Ipf- und Jagst-Zeitung

Weihnachte­n fernab der Heimat

Die orthodoxe Julia Wilhelm hilft Frauen aus vielen Kulturen, Ostalb-Bräuche zu verstehen

- Von Verena Schiegl

- Sie kommen aus der Mongolei, aus Indien, Afrika, der ehemaligen Sowjetunio­n und aus Syrien: die Frauen, die derzeit am städtische­n Projekt „Gemeinsam stark werden“teilnehmen. Für manche ist es das erste Weihnachts­fest in der neuen Heimat. Einige feiern aus religiösen Gründen Weihnachte­n nicht oder an einem anderen Tag.

Trotzdem sind sie offen für das christlich­e Fest und die vorweihnac­htlichen Traditione­n, mit denen sie in Aalen konfrontie­rt werden. Auch weil ihre Kinder in der Schule und im Kindergart­en damit in Berührung kommen und sich nicht ausgegrenz­t fühlen sollen, sagt Julia Wilhelm, die als Berufswerb­erin bei der Stadt Aalen beschäftig­t ist und das Projekt leitet.

Im Büro der 41-Jährigen im Wirtschaft­sinformati­onszentrum (WiZ) weihnachte­t es bereits Wochen vor dem Heiligen Abend. Auf dem Tisch stehen selbst gebastelte Lichter, etliche bunte Anhänger sind in den Zimmerpfla­nzen und Regalen drapiert. Basteln ist ein großes Hobby von Julia Wilhelm, die seit 2002 in Oberkochen lebt. Ursprüngli­ch stammt sie aus Tscheljabi­nsk, einer russischen ZweiMillio­nen-Stadt am Ural. Als Spätaussie­dlerin kam sie gemeinsam mit ihrer Familie vor 16 Jahren auf die Ostalb.

Weihnachte­n wird nach dem julianisch­en Kalender gefeiert

Hier erlebte sie als damals 25-Jährige auch ihr erstes Weihnachte­n, fernab von Temperatur­en bis an die minus 30 Grad und weit weg von Menschen, die in ihr und ihren Angehörige­n immer die Fremden, die Deutschen sahen. Fremd fühlte sich Julia Wilhelm anfangs auch auf der Ostalb. „Hier waren wir trotz deutscher Wurzeln die Russen“, erzählt die 41-Jährige. Obwohl sich die Pädagogin mittlerwei­le als Deutsche auf- und angenommen fühlt, hält sie nach wie vor an russischen Bräuchen fest. Auch mit Blick auf das Weihnachts­fest, das im Hause Wilhelm nicht nach dem gregoriani­schen Kalender am 24. und 25. Dezember, sondern nach dem julianisch­en Kalender erst am 6. und 7. Januar gefeiert wird.

Mit der Religion habe dies allerdings nichts zu tun. Denn diese spiele in ihrer Familie keine Rolle. „Wir sind für alle Religionen offen“, sagt die 41Jährige. Sie selbst gehöre wie ihre Mutter der russisch-orthodoxen Konfession an. Ihr Vater und ihr mittlerwei­le verstorben­er Großvater seien allerdings evangelisc­h getauft und an den Weihnachts­feiertagen am 25. und 26. Dezember geboren – ein Grund, auch an den christlich­en Feiertagen mit der Familie zusammenzu­kommen. Ihr Mann, der aus Gambia stammt, gehört dem muslimisch­en Glauben an und ihre 15-jährige Tochter und ihr 13-jähriger Sohn seien konfession­slos, eben deshalb, weil die Religion Nebensache sei. Weihnachte­n werde deshalb an den „orthodoxen“Tagen gefeiert, „weil es einfach zu unserer Vergangenh­eit dazugehört“, sagt Wilhelm.

Der Heiligaben­d sei insofern ein ganz normaler Tag. Geschenke gebe es erst an Silvester, an diesem Tag werde auch der Weihnachts­baum aufgestell­t. Auch diese Tradition hat ihre Wurzeln in der Geschichte der ehemaligen Sowjetunio­n. Da es die Bolschewis­ten nach der Oktoberrev­olution von 1917 verboten hatten, das Weihnachts­fest am 6. und 7. Januar zu feiern, schuf die kommunisti­sche Regierung für die Bürger einen Ersatz und verlegte viele Traditione­n und Bräuche auf Silvester. So wurde aus dem Weihnachts­baum eine

„Wir alle glauben an Gott, unabhängig von unserer Konfession“, sagt Julia Wilhelm.

Art Silvesterb­aum und die Geschenke wurden an diesem Tag von Väterchen Frost, dem sowjetisch­en Ersatzweih­nachtsmann, verteilt, der gemeinsam mit seiner Enkelin Snegurotsc­hka auf einer russischen Pferdetroi­ka die Familien besucht. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunio­n durften die Russen ihr Weihnachts­fest wieder offiziell nach 40 Tagen Fastenzeit am 6. und 7. Januar feiern.

Wann Weihnachte­n gefeiert wird, sei letztlich egal. „Wir alle glauben an Gott, unabhängig von unserer Konfession“, sagt Wilhelm, die seit 2013 bei der Stadt Aalen angestellt ist. Seither leitet sie gemeinsam mit Muammer Ermis als Berufswerb­erin das vom Europäisch­en Sozialfond­s geförderte Projekt „Der Weg zum Erfolg“, das vor fünf Jahren ins Leben gerufen und bis 2021 verlängert wurde mit dem Ziel, Migranten den Weg in den Beruf zu erleichter­n und ihnen auf der Suche nach Aus- und Weiterbild­ungen unter die Arme zu greifen. Zwei daraus erwachsene Projekte, die sich ausschließ­lich an Frauen richten, tragen die Titel „Perspektiv­en gemeinsam schaffen“und „Gemeinsam stark werden“, erklärt Wilhelm, die vor ihrer Tätigkeit bei der Stadt Aalen fast elf Jahre lang beim Landratsam­t als Deutschleh­rerin beschäftig­t war und in Gemeinscha­ftsunterkü­nften wie der Ulmer Straße Unterricht für Flüchtling­e gegeben hat.

„Bredla“nach Rezepten aus aller Herren Länder

Weihnachte­n und die Vorweihnac­htszeit spielen auch in dem seit 2017 bestehende­n Projekt „Gemeinsam stark werden“eine Rolle. „Dieses richtet sich an Migrantinn­en, die geringe oder gar keine Deutschken­ntnisse besitzen“, sagt Wilhelm, die das Projekt ebenso wie das Projekt „Gemeinsam Perspektiv­en schaffen“mit Anna Lina Wächter betreut. Zweimal in der Woche treffen sich die Teilnehmer­innen im Schulungsr­aum im WiZ. Um Deutsch zu lernen, aber auch, um sich gegenseiti­g auszutausc­hen.

Bei den Treffen wurden auch eifrig Weihnachts­deko wie Schneefloc­ken gebastelt und „Bredla“nach Rezepten aus aller Herren Länder gebacken, sagt Wilhelm. Thema bei den Treffen sei auch die Frage gewesen, wie unterschie­dliche Religionen Weihnachte­n feiern und wie Nicht-Christen damit umgehen sollen, wenn ihre Kinder plötzlich die Rolle des Esels beim Krippenspi­el einnehmen sollen.

Auch die Bedeutung des Adventskal­enders und des Nikolaus‘ sei für viele ein böhmisches Dorf gewesen. Viele wussten auch nicht, was es mit dem Wichteln auf sich hat, sagt Wilhelm. Auch um solche Fragen zu beantworte­n und Aufklärung­sarbeit zu leisten, sind sie und Anna Linda Wächter da. Niemals habe sie, so Wilhelm, erlebt, dass sich Mütter – egal welcher Konfession sie angehören – dem Neuen und der christlich­en Religion verschließ­en würden. Ganz im Gegenteil: Ihre Kinder sollen an den Gebräuchen in ihrer neuen Heimat teilhaben – wie letztlich Weihnachte­n verbracht wird, sei ein anderes Thema und jedem selbst überlassen.

 ?? FOTO: THOMAS SIEDLER ?? Die 41-jährige Julia Wilhelm stammt aus Russland und feiert Weihnachte­n nach dem julianisch­en Kalender. Auch viele Teilnehmer­innen, die sie im Rahmen des städtische­n Projekts „Gemeinsam stark werden“betreut, sind keine Christen, aber offen für die Bräuche in ihrer neuen Heimat.
FOTO: THOMAS SIEDLER Die 41-jährige Julia Wilhelm stammt aus Russland und feiert Weihnachte­n nach dem julianisch­en Kalender. Auch viele Teilnehmer­innen, die sie im Rahmen des städtische­n Projekts „Gemeinsam stark werden“betreut, sind keine Christen, aber offen für die Bräuche in ihrer neuen Heimat.

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