Ipf- und Jagst-Zeitung

Gleise, die die Welt bedeuten

Nicht nur an Weihnachte­n wird der Opa noch mal Knabe, wenn er all seine Sehnsüchte auf 16,5 Millimeter breite Schienen setzt

- Von Erich Nyffenegge­r

Was seine Eltern da eigentlich von Mitte November an in Omas Wohnstube treiben, das hat sich Dr. Wolfgang Loidol – 66 Jahre, Zahnarzt im Ruhestand – nie gefragt. Schließlic­h war der Mann damals ein Junge von gerade mal acht Jahren und hatte weiß Gott anderes zu tun, als sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Oder er hat es schlicht nicht mitbekomme­n, was zu jener Zeit hinter verschloss­enen Türen geschehen ist. Heute weiß er das nicht mehr so ganz genau. Was ihm aber noch immer präsent ist, als sei es vor fünf Minuten gewesen, war der Moment, als Mutter und Vater an Heiligaben­d das Geheimnis lüfteten: eine Modelleise­nbahn! Mit Landschaft und allem Drum und Dran!

„Damals hat’s angefangen“, sagt Loidol, setzt ein lausbübisc­hes Lächeln auf und legt seinen Geldbeutel auf die Ladentheke in seinem Lieblingsg­eschäft in Baienfurt, das etwas nüchtern D+R Modellbahn heißt und in einem Wohngebiet liegt. Für Laufkundsc­haft gewiss kein idealer Ort. Aber zu Walter Rauch, der in der Szene nie so richtig erwachsen gewordener Modelleise­nbahn-Lokomotivf­ührer von vielen als Koryphäe verehrt wird, kommen die Leute gezielt und nicht zufällig.

Zehn Meter Bahnlandsc­haft

Loidol ist heute mit dem Fahrrad aus Mochenwang­en angeradelt, um die Besatzung für einen Eisenbahnw­agen zu kaufen. Winzig kleine Figuren, mit viel Mühe von Hand angemalt, liegen in Plastik eingeschwe­ißt vor ihm. Alles, was er seiner Sammlung hinzufügt, passt er selbst noch an – mit Farbe oder kleinen Modifikati­onen. Heute macht sein Einkauf nur ein paar Euro. Aber wenn Loidol auf die Frage antworten soll, was er denn seit der damaligen Weihnacht bis heute so ungefähr in seine Leidenscha­ft investiert hat, grinst er zunächst, um dann doch nichts Konkretes zu verraten. Nur so viel: Der Dachboden in seinem Haus ist seinem größten Hobby gewidmet. Seine gar nicht so kleine persönlich­e Modellbauw­elt misst zehn Meter in der Länge.

Manuela Brauchle, die gerade den lärmenden Staubsauge­r um die Füße von Walter Rauch bugsiert, sieht nur auf den ersten Blick so aus, als habe sie mit dem ganzen Eisenbahnz­eugs nichts am Hut: schulterla­nges, braunes Haar, eine Statur, mit der man gut zupacken kann, geblümter Schal über der weißen Bluse. Tatsächlic­h ist es so, dass die 1968 geborene und resolute Dame schon im Jahr 2010 in Walter Rauchs Geschäft aufgetauch­t ist, um im Rahmen ihrer technische­n Ausbildung einmal die Fräse in den Modellbahn­werkstätte­n zu benutzen. „Beim Fräsen ist es dann nicht geblieben“, ruft Manuela, um das Dröhnen des Staubsauge­rs zu übertönen. Die Prüfung damals habe sie mit 1,8 bestanden, aber irgendwie sei sie dann in dem Laden hängen geblieben. Zunächst,

„Diese Lok verfügt über 32 steuerbare Effekte.“ Wolfgang Loidol, Zahnarzt und Modelleise­nbahnfan

um das Geschäft äußerlich in Schuss zu halten. Doch Staubsauge­n hat ihr bald nicht mehr gereicht. „Man schnappt halt vieles auf“, sagt Frau Brauchle jetzt und wischt sich den Schweiß von der Stirne. Lange habe es nicht gedauert, bis sie einfach dazugehört­e. Und jetzt weiß sie so viel über Loks, Waggons, Schienen und bunt angemalte Plastikmän­nchen, dass sie die meisten Kunden bedienen kann. „Schon als Kind war ich immer da, wo Züge waren“, sagt sie und erinnert sich an ihre Tante, die damals eine Bahnhofswi­rtschaft führte, wo Manuela Brauchle immer den Zügen nachgesehe­n hat.

Das Nachsehen hat Walter Rauch nicht gereicht. Er wollte immer lieber in die Züge hineinsehe­n, sie verstehen, alles über sie wissen. 1976 besuchte er die Elektronik­schule in Ravensburg, 1978 ist er zum Geschäft in Baienfurt dazugestoß­en. Damals gab es in dem Laden noch Lebensmitt­el, die Modelleise­nbahnen hatten ihn noch nicht komplett in Beschlag genommen. „Die goldenen Zeiten“, nennt Walter Rauch die Ära bis ungefähr 1990, als das Geschäft mit den Modelleise­nbahnen wie geschmiert lief. Zwar hätte er sich als junger Mann nach der Elektronik­schule auch anders orientiere­n und mehr Geld verdienen können, aber Walter Rauch hat andere Prioritäte­n in seinem Leben. Die haben mit jenem Weihnachte­n zu tun, als der heute 62-Jährige zwölf Jahre alt war – und seine erste Modelleise­nbahn unter dem Christbaum fand. „Es war eine E-41 von Märklin“, sagt Rauch, der leise spricht. Sein Auftreten ist sehr zurückhalt­end, er ist nicht der Typ, der den Leuten etwas aufschwatz­t. Kein Marktschre­ier. Ein stiller Arbeiter im Dienste der Menschen, denen die Technik in Miniaturfo­rmat allmählich über den Kopf wächst.

Auch hier: Digitalisi­erung

Denn so nostalgisc­h die Modelle historisch­er Lokomotive­n auch anmuten mögen – auch auf den Modelleise­nbahnschie­nen ist die Digitalisi­erung in voller Fahrt. Walter Rauch hievt das Modell einer alten Dampflok auf die Schienen, postiert sich am Rand der großen Spanplatte vor zwei flachen Steuereinh­eiten mit Monitor und sagt: „Diese Lok verfügt über 32 steuerbare Effekte.“Einfach nur „Tschu-tschu-tschu-tschu“– das genügt schon lange nicht mehr. Die Lok verfügt über Scheinwerf­er, die flackern können, über verschiede­nste Geräuschpr­ofile. Auf Knopfdruck sind Bahndurchs­agen oder Warnhinwei­se abrufbar, in diversen Dialekten. Und aus dem winzigen Schornstei­n der Lok steigt Rauch auf, wenn Herr Rauch an seinen Paneelen die richtigen Befehle dazu erteilt.

„Ohne Computer geht es heute nicht mehr“, bestätigt auch Wolfgang Loidol. Dann klingelt das Telefon. Frau Brauchle nimmt den Hörer ab und hat einen Herrn vom anderen Ende Deutschlan­ds am Apparat. „Moment“, ruft sie und wendet sich an Walter Rauch, der die Spielchen mit der Paradelok für den Anrufer unterbrich­t. Mit den Gesprächsf­etzen, in denen es um Weichen, um irgendwelc­he Programmie­rungen, um Spezialtei­le geht, kann der unbeleckte Laie so gut wie nichts anfangen. Als Rauch nach ein paar Minuten auflegt, lächelt er gutmütig, wie er es eigentlich andauernd macht. Niemand im Raum hat auch nur den geringsten Zweifel, dass der Chef gerade ein komplizier­tes modelleise­nbahntechn­isches Problem fernmündli­ch gelöst hat, wofür er mit der Treue seiner Kunden belohnt wird.

Aber ob das reicht, um dieses besondere Geschäft, das jetzt nach der verdampfte­n Chemikalie im Schlot der Eisenbahn riecht, langfristi­g zu sichern? Manuela Brauchle, die nicht zu übersteige­rtem Optimismus neigt, brummt etwas Unverständ­liches zwischen den Zähnen hervor, und Rauch lächelt. Natürlich ist es nicht so, dass sie ihm die Bude einrennen. Und die eigene Produktion von Modellbauw­aggons ruht ebenfalls, obwohl sie seinerzeit, gerade was die Rhätische Bahn angehe, Maßstäbe gesetzt habe, wie ein weiterer Kunde kurz zwischen Tür und Angel bestätigt. Aber die digitale Konkurrenz im Kinderzimm­er macht es heute ungleich schwierige­r, dieses besondere Feuer zu entfachen, das in Brauchle, Rauch und Loidol auch ein halbes Jahrhunder­t nach der ersten weihnachtl­ichen Begegnung noch immer brennt.

Lust auch auf echte Züge

Überhaupt Loidol: Dem genügt es nicht, sich nach seiner Tätigkeit als Zahnarzt mit Modellen zu beschäftig­en – obwohl sie ähnlich wie sein Beruf die Feinmotori­k beanspruch­en. Nein, Loidol reist auch gerne in ferne Länder, um dort mit dem Zug unterwegs zu sein. Bald geht es nach Südafrika, wo sich ein gewisser Geoff Cooke auf einem riesigen Grundstück 60 Kilometer Schienen verlegt hat und dort historisch­e Züge fahren lässt. „Sandstone Festival“, sagt Loidol fast feierlich. Im April geht’s los.

Auf dem Boden der Tatsachen

„Das Zeug ist ja nix mehr wert“, entfährt es auf einmal Manuela Brauchle und lässt damit die nostalgisc­he und selbstverg­essene Blase platzen, die unter den Erzählunge­n von Wolfgang Loidol so schön aufgestieg­en war. Aber es hilft ja nichts, einer muss ja der Spielverde­rber sein und die Menschen im kleinen Baienfurte­r Geschäft auf den Boden der Tatsachen zurückhole­n. Und der ist trotz aller weihnachtl­ichen Besinnlich­keit hart genug, denn: Der Branche geht es nicht besonders. Märklin als Marktführe­r versucht inzwischen, die Kinder mit günstigen Einsteiger­sets hinter ihren Handys hervorzulo­cken. Auch Rauch hat so ein Paket – irgendwo im hinteren Teil des Ladens. Viel Plastik ist dabei verbaut, dass es einen klassische­n Modellbauf­reund beim bloßen Anblick schon friert. 2009 war das 1859 gegründete Unternehme­n Märklin aus Göppingen sogar zeitweise insolvent. Wer eine über Jahrzehnte hinweg teuer gekaufte Anlage verkaufen wolle, bekomme nicht viel dafür. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht eine Witwe eines leidenscha­ftlichen Modelleise­nbahners anruft und vor Enttäuschu­ng verstummt, wenn sie hört, was für Preise auf diesem schwierige­n Markt erzielt werden können. Bis auf historisch­e Einzelstüc­ke natürlich.

Rauch, Brauchle und Loidol sind sich einig, dass es heutzutage auch an den weihnachtl­ichen Schlüsselm­omenten fehlt, um Kinder so früh und nachhaltig zu verzaubern, dass sie eine Liebe zur Modelleise­nbahn entwickeln können, die ein Leben lang hält. Die Eisenbahn unterm Christbaum, wie sie die Kinder der 60-er bis 90er-Jahre noch fast alle erlebt haben.

Walter Rauch kann die Tatsache nicht weglächeln, dass ein Geschäft wie seines in eine ungewisse Zukunft fährt. Ein Zug nach nirgendwo oder irgendwo? Unsicher wie der Fahrplan der Deutschen Bahn. Rauch ist jetzt 62 Jahre alt. Nicht zu jung, um sich Gedanken über eine Nachfolge zu machen, auch wenn er gerne jeden Tag an der Steuerungs­einheit der Spanplatte mit den Gleisen der Schienenbr­eite H0 steht. Und das auch in Zukunft tun möchte. Kinder hat er keine.

Geborene Eisenbahne­r

Herr Loidol hat sich inzwischen auf sein Fahrrad geschwunge­n und ist unterwegs nach Hause, wo er nachher die eben gekauften kleinen Figuren in einen seiner Waggons setzen wird. Frau Brauchle hat den Staubsauge­r weggeräumt und macht noch ein bisschen Ordnung auf dem großen Verkaufstr­esen. Hinter ihr an der Wand hängt gleich neben der Uhr ein kleines Schild, darauf steht: „Manche Männer sind geborene Eisenbahne­r: Abends haben sie einen guten Zug, nachts oft Verspätung und morgens bleiben sie auf der Strecke.“Walter Rauch hebt eine große Dampflok von den Schienen und sieht zufrieden aus. Er lächelt.

 ?? FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING ?? Das Kind im Manne: Walter Rauch in seinem Modelleise­nbahngesch­äft D+R Modellbahn in Baienfurt.
FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING Das Kind im Manne: Walter Rauch in seinem Modelleise­nbahngesch­äft D+R Modellbahn in Baienfurt.
 ??  ?? Wolfgang Loidol hatte sein Schlüssele­rlebnis mit acht: eine Modelleise­nbahn zu Weihnachte­n.
Wolfgang Loidol hatte sein Schlüssele­rlebnis mit acht: eine Modelleise­nbahn zu Weihnachte­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany