’’ ... und raus bist du
Wenn Kinder zur Waffe und Vater oder Mutter ausgegrenzt werden
Meist passiert die Entfremdung aus unverarbeiteten Hassgefühlen heraus.
Die dunklen Augen der zierlichen hübschen Frau füllen sich mit Wasser, als das Gespräch auf das nahende Weihnachtsfest kommt. Doch in dem Ravensburger Café sitzen an diesem Nachmittag viele andere Gäste. Sie reißt sich also zusammen, will nicht in Tränen ausbrechen, sagt nur leise: „Ich darf gar nicht daran denken.“Vermutlich wird das kommende das erste Weihnachten sein, das sie ohne ihren 13-jährigen Sohn feiern muss. Und das, obwohl der Junge nur ein paar Straßen weiter wohnt – beim Vater. Doch seit ein paar Monaten hat sie so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihm. Nach einem Streit mit der Mutter hat der 13-Jährige seinen Rucksack gepackt und ist zu seinem Vater gezogen. Na ja – die Überreaktion eines Pubertierenden halt, möchte man meinen. Doch der Junge entfernt sich in den kommenden Wochen immer mehr von seiner Mutter, die vermutet, dass der Vater einen Keil zwischen ihr und den Sohn treiben will. Die Folgen sind gravierend, nicht nur für die Mutter. In solchen Fällen leiden nämlich vor allem die Kinder – oft ihr Leben lang.
Wilfried von Boch-Galhau, Mediziner
Entfremdung nennen Psychologen das, was in den zurückliegenden Wochen in Ravensburg passiert ist. Manche Experten sprechen von einer durch das Verhalten eines Elternteils ausgelösten Störung beim Kind. Sie bezeichnen dies als Parental Alienation (PA) oder gar Parental Alienation Syndrom (PAS) und beschreiben damit die allmähliche Eltern-KindEntfremdung. Sie kann von Loyalitätskonflikten bis zur totalen Ablehnung von Vater oder Mutter führen. Der Würzburger Mediziner Wilfried von Boch-Galhau, der in diesem Bereich forscht und zum Thema bereits zahlreiche Fachartikel veröffentlicht hat, spricht von ernst zu nehmenden Folgen für die Entwicklung der Kinder. Nicht selten müssen betroffene Mädchen und Jungen psychologisch betreut werden.
„Meist passiert die Entfremdung aus unverarbeiteten Hassgefühlen gegenüber dem ehemaligen Partner heraus“, erklärt Boch-Galhau. Nach seiner Erfahrung sind es oft Männer und Frauen mit schweren narzisstischen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie Menschen mit traumatischen Kindheitserfahrungen, die versuchen, den ehemaligen Partner auszugrenzen. Die 39-Jährige im Ravensburger Café schüttelt den Kopf. Sie hat keine Ahnung, was ihren Ex-Mann plötzlich dazu treiben könnte, das bisher liebevolle und intakte Verhältnis zu ihrem Sohn zu zerstören. Seit neun Jahren ist das Paar geschieden. Mit der gemeinsamen Sorge um den Sprössling habe es aber immer gut geklappt. Der Vater habe regelmäßig Unterhalt bezahlt, der Sohn habe bei ihr gelebt, sei aber zwei Tage die Woche beim Vater gewesen. „Wir haben nichts schriftlich geregelt, war ja alles immer bestens“. Jetzt ist gar nichts mehr bestens. Der Vater behauptet, der Junge wolle seine Mutter nicht sehen, der Junge selbst bestätigt dies. „Ich habe das Gefühl, mein Sohn hat Angst vor mir“, sagt die Mutter. Der 13-Jährige hat sie bei WhatsApp blockiert, reagiert nicht auf ihre SMS-Nachrichten und hat auch den Kontakt mit der restlichen Familie mütterlicherseits komplett abgebrochen. „Ich weiß nicht, was mein Ex-Mann ihm über mich erzählt hat. Aber sicher nichts Gutes“, mutmaßt die 39-Jährige. Sogar Handgreiflichkeiten habe er ihr in Andeutungen vorgeworfen, erklärt das schmale Persönchen und muss zum ersten Mal lächeln – ihr Sohn ist inzwischen einen Kopf größer als sie.
Manuela Fischer ist das Lachen bei diesem Thema längst vergangen. Als freiberufliche Mitarbeiterin ist sie in der Frauenberatungsstelle in Ravensburg zuständig für ein Gruppenangebot mit dem Titel „Wie in Verbindung bleiben?“, das sich an Frauen richtet, die aus unterschiedlichen Gründen getrennt von ihren Kindern leben. Sie kennt mittlerweile zahlreiche Fälle von Entfremdung und weiß: Ist der Prozess erst einmal in Gang, wird es sehr schwer, ihn zu durchbrechen. Selbst wenn es wie im beschriebenen Fall Unterstützung vom Jugendamt oder einer Beratungsstelle gibt, gemeinsame, begleitete Gespräche der Eltern stattfinden. „Dabei hat sie alles richtig gemacht, alle Betroffenen sofort informiert und Hilfe gesucht“, sagt die Sozialarbeiterin mit Blick auf ihre Tischnachbarin im Café. Zuzugeben, dass man keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern hat, fällt nicht leicht. Denn die Mitmenschen reagieren meist stereotyp. Was muss da wohl Schlimmes passiert sein, wenn das eigene Kind Vater oder Mutter nicht mehr sehen will? Diese Frage steht sofort im Raum. Die Entfremder selbst sprechen vor anderen meist von psychischen Problemen, wenn es um Mütter, und von Missbrauchsvorfällen, wenn es um Väter geht. Außenstehende glauben das dann schnell und gerne, denn wer noch nie damit konfrontiert wurde, dem ist das Phänomen der Entfremdung unbekannt.
Auch die 39-Jährige hat bis vor einem halben Jahr mit dem Begriff nichts anfangen können. „Ich habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt“, erzählt sie. Und von dem Verein „Väteraufbruch für Kinder“, der auch in Ravensburg sehr aktiv ist und sich für die „... Aufrechterhaltung der Beziehung der Kinder zu beiden Eltern nach einer Trennung“einsetzt, hat sie zuvor nichts gehört. Heute weiß sie aber, dass sogar im deutschen Gesetz steht, dass ein Kind nach der Trennung ein eigenes Recht auf Umgang mit Vater und Mutter hat. Doch viele deutsche Familiengerichte tun sich schwer damit, das Umgangsrecht schnell und konsequent durchzusetzen. Mehrfach ist Deutschland deswegen vom Europäischen Gerichtshof wegen „Missachtung des Menschenrechts auf Familienleben“verurteilt worden.
Rund 80 000 Ehen mit gemeinsamen minderjährigen Kindern werden jedes Jahr in Deutschland geschieden. Über die Hälfte der Paare ist dann so zerstritten, dass vor Gericht das Sorge- und Umgangsrecht festgelegt werden muss. Das Kind wird zum Zankapfel, zur Trophäe, und geht nur selten unbeschadet daraus hervor. Sascha ist heute 20 Jahre alt und ein Trennungskind. In dem Buch „Vergiss, dass es dein Vater ist“ erzählt er rückblickend: „Für meine Mutter war mein Vater quasi das personifizierte Böse, und ich habe angefangen, das irgendwann zu übernehmen.“Für Sozialarbeiterin Fischer die logische, nachvollziehbare Reaktion eines Scheidungskindes: „Das Kind hat ja quasi schon einen Elternteil verloren. Jetzt will es alles dafür tun, den anderen nicht auch noch zu verlieren.“Außerdem helfe es Mädchen und Jungen bei der Verarbeitung einer Trennung, die Elternteile in gut und böse einzuordnen. Tina, heute 28 Jahre alt und ebenfalls ein Scheidungskind, das Entfremdung erlebt hat, bestätigt, dass sie gegenüber ihrer Mutter ein sehr schlechtes Gewissen gehabt habe, als sie nach vielen Jahren ihren Vater das erste Mal wieder besucht hatte.
Auch solche Gefühle ordnet Manuela Fischer als charakteristisch ein. Sie erzählt von einer Mutter, die ebenfalls im Kreis Ravensburg lebt und ihre vier Söhne seit nun achteinhalb Jahren nicht mehr gesehen hat. Als sie anfangs noch sporadisch ihre Kinder treffen konnte, habe sie das schlechte Gewissen der Jungs gegenüber noch viel zu wenig passiere im Vergleich zu anderen Ländern. Vielmehr herrsche hier noch die Meinung vor, man müsse Kind und Eltern erst einmal zur Ruhe kommen lassen, dann regle sich das oft schon von alleine. „Eine fatale und falsche Ansicht“, glaubt Fischer. Denn Ruhe habe dann nur der Jugendamtsmitarbeiter oder der Richter, in dem Kind aber tobe die Hölle weiter. Und je mehr Zeit ein Elternteil habe, den ehemaligen Partner schlecht zu machen und auszugrenzen, desto mehr würde sich die Entfremdung manifestieren. Boch-Galhau führt an, dass es in London mittlerweile sogar die „Family Seperation Clinic“gibt, in der unter Aufsicht eine Annäherung zwischen Kindern und entfremdeter Mama oder ausgegrenztem Papa erfolgt. In einer seiner Studien zitiert er ein Kind: „Ich hätte niemals von alleine den Kontakt zu meiner Mutter aufgenommen, wenn das Gericht es nicht angeordnet hätte. Nun, da ich es getan habe, habe ich meine Mutter besser kennengelernt. Sie ist besser, als ich jemals geglaubt hätte.“
Die 39-jährige selbstbewusste Ravensburgerin will es nicht so weit kommen lassen und mit aller Kraft dafür kämpfen, möglichst bald wieder Kontakt zu ihrem Sohn aufzubauen. Doch zu diesem Weihnachtsfest wird das wohl noch nicht klappen.
Entfremdetes Kind nach einer Gerichtsentscheidung
Die Frauenberatungsstelle in Ravensburg bietet Gesprächsgruppen für entfremdete Mütter an unter dem Titel „Wie in Verbindung
bleiben“. Nähere Informationen unter Tel: 0751/23323 oder kontakt@frauen-beratung-ravensburg.de Nähere Informationen über den Verein „Väteraufbruch in Ravensburg“unter Tel.: 0171/4776530 und 0177/7747703 oder https:// ravensburg.vaeteraufbruch.de/