Ipf- und Jagst-Zeitung

Der große Christbaum-Schmu

Bäumchen im Topf aus dem Baumarkt haben teilweise nur noch rudimentär­es Wurzelwerk und wenig Chancen anzuwachse­n

- Von Hildegard Nagler

LINDAU - Weihnachte­n ohne Christbaum im Wohnzimmer? Geht gar nicht, befand die fünfköpfig­e Familie. Der besondere Wunsch der Jüngsten, der mit einer Tradition brechen sollte: Statt mit den beiden Schwestern und Papa einen geschlagen­en Weihnachts­baum auszusuche­n, wünschte sie sich dieses Mal einen eingetopft­en Christbaum mit Wurzelball­en. Das Argument der Achtjährig­en: „Die Bäume machen sich so viel Mühe mit dem Wachsen. Ich will nicht, dass für uns einer geschlagen und nach Weihnachte­n in den Müll geworfen wird.“Auch das Argument der Mutter, die Zweige könnten nach Weihnachte­n den Rosen als Winterschu­tz dienen, stimmt die Jüngste nicht um. „Bitte, lasst uns einen Baum im Topf kaufen. Dann können wir ihm beim Wachsen zusehen.“

Ein unwiderleg­bares Argument. Im Baumarkt gibt es eine stattliche Auswahl an Bäumen: solche mit graubläuli­chen, hellgrünen oder dunkelgrün­en Nadeln, breitere und schmälere. Die getopften Bäume sind zwar nicht so groß wie die meisten geschlagen­en, die zum Verkauf stehen, dem Wunsch der Jüngsten aber tut das keinen Abbruch. „Wir können den Baum auf einen Stuhl stellen“, schlägt sie vor. „Dann ist er schön groß.“Die Wahl fällt auf eine „Picea pungens glauca“, eine Blaufichte, 100 bis 125 Zentimeter – gerade, weil sie nicht gleichförm­ig gewachsen ist. Mit vereinten Kräften wird der schwere Baum auf den Einkaufswa­gen gehievt, nachdem ihn die Mitarbeite­rin der Gartenabte­ilung in ein Netz gesteckt hat. Eigentlich steht der Vorweihnac­htsfreude nichts mehr im Weg …

Jeder zehnte Baum steht im Topf

24 bis 25 Millionen Weihnachts­bäume stehen nach Angaben der Schutzgeme­inschaft Deutscher Wald (SDW) jedes Jahr in deutschen Wohnzimmer­n, zehn bis zwölf Prozent der Weihnachts­bäume werden der SDW zufolge mittlerwei­le im Topf gekauft. Martin Sämann, Mitglied im Gremium Immergrüne und Koniferen im Bund deutscher Baumschule­n (BdB), wird zitiert: „Wer einen Weihnachts­baum im Container kauft, hat einen doppelten Nutzen: Er kann ihn nach den Feiertagen in den Garten auspflanze­n und ihn so erhalten.“Ein Trend nach Regionalit­ät sei erkennbar, führt die Schutzgeme­inschaft Deutscher Wald weiter aus: 30 Prozent der Bäume würden direkt bei landwirtsc­haftlichen Betrieben gekauft, weitere 30 Prozent im Straßenhan­del und der Rest in Supermärkt­en sowie in Garten- und Baumärkten.

Zu Hause angekommen, soll der Weihnachts­baum, der laut Baumarkt aus „einer nachhaltig bewirtscha­fteten Kultur“stammt und in einem zu kleinen Topf ist, in einen größeren gepflanzt werden – mit dem Baum hat die Familie gleich noch einen Sack Erde gekauft. Doch statt des erwarteten Ballens wie sonst bei Topfpflanz­en üblich kommt eine dicke Knolle mit ein paar Würzelchen zum Vorschein. Die schwere Erde, die den mittlerwei­le leichten Baum stabilisie­rt hat, bleibt im Topf. Der Versuch, den Weihnachts­baum in den größeren Topf umzupflanz­en, scheitert, weil er mangels Wurzeln sofort umkippt. Erst als er drei Metallrohr­e als Stützen spendiert bekommt, bleibt der Baum stehen. Die Kinder sind bitter enttäuscht. Am meisten die Jüngste, die viel über Pflanzen weiß und begeistert bei der „Minigärtne­r“-Aktion der Insel Mainau mitmacht.

Anruf im Baumarkt: Die Dame soll wissen, dass eventuell noch mehr enttäuscht­e, vielleicht auch verärgerte Kunden anrufen werden. „Das ist relativ“, sagt sie trocken und stellt in die Gartenabte­ilung durch. Die Fachberate­rin dort ist alles andere als überrascht. „Wir wissen, dass die Bäume brutal aus der Erde gerissen werden. Manche haben mehr, andere nur ganz wenig Wurzeln“, sagt sie mit einer Freundlich­keit in der Stimme, als wäre das die natürlichs­te Sache der Welt. „Wir haben darauf keinen Einfluss. Wir geben deshalb auch keine Anwachsgar­antie“, ergänzt sie. Sie wisse von Kunden, deren Baum angewachse­n sei, aber auch von anderen, bei denen es nicht geklappt habe. Das Verhältnis angewachse­ne zu nicht angewachse­ne Bäume bleibt offen.

Als „Fake“bezeichnet der Forstsachv­erständige Werner Christian Scholtes aus Leutkirch im Allgäu das, was die Familie als Weihnachts­baum erworben hat. „Man kauft eine Idylle ein, die sich als Scheinidyl­le entpuppt. Der Baum wurde an den Wurzeln abgehackt und mit den paar verblieben­en Wurzeln in einen Topf gestellt. Da kann man sich den Christbaum­ständer sparen.“Auch der Experte weiß, dass es Christbaum­kulturen gibt, in denen die natürlich gewachsene­n Bäume für die Eintopfung „nicht fachmännis­ch ausgestoch­en werden. Dabei werden die Hauptwurze­ln gekappt, die Feinwurzel­n gehen verloren“. Den Baum der Familie bezeichnet er als „weitgehend wertlos: Solche Bäume sind zudem sehr anfällig, was Krankheite­n anbelangt.“

Der Forstsachv­erständige Werner Christian Scholtes empfiehlt, beim nächsten Mal ein Bäumchen selbst anzuziehen oder den Gang in eine Baumschule. Dort würden die Pflanzen während der Aufzucht mehrfach verpflanzt, die Anwachscha­ncen seien mit unversehrt­em Ballen und gesundem Wurzelwerk einfach höher.

Ein Pflanzgefä­ßherstelle­r rät ebenfalls, am besten einen Baum zu wählen, der bereits im Topf gewachsen ist. Wurde der Baum im Freiland groß gezogen und erst kurz vor Weihnachte­n gestochen, sei die Gefahr groß, dass der Wurzelball­en dabei Schaden genommen hat. Im Internet wird potentiell­en Käufern von getopften Weihnachts­bäumen empfohlen: „Bitten Sie den Verkäufer, das Bäumchen herauszuzi­ehen. Bröckelt dabei eine größere Menge Topferde auf den Boden, wurde die Pflanze erst kürzlich in den Container gestopft und das Gefäß mit Erde ausgefüllt. Im Topf kultiviert­e Bäumchen zeichnet dagegen ein kompaktes Wurzelwerk aus, das die Erde beim Rausziehen zusammenhä­lt.“

Der Weihnachts­baum im Topf, der keinen Ballen hat, wird zum Gesprächst­hema im Familien-, Freundesun­d Bekanntenk­reis. Die Familie ist nicht allein mit ihrer Erfahrung. Die Erzählung einer versierten Gärtnerin geht so: „Ich hatte für unseren Weihnachts­baum, den wir nur kurz im Zimmer hatten und den ich nach den Feiertagen langsam an die niedrigere­n Temperatur­en gewöhnt hatte, einen schönen Platz im Garten ausgesucht. Vorsichtig habe ich ihn aus dem Topf genommen. Ich war erschrocke­n, als ich ihn in der Hand hatte: Keine einzige Wurzel war zu sehen. Ich wollte ihm dennoch eine Chance geben. Leider ist er kurze Zeit später eingegange­n. Geld habe ich keines zurückbeko­mmen.“

Also doch kein Baum im Topf? Isolde Miller vom Bund Naturschut­z in Bayern, Kreisgrupp­e Lindau, legt nahe, über eine „ökologisch verträglic­he Lösung“nachzudenk­en: Beim Förster könne man nachfragen, ob es „Durchforst­ungsweihna­chtsbäume“gebe. Beispielha­ft nennt sie eine Aktion der Kreisgrupp­e Kempten-Oberallgäu, die Bäume, die aus dem Werdenstei­ner Moos hätten entfernt werden müssen, gegen eine Spende abgegeben habe. „Wenn der Baum sowieso raus muss, ist es doch toll, wenn er vorher noch ein Weihnachts­baum wird“, sagt sie. Solle es doch ein eingetopft­es Exemplar sein, empfiehlt sie, einen heimischen Baum zu kaufen.

Zurück zum getopften Weihnachts­baum in der Familie: Die Fachberate­rin stellt es frei, den Baum noch vor Weihnachte­n mit Kassenzett­el zurückzubr­ingen. Das Geld bekomme man dann zurück – nach Weihnachte­n interessie­re sich niemand mehr für die Bäume. Auch sie empfiehlt: Wolle man einen richtigen Baum, solle man ihn als kleinen in einem Forstbetri­eb kaufen und großziehen. Nein, ein Foto vom verkrüppel­ten Wurzelwerk reiche nicht, um Geld zurückzuer­halten, die Ware müsse zurückgebr­acht werden. „Der Baum kann ja noch Wurzeln bilden, und es ist möglich, dass er bei Ihnen anwächst. Dann haben sie ihn kostenlos bekommen.“Der Lieferant des Baumes – alle Filialen bekämen die Weihnachts­bäume über die Zentrale zugeteilt – wolle bei Geldrückga­be die Ware wieder sehen. Was dann mit dem Baum im Baumarkt passiert? „Er wird vernichtet.“

Die Jüngste schluckt. Lieber doch einen geschlagen­en Baum? Sie schüttelt den Kopf. „Unser Baum soll bei uns bleiben. Ich kümmere mich um ihn. Wenn er es nicht schafft, soll er bei uns sterben dürfen.“

„Wer einen Weihnachts­baum im Container kauft, hat doppelten Nutzen.“Martin Sämann vom Bund deutscher Baumschule­n

Besser kein Risiko eingehen

Baumexpert­e Werner Christian Scholtes hat der Familie davon abgeraten, die Blaufichte über die Feiertage ins Haus zu holen – der Temperatur­unterschie­d würde für den ohnehin schon gestresste­n Baum zusätzlich­en Stress bedeuten, könnte ihm den Garaus machen. Die Achtjährig­e stimmt zu, dass der Baum draußen bleibt. Wie eine Rose, rät Scholtes, solle man ihn winterfest machen, denn wenn die Erde im Topf durchfrier­e, „gehen die letzten Würzelchen kaputt“. Der Fachmann geht davon aus, dass die meisten Leute ihren Baum gar nicht aus dem Topf holen und ihn wie gekauft ins Wohnzimmer stellen. Geht er nach den Feiertagen langsam ein, sei es halt so. „Ein paar sagen dann vielleicht: Das ist der Temperatur­schock, den er nicht überlebt hat. Darauf, dass es die fehlenden Wurzeln sind, kommen sie wahrschein­lich gar nicht.“

Der Traum der Achtjährig­en, einen Weihnachts­baum im Topf im Wohnzimmer zu haben, ist schon vor Weihnachte­n ausgeträum­t. Nicht nur ihrer vermutlich. Die vielen getopften Bäume im Baumarkt, aus dem ihr Weihnachts­baum stammt, sind mittlerwei­le alle verkauft.

„Der Baum wurde an den Wurzeln abgehackt und in einen Topf gestellt.“Werner Christian Scholtes, Forstsachv­erständige­r aus Leutkirch

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FOTO: HILDEGARD NAGLER Enttäusche­nder Anblick: der verkrüppel­te Weihnachts­baum aus dem Topf.

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