweieinhalb Jahren herrscht Ungewissheit darüber, wo es hingeht. Trotz höflich-positiver Reaktionen auf Mays Austrittsvertrag lässt auch der bislang vereinbarte Deal Unternehmen nicht wirklich aufatmen – die Unsicherheit würde nur verlängert.
Eine versehentlich an die Presse gelangte E-Mail des größten britischen Unternehmerverbands CBI offenbarte kürzlich das Unbehagen. „Das ist kein guter Deal“, schrieb Brexit-Expertin Nicole Sykes an einen Kollegen. Der Schwebezustand macht größere Investitionen unmöglich. Die noch immer nicht gebannte Gefahr eines Brexits ohne Abkommen zwingt viele in der Produktion und im Handel dazu, Vorräte anzulegen und Notfallpläne zu erstellen. Das kostet Geld und bindet Kapazitäten. Auch deutsche Firmen sind betroffen.
Bosch hat beispielsweise eine Investition von 39 Millionen Euro (35 Millionen Pfund) in den Bau einer neuen britischen Regionalzentrale zurückgestellt, wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilt. Im Oktober gaben 80 Prozent der britischen Unternehmen in einer großen CBI-Umfrage an, der Brexit habe einen negativen Effekt auf ihre Investitionsentscheidungen gehabt.
Aufgeschoben könnte in vielen Fällen aufgehoben bedeuten. „Für viele Investitionen ist der Zug wahrscheinlich jetzt schon abgefahren“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrieund Handelskammer in London. „Gewisse Dinge, die ich unter Umständen woanders machen kann, in einem heute schon absehbar stabilen regulativen Umfeld, die mache ich jetzt woanders.“
Für den Fall eines ungeregelten Brexits rechnet der Deutsche Industrieund Handelskammertag (DIHK) allein für deutsche Unternehmen mit bis zu zehn Millionen zusätzlichen Zollanmeldungen pro Jahr und mehr als 200 Millionen Euro an zusätzlichen Kosten nur durch diese Zollbürokratie. Die eigentlichen Zölle könnten noch dazukommen. Die Behörden im Vereinigten Königreich seien kaum darauf vorbereitet, ein Chaos in Dover zu verhindern, wenn Zollanmeldungen und -kontrollen nötig wären. Just-in-Time-Produktions- und Lieferketten stehen auf dem Spiel. Weil es keine Klarheit gibt, können sich die Firmen nicht wirklich auf den Brexit vorbereiten. Da hängen ganze Wertschöpfungsketten dran.“
Die Regierung gibt inzwischen zu, dass der Brexit – egal, wie er am Ende konkret aussieht – der Wirtschaft schaden wird. Von der angeblichen „Brexit-Dividende“– den 350 Millionen Pfund pro Woche, die Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson auf die Seite eines roten Busses hatte drucken lassen und die dann dem nationalen Gesundheitsdienst NHS zugutekommen sollten – ist schon längst keine Rede mehr.