Der große Christbaum-Schmu
Bäumchen im Topf aus dem Baumarkt haben teilweise nur noch rudimentäres Wurzelwerk und wenig Chancen anzuwachsen
LINDAU - Weihnachten ohne Christbaum im Wohnzimmer? Geht gar nicht, befand die fünfköpfige Familie. Der besondere Wunsch der Jüngsten, der mit einer Tradition brechen sollte: Statt mit den beiden Schwestern und Papa einen geschlagenen Weihnachtsbaum auszusuchen, wünschte sie sich dieses Mal einen eingetopften Christbaum mit Wurzelballen. Das Argument der Achtjährigen: „Die Bäume machen sich so viel Mühe mit dem Wachsen. Ich will nicht, dass für uns einer geschlagen und nach Weihnachten in den Müll geworfen wird.“Auch das Argument der Mutter, die Zweige könnten nach Weihnachten den Rosen als Winterschutz dienen, stimmt die Jüngste nicht um. „Bitte, lasst uns einen Baum im Topf kaufen. Dann können wir ihm beim Wachsen zusehen.“
Ein unwiderlegbares Argument. Im Baumarkt gibt es eine stattliche Auswahl an Bäumen: solche mit graubläulichen, hellgrünen oder dunkelgrünen Nadeln, breitere und schmälere. Die getopften Bäume sind zwar nicht so groß wie die meisten geschlagenen, die zum Verkauf stehen, dem Wunsch der Jüngsten aber tut das keinen Abbruch. „Wir können den Baum auf einen Stuhl stellen“, schlägt sie vor. „Dann ist er schön groß.“Die Wahl fällt auf eine „Picea pungens glauca“, eine Blaufichte, 100 bis 125 Zentimeter – gerade, weil sie nicht gleichförmig gewachsen ist. Mit vereinten Kräften wird der schwere Baum auf den Einkaufswagen gehievt, nachdem ihn die Mitarbeiterin der Gartenabteilung in ein Netz gesteckt hat. Eigentlich steht der Vorweihnachtsfreude nichts mehr im Weg …
Jeder zehnte Baum steht im Topf
24 bis 25 Millionen Weihnachtsbäume stehen nach Angaben der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) jedes Jahr in deutschen Wohnzimmern, zehn bis zwölf Prozent der Weihnachtsbäume werden der SDW zufolge mittlerweile im Topf gekauft. Martin Sämann, Mitglied im Gremium Immergrüne und Koniferen im Bund deutscher Baumschulen (BdB), wird zitiert: „Wer einen Weihnachtsbaum im Container kauft, hat einen doppelten Nutzen: Er kann ihn nach den Feiertagen in den Garten auspflanzen und ihn so erhalten.“Ein Trend nach Regionalität sei erkennbar, führt die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald weiter aus: 30 Prozent der Bäume würden direkt bei landwirtschaftlichen Betrieben gekauft, weitere 30 Prozent im Straßenhandel und der Rest in Supermärkten sowie in Garten- und Baumärkten.
Zu Hause angekommen, soll der Weihnachtsbaum, der laut Baumarkt aus „einer nachhaltig bewirtschafteten Kultur“stammt und in einem zu kleinen Topf ist, in einen größeren gepflanzt werden – mit dem Baum hat die Familie gleich noch einen Sack Erde gekauft. Doch statt des erwarteten Ballens wie sonst bei Topfpflanzen üblich kommt eine dicke Knolle mit ein paar Würzelchen zum Vorschein. Die schwere Erde, die den mittlerweile leichten Baum stabilisiert hat, bleibt im Topf. Der Versuch, den Weihnachtsbaum in den größeren Topf umzupflanzen, scheitert, weil er mangels Wurzeln sofort umkippt. Erst als er drei Metallrohre als Stützen spendiert bekommt, bleibt der Baum stehen. Die Kinder sind bitter enttäuscht. Am meisten die Jüngste, die viel über Pflanzen weiß und begeistert bei der „Minigärtner“-Aktion der Insel Mainau mitmacht.
Anruf im Baumarkt: Die Dame soll wissen, dass eventuell noch mehr enttäuschte, vielleicht auch verärgerte Kunden anrufen werden. „Das ist relativ“, sagt sie trocken und stellt in die Gartenabteilung durch. Die Fachberaterin dort ist alles andere als überrascht. „Wir wissen, dass die Bäume brutal aus der Erde gerissen werden. Manche haben mehr, andere nur ganz wenig Wurzeln“, sagt sie mit einer Freundlichkeit in der Stimme, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. „Wir haben darauf keinen Einfluss. Wir geben deshalb auch keine Anwachsgarantie“, ergänzt sie. Sie wisse von Kunden, deren Baum angewachsen sei, aber auch von anderen, bei denen es nicht geklappt habe. Das Verhältnis angewachsene zu nicht angewachsene Bäume bleibt offen.
Als „Fake“bezeichnet der Forstsachverständige Werner Christian Scholtes aus Leutkirch im Allgäu das, was die Familie als Weihnachtsbaum erworben hat. „Man kauft eine Idylle ein, die sich als Scheinidylle entpuppt. Der Baum wurde an den Wurzeln abgehackt und mit den paar verbliebenen Wurzeln in einen Topf gestellt. Da kann man sich den Christbaumständer sparen.“Auch der Experte weiß, dass es Christbaumkulturen gibt, in denen die natürlich gewachsenen Bäume für die Eintopfung „nicht fachmännisch ausgestochen werden. Dabei werden die Hauptwurzeln gekappt, die Feinwurzeln gehen verloren“. Den Baum der Familie bezeichnet er als „weitgehend wertlos: Solche Bäume sind zudem sehr anfällig, was Krankheiten anbelangt.“
Der Forstsachverständige Werner Christian Scholtes empfiehlt, beim nächsten Mal ein Bäumchen selbst anzuziehen oder den Gang in eine Baumschule. Dort würden die Pflanzen während der Aufzucht mehrfach verpflanzt, die Anwachschancen seien mit unversehrtem Ballen und gesundem Wurzelwerk einfach höher.
Ein Pflanzgefäßhersteller rät ebenfalls, am besten einen Baum zu wählen, der bereits im Topf gewachsen ist. Wurde der Baum im Freiland groß gezogen und erst kurz vor Weihnachten gestochen, sei die Gefahr groß, dass der Wurzelballen dabei Schaden genommen hat. Im Internet wird potentiellen Käufern von getopften Weihnachtsbäumen empfohlen: „Bitten Sie den Verkäufer, das Bäumchen herauszuziehen. Bröckelt dabei eine größere Menge Topferde auf den Boden, wurde die Pflanze erst kürzlich in den Container gestopft und das Gefäß mit Erde ausgefüllt. Im Topf kultivierte Bäumchen zeichnet dagegen ein kompaktes Wurzelwerk aus, das die Erde beim Rausziehen zusammenhält.“
Der Weihnachtsbaum im Topf, der keinen Ballen hat, wird zum Gesprächsthema im Familien-, Freundesund Bekanntenkreis. Die Familie ist nicht allein mit ihrer Erfahrung. Die Erzählung einer versierten Gärtnerin geht so: „Ich hatte für unseren Weihnachtsbaum, den wir nur kurz im Zimmer hatten und den ich nach den Feiertagen langsam an die niedrigeren Temperaturen gewöhnt hatte, einen schönen Platz im Garten ausgesucht. Vorsichtig habe ich ihn aus dem Topf genommen. Ich war erschrocken, als ich ihn in der Hand hatte: Keine einzige Wurzel war zu sehen. Ich wollte ihm dennoch eine Chance geben. Leider ist er kurze Zeit später eingegangen. Geld habe ich keines zurückbekommen.“
Also doch kein Baum im Topf? Isolde Miller vom Bund Naturschutz in Bayern, Kreisgruppe Lindau, legt nahe, über eine „ökologisch verträgliche Lösung“nachzudenken: Beim Förster könne man nachfragen, ob es „Durchforstungsweihnachtsbäume“gebe. Beispielhaft nennt sie eine Aktion der Kreisgruppe Kempten-Oberallgäu, die Bäume, die aus dem Werdensteiner Moos hätten entfernt werden müssen, gegen eine Spende abgegeben habe. „Wenn der Baum sowieso raus muss, ist es doch toll, wenn er vorher noch ein Weihnachtsbaum wird“, sagt sie. Solle es doch ein eingetopftes Exemplar sein, empfiehlt sie, einen heimischen Baum zu kaufen.
Zurück zum getopften Weihnachtsbaum in der Familie: Die Fachberaterin stellt es frei, den Baum noch vor Weihnachten mit Kassenzettel zurückzubringen. Das Geld bekomme man dann zurück – nach Weihnachten interessiere sich niemand mehr für die Bäume. Auch sie empfiehlt: Wolle man einen richtigen Baum, solle man ihn als kleinen in einem Forstbetrieb kaufen und großziehen. Nein, ein Foto vom verkrüppelten Wurzelwerk reiche nicht, um Geld zurückzuerhalten, die Ware müsse zurückgebracht werden. „Der Baum kann ja noch Wurzeln bilden, und es ist möglich, dass er bei Ihnen anwächst. Dann haben sie ihn kostenlos bekommen.“Der Lieferant des Baumes – alle Filialen bekämen die Weihnachtsbäume über die Zentrale zugeteilt – wolle bei Geldrückgabe die Ware wieder sehen. Was dann mit dem Baum im Baumarkt passiert? „Er wird vernichtet.“
Die Jüngste schluckt. Lieber doch einen geschlagenen Baum? Sie schüttelt den Kopf. „Unser Baum soll bei uns bleiben. Ich kümmere mich um ihn. Wenn er es nicht schafft, soll er bei uns sterben dürfen.“
„Wer einen Weihnachtsbaum im Container kauft, hat doppelten Nutzen.“Martin Sämann vom Bund deutscher Baumschulen
Besser kein Risiko eingehen
Baumexperte Werner Christian Scholtes hat der Familie davon abgeraten, die Blaufichte über die Feiertage ins Haus zu holen – der Temperaturunterschied würde für den ohnehin schon gestressten Baum zusätzlichen Stress bedeuten, könnte ihm den Garaus machen. Die Achtjährige stimmt zu, dass der Baum draußen bleibt. Wie eine Rose, rät Scholtes, solle man ihn winterfest machen, denn wenn die Erde im Topf durchfriere, „gehen die letzten Würzelchen kaputt“. Der Fachmann geht davon aus, dass die meisten Leute ihren Baum gar nicht aus dem Topf holen und ihn wie gekauft ins Wohnzimmer stellen. Geht er nach den Feiertagen langsam ein, sei es halt so. „Ein paar sagen dann vielleicht: Das ist der Temperaturschock, den er nicht überlebt hat. Darauf, dass es die fehlenden Wurzeln sind, kommen sie wahrscheinlich gar nicht.“
Der Traum der Achtjährigen, einen Weihnachtsbaum im Topf im Wohnzimmer zu haben, ist schon vor Weihnachten ausgeträumt. Nicht nur ihrer vermutlich. Die vielen getopften Bäume im Baumarkt, aus dem ihr Weihnachtsbaum stammt, sind mittlerweile alle verkauft.
„Der Baum wurde an den Wurzeln abgehackt und in einen Topf gestellt.“Werner Christian Scholtes, Forstsachverständiger aus Leutkirch