Ipf- und Jagst-Zeitung

’’ ... und raus bist du

Wenn Kinder zur Waffe und Vater oder Mutter ausgegrenz­t werden

- Von Simone Haefele

Meist passiert die Entfremdun­g aus unverarbei­teten Hassgefühl­en heraus.

Die dunklen Augen der zierlichen hübschen Frau füllen sich mit Wasser, als das Gespräch auf das nahende Weihnachts­fest kommt. Doch in dem Ravensburg­er Café sitzen an diesem Nachmittag viele andere Gäste. Sie reißt sich also zusammen, will nicht in Tränen ausbrechen, sagt nur leise: „Ich darf gar nicht daran denken.“Vermutlich wird das kommende das erste Weihnachte­n sein, das sie ohne ihren 13-jährigen Sohn feiern muss. Und das, obwohl der Junge nur ein paar Straßen weiter wohnt – beim Vater. Doch seit ein paar Monaten hat sie so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihm. Nach einem Streit mit der Mutter hat der 13-Jährige seinen Rucksack gepackt und ist zu seinem Vater gezogen. Na ja – die Überreakti­on eines Pubertiere­nden halt, möchte man meinen. Doch der Junge entfernt sich in den kommenden Wochen immer mehr von seiner Mutter, die vermutet, dass der Vater einen Keil zwischen ihr und den Sohn treiben will. Die Folgen sind gravierend, nicht nur für die Mutter. In solchen Fällen leiden nämlich vor allem die Kinder – oft ihr Leben lang.

Wilfried von Boch-Galhau, Mediziner

Entfremdun­g nennen Psychologe­n das, was in den zurücklieg­enden Wochen in Ravensburg passiert ist. Manche Experten sprechen von einer durch das Verhalten eines Elternteil­s ausgelöste­n Störung beim Kind. Sie bezeichnen dies als Parental Alienation (PA) oder gar Parental Alienation Syndrom (PAS) und beschreibe­n damit die allmählich­e Eltern-KindEntfre­mdung. Sie kann von Loyalitäts­konflikten bis zur totalen Ablehnung von Vater oder Mutter führen. Der Würzburger Mediziner Wilfried von Boch-Galhau, der in diesem Bereich forscht und zum Thema bereits zahlreiche Fachartike­l veröffentl­icht hat, spricht von ernst zu nehmenden Folgen für die Entwicklun­g der Kinder. Nicht selten müssen betroffene Mädchen und Jungen psychologi­sch betreut werden.

„Meist passiert die Entfremdun­g aus unverarbei­teten Hassgefühl­en gegenüber dem ehemaligen Partner heraus“, erklärt Boch-Galhau. Nach seiner Erfahrung sind es oft Männer und Frauen mit schweren narzisstis­chen oder Borderline-Persönlich­keitsstöru­ngen sowie Menschen mit traumatisc­hen Kindheitse­rfahrungen, die versuchen, den ehemaligen Partner auszugrenz­en. Die 39-Jährige im Ravensburg­er Café schüttelt den Kopf. Sie hat keine Ahnung, was ihren Ex-Mann plötzlich dazu treiben könnte, das bisher liebevolle und intakte Verhältnis zu ihrem Sohn zu zerstören. Seit neun Jahren ist das Paar geschieden. Mit der gemeinsame­n Sorge um den Sprössling habe es aber immer gut geklappt. Der Vater habe regelmäßig Unterhalt bezahlt, der Sohn habe bei ihr gelebt, sei aber zwei Tage die Woche beim Vater gewesen. „Wir haben nichts schriftlic­h geregelt, war ja alles immer bestens“. Jetzt ist gar nichts mehr bestens. Der Vater behauptet, der Junge wolle seine Mutter nicht sehen, der Junge selbst bestätigt dies. „Ich habe das Gefühl, mein Sohn hat Angst vor mir“, sagt die Mutter. Der 13-Jährige hat sie bei WhatsApp blockiert, reagiert nicht auf ihre SMS-Nachrichte­n und hat auch den Kontakt mit der restlichen Familie mütterlich­erseits komplett abgebroche­n. „Ich weiß nicht, was mein Ex-Mann ihm über mich erzählt hat. Aber sicher nichts Gutes“, mutmaßt die 39-Jährige. Sogar Handgreifl­ichkeiten habe er ihr in Andeutunge­n vorgeworfe­n, erklärt das schmale Persönchen und muss zum ersten Mal lächeln – ihr Sohn ist inzwischen einen Kopf größer als sie.

Manuela Fischer ist das Lachen bei diesem Thema längst vergangen. Als freiberufl­iche Mitarbeite­rin ist sie in der Frauenbera­tungsstell­e in Ravensburg zuständig für ein Gruppenang­ebot mit dem Titel „Wie in Verbindung bleiben?“, das sich an Frauen richtet, die aus unterschie­dlichen Gründen getrennt von ihren Kindern leben. Sie kennt mittlerwei­le zahlreiche Fälle von Entfremdun­g und weiß: Ist der Prozess erst einmal in Gang, wird es sehr schwer, ihn zu durchbrech­en. Selbst wenn es wie im beschriebe­nen Fall Unterstütz­ung vom Jugendamt oder einer Beratungss­telle gibt, gemeinsame, begleitete Gespräche der Eltern stattfinde­n. „Dabei hat sie alles richtig gemacht, alle Betroffene­n sofort informiert und Hilfe gesucht“, sagt die Sozialarbe­iterin mit Blick auf ihre Tischnachb­arin im Café. Zuzugeben, dass man keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern hat, fällt nicht leicht. Denn die Mitmensche­n reagieren meist stereotyp. Was muss da wohl Schlimmes passiert sein, wenn das eigene Kind Vater oder Mutter nicht mehr sehen will? Diese Frage steht sofort im Raum. Die Entfremder selbst sprechen vor anderen meist von psychische­n Problemen, wenn es um Mütter, und von Missbrauch­svorfällen, wenn es um Väter geht. Außenstehe­nde glauben das dann schnell und gerne, denn wer noch nie damit konfrontie­rt wurde, dem ist das Phänomen der Entfremdun­g unbekannt.

Auch die 39-Jährige hat bis vor einem halben Jahr mit dem Begriff nichts anfangen können. „Ich habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt“, erzählt sie. Und von dem Verein „Väteraufbr­uch für Kinder“, der auch in Ravensburg sehr aktiv ist und sich für die „... Aufrechter­haltung der Beziehung der Kinder zu beiden Eltern nach einer Trennung“einsetzt, hat sie zuvor nichts gehört. Heute weiß sie aber, dass sogar im deutschen Gesetz steht, dass ein Kind nach der Trennung ein eigenes Recht auf Umgang mit Vater und Mutter hat. Doch viele deutsche Familienge­richte tun sich schwer damit, das Umgangsrec­ht schnell und konsequent durchzuset­zen. Mehrfach ist Deutschlan­d deswegen vom Europäisch­en Gerichtsho­f wegen „Missachtun­g des Menschenre­chts auf Familienle­ben“verurteilt worden.

Rund 80 000 Ehen mit gemeinsame­n minderjähr­igen Kindern werden jedes Jahr in Deutschlan­d geschieden. Über die Hälfte der Paare ist dann so zerstritte­n, dass vor Gericht das Sorge- und Umgangsrec­ht festgelegt werden muss. Das Kind wird zum Zankapfel, zur Trophäe, und geht nur selten unbeschade­t daraus hervor. Sascha ist heute 20 Jahre alt und ein Trennungsk­ind. In dem Buch „Vergiss, dass es dein Vater ist“ erzählt er rückblicke­nd: „Für meine Mutter war mein Vater quasi das personifiz­ierte Böse, und ich habe angefangen, das irgendwann zu übernehmen.“Für Sozialarbe­iterin Fischer die logische, nachvollzi­ehbare Reaktion eines Scheidungs­kindes: „Das Kind hat ja quasi schon einen Elternteil verloren. Jetzt will es alles dafür tun, den anderen nicht auch noch zu verlieren.“Außerdem helfe es Mädchen und Jungen bei der Verarbeitu­ng einer Trennung, die Elternteil­e in gut und böse einzuordne­n. Tina, heute 28 Jahre alt und ebenfalls ein Scheidungs­kind, das Entfremdun­g erlebt hat, bestätigt, dass sie gegenüber ihrer Mutter ein sehr schlechtes Gewissen gehabt habe, als sie nach vielen Jahren ihren Vater das erste Mal wieder besucht hatte.

Auch solche Gefühle ordnet Manuela Fischer als charakteri­stisch ein. Sie erzählt von einer Mutter, die ebenfalls im Kreis Ravensburg lebt und ihre vier Söhne seit nun achteinhal­b Jahren nicht mehr gesehen hat. Als sie anfangs noch sporadisch ihre Kinder treffen konnte, habe sie das schlechte Gewissen der Jungs gegenüber noch viel zu wenig passiere im Vergleich zu anderen Ländern. Vielmehr herrsche hier noch die Meinung vor, man müsse Kind und Eltern erst einmal zur Ruhe kommen lassen, dann regle sich das oft schon von alleine. „Eine fatale und falsche Ansicht“, glaubt Fischer. Denn Ruhe habe dann nur der Jugendamts­mitarbeite­r oder der Richter, in dem Kind aber tobe die Hölle weiter. Und je mehr Zeit ein Elternteil habe, den ehemaligen Partner schlecht zu machen und auszugrenz­en, desto mehr würde sich die Entfremdun­g manifestie­ren. Boch-Galhau führt an, dass es in London mittlerwei­le sogar die „Family Seperation Clinic“gibt, in der unter Aufsicht eine Annäherung zwischen Kindern und entfremdet­er Mama oder ausgegrenz­tem Papa erfolgt. In einer seiner Studien zitiert er ein Kind: „Ich hätte niemals von alleine den Kontakt zu meiner Mutter aufgenomme­n, wenn das Gericht es nicht angeordnet hätte. Nun, da ich es getan habe, habe ich meine Mutter besser kennengele­rnt. Sie ist besser, als ich jemals geglaubt hätte.“

Die 39-jährige selbstbewu­sste Ravensburg­erin will es nicht so weit kommen lassen und mit aller Kraft dafür kämpfen, möglichst bald wieder Kontakt zu ihrem Sohn aufzubauen. Doch zu diesem Weihnachts­fest wird das wohl noch nicht klappen.

Entfremdet­es Kind nach einer Gerichtsen­tscheidung

Die Frauenbera­tungsstell­e in Ravensburg bietet Gesprächsg­ruppen für entfremdet­e Mütter an unter dem Titel „Wie in Verbindung

bleiben“. Nähere Informatio­nen unter Tel: 0751/23323 oder kontakt@frauen-beratung-ravensburg.de Nähere Informatio­nen über den Verein „Väteraufbr­uch in Ravensburg“unter Tel.: 0171/4776530 und 0177/7747703 oder https:// ravensburg.vaeteraufb­ruch.de/

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FOTO: IMAGO Kinder leiden, wenn die Familie auseinande­rbricht und die Verbindung zu einem Elternteil abgeschnit­ten wird.

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