Oh je, du struppiger Tannenbaum ...
Es begab sich aber zu der Zeit, in den frühen 80er-Jahren: Nachdem mein Vater im Jahr zuvor mit einem Plastiktannenbaum aus dem Quelle-Katalog den Ärger der gesamten Familie auf sich gezogen hatte, war heuer klar: Ein echter Baum muss her – oder Weihnachten fällt aus!
Ein bisschen beleidigt zog sich mein Vater in seinen Ohrensessel zurück, zündete sich eine seiner unzähligen Lord Extras an und blies missmutig Rauchkringel an die Wohnzimmerdecke. Er trauerte dem im Keller sicher verwahrten Kunststoffbaum nach. Meine Mutter warf ihm, wann immer sie vorbeikam, einen vorwurfsvollen Blick zu und erinnerte ihn ab dem 1. Dezember mehrmals täglich an seine Pflicht, einen Baum zu besorgen. „Einen Echten!“, vergaß sie dabei niemals zu betonen.
Es ist nie zu spät ...
Mein Vater verwies lediglich maulfaul darauf, dass noch reichlich Zeit sei bis Heiligabend und fuhr fort, eine Lord Extra nach der anderen in Rauch aufgehen zu lassen. Mit zunehmendem Advent stieg die allgemeine Nervosität. Gemeinsam mit meinem Bruder überlegte ich, ob es nicht klüger sei, dass wir Geschwister diesen Baum besorgten, verwarfen den Plan aber aus Geldmangel wieder und begannen stattdessen, in der Wohnung Hinweiszettel aufzuhängen mit der Aufschrift: „Es ist nie zu spät, einen Christbaum zu kaufen.“Oder: „Weihnachten ohne Baum ist wie ein Strand ohne Meer.“
Am 23. Dezember hatte meine Mutter meinem Vater auf dem Wohnzimmersofa eine Bettstatt errichtet, weil sie einem Ehemann, der die Besorgung eines Tannenbaums verweigerte, folgerichtig den Zugang zum elterlichen Schlafzimmer verweigerte. Mein Vater zog seinen Mantel an und sprach zu mir: „Komm!“Wir fuhren in seinem Peugeot 405 zu einem Bauernhof, der auch Christbäume anbot. 30 Mark wollte der Bauer für eine Nordmanntanne haben. Mein Vater stieg wortlos in den Peugeot, während der Bauer ihm nachrief: „Billiger wird’s nicht!“Als wir daheim ankamen, hatte meine Mutter bereits den Christbaumständer aus dem Keller geholt und mit strahlenden Augen die Tür geöffnet. Vater ging mit ernstem Blick an ihr vorbei, versank in seinem Ohrensessel und rauchte in den tristen Abend hinein. Dann brummte er: „Morgen werden die schon mit dem Preis runtergehen, sonst bleiben sie auf ihrem Gestrüpp sitzen.“An Heiligabend schließlich waren die Christbäume tatsächlich ausverkauft. Stundenlang fuhren wir durch die Gegend. Schließlich kamen wir zu einer Tankstelle mit Christbaumverkauf. Der Verkäufer war gerade dabei, seinen Kram einzupacken und hantierte an einem Baum, der kaum noch Nadeln hatte, dafür aber verbogene Äste. Mein Vater deutete mit dem Kinn auf das ruinierte Stück, während mir in Anbetracht dieses Tannen-Desasters die Tränen kamen. „Was soll der kosten?“Verwundert über die Frage, sagte der Verkäufer: „Zwei Mark.“Auf dem Gesicht meines Vaters wurde es da endlich Weihnachten. Er warf das Nadelgerippe in den Kofferraum und fuhr los.
Das stumme Entsetzen im Gesicht meiner Mutter rührte meinen Vater kaum. Es war inzwischen Nachmittag, und ich war sicher, dass das Christkind beim Anblick eines solchen Baumes auf dem Absatz kehrtmachen würde. Weihnachten war ruiniert. Nun doch die Plastiktanne aus dem Keller zu holen, kam für meine Mutter aber nicht infrage.
Baumruine mit Lametta
Ohne einen Ton von sich zu geben, stellte sie den Baum in den Ständer und begann ihn mit allem zu schmücken, was der Haushalt hergab. Sie hatte die hinfällige Tanne schließlich dermaßen mit Schmuck überhäuft, dass sie zwischen all dem Lametta, den Kugeln und Girlanden praktisch unsichtbar war. Zum Glück hatte sich das Christkind von der überladenen Baumruine nicht abschrecken lassen. Und es kamen sogar Leute zum Christbaumloben. Aber die hätten vermutlich auch einen abgesägten Besenstiel anerkannt, um an den Schnaps zu kommen. Im nächsten Jahr besorgte meine Mama den Baum. Und dann alle Jahre wieder. Was aus der Plastiktanne geworden ist, weiß ich nicht mehr. In unserer Familie hat nie, nie wieder jemand von ihr gesprochen. der Baum immer billiger hätte werden sollen, je mehr Leute bestellen. Deshalb haben wir uns auch ernsthaft keine Sorgen gemacht, als der Paketbote am Freitag vor Heiligabend, der im Jahr 2000 auf einen Sonntag fiel, noch immer auf sich warten ließ. Gehörte vielleicht zum Geschäftsmodell.
Am Samstag jedoch: wieder nichts. In letzter Minute sind wir zum Platz vorm Kaufmarkt gehetzt, wo der Mann mit den Weihnachtsbäumen gerade dabei war, die kümmerlichen Reste zusammenzupacken. Freilich sollte schon bald das Wunder geschehen: An Heiligabend waren sich alle einig, dass die auf den letzten Drücker ergatterte Tanne die schönste war, die wir je hatten.
Der Weihnachtsbaum aus dem Onlineshopping wurde dann am 27. Dezember geliefert, in einem Paket, das durchaus heutigen Standards entsprach. Mein Mann verweigerte die Annahme. Verständlich. Nur finde ich, er hätte ruhig mal fragen können, was der Baum nun eigentlich kostete.