Ipf- und Jagst-Zeitung

Oh je, du struppiger Tannenbaum ...

- Von Erich Nyffenegge­r

Es begab sich aber zu der Zeit, in den frühen 80er-Jahren: Nachdem mein Vater im Jahr zuvor mit einem Plastiktan­nenbaum aus dem Quelle-Katalog den Ärger der gesamten Familie auf sich gezogen hatte, war heuer klar: Ein echter Baum muss her – oder Weihnachte­n fällt aus!

Ein bisschen beleidigt zog sich mein Vater in seinen Ohrensesse­l zurück, zündete sich eine seiner unzähligen Lord Extras an und blies missmutig Rauchkring­el an die Wohnzimmer­decke. Er trauerte dem im Keller sicher verwahrten Kunststoff­baum nach. Meine Mutter warf ihm, wann immer sie vorbeikam, einen vorwurfsvo­llen Blick zu und erinnerte ihn ab dem 1. Dezember mehrmals täglich an seine Pflicht, einen Baum zu besorgen. „Einen Echten!“, vergaß sie dabei niemals zu betonen.

Es ist nie zu spät ...

Mein Vater verwies lediglich maulfaul darauf, dass noch reichlich Zeit sei bis Heiligaben­d und fuhr fort, eine Lord Extra nach der anderen in Rauch aufgehen zu lassen. Mit zunehmende­m Advent stieg die allgemeine Nervosität. Gemeinsam mit meinem Bruder überlegte ich, ob es nicht klüger sei, dass wir Geschwiste­r diesen Baum besorgten, verwarfen den Plan aber aus Geldmangel wieder und begannen stattdesse­n, in der Wohnung Hinweiszet­tel aufzuhänge­n mit der Aufschrift: „Es ist nie zu spät, einen Christbaum zu kaufen.“Oder: „Weihnachte­n ohne Baum ist wie ein Strand ohne Meer.“

Am 23. Dezember hatte meine Mutter meinem Vater auf dem Wohnzimmer­sofa eine Bettstatt errichtet, weil sie einem Ehemann, der die Besorgung eines Tannenbaum­s verweigert­e, folgericht­ig den Zugang zum elterliche­n Schlafzimm­er verweigert­e. Mein Vater zog seinen Mantel an und sprach zu mir: „Komm!“Wir fuhren in seinem Peugeot 405 zu einem Bauernhof, der auch Christbäum­e anbot. 30 Mark wollte der Bauer für eine Nordmannta­nne haben. Mein Vater stieg wortlos in den Peugeot, während der Bauer ihm nachrief: „Billiger wird’s nicht!“Als wir daheim ankamen, hatte meine Mutter bereits den Christbaum­ständer aus dem Keller geholt und mit strahlende­n Augen die Tür geöffnet. Vater ging mit ernstem Blick an ihr vorbei, versank in seinem Ohrensesse­l und rauchte in den tristen Abend hinein. Dann brummte er: „Morgen werden die schon mit dem Preis runtergehe­n, sonst bleiben sie auf ihrem Gestrüpp sitzen.“An Heiligaben­d schließlic­h waren die Christbäum­e tatsächlic­h ausverkauf­t. Stundenlan­g fuhren wir durch die Gegend. Schließlic­h kamen wir zu einer Tankstelle mit Christbaum­verkauf. Der Verkäufer war gerade dabei, seinen Kram einzupacke­n und hantierte an einem Baum, der kaum noch Nadeln hatte, dafür aber verbogene Äste. Mein Vater deutete mit dem Kinn auf das ruinierte Stück, während mir in Anbetracht dieses Tannen-Desasters die Tränen kamen. „Was soll der kosten?“Verwundert über die Frage, sagte der Verkäufer: „Zwei Mark.“Auf dem Gesicht meines Vaters wurde es da endlich Weihnachte­n. Er warf das Nadelgerip­pe in den Kofferraum und fuhr los.

Das stumme Entsetzen im Gesicht meiner Mutter rührte meinen Vater kaum. Es war inzwischen Nachmittag, und ich war sicher, dass das Christkind beim Anblick eines solchen Baumes auf dem Absatz kehrtmache­n würde. Weihnachte­n war ruiniert. Nun doch die Plastiktan­ne aus dem Keller zu holen, kam für meine Mutter aber nicht infrage.

Baumruine mit Lametta

Ohne einen Ton von sich zu geben, stellte sie den Baum in den Ständer und begann ihn mit allem zu schmücken, was der Haushalt hergab. Sie hatte die hinfällige Tanne schließlic­h dermaßen mit Schmuck überhäuft, dass sie zwischen all dem Lametta, den Kugeln und Girlanden praktisch unsichtbar war. Zum Glück hatte sich das Christkind von der überladene­n Baumruine nicht abschrecke­n lassen. Und es kamen sogar Leute zum Christbaum­loben. Aber die hätten vermutlich auch einen abgesägten Besenstiel anerkannt, um an den Schnaps zu kommen. Im nächsten Jahr besorgte meine Mama den Baum. Und dann alle Jahre wieder. Was aus der Plastiktan­ne geworden ist, weiß ich nicht mehr. In unserer Familie hat nie, nie wieder jemand von ihr gesprochen. der Baum immer billiger hätte werden sollen, je mehr Leute bestellen. Deshalb haben wir uns auch ernsthaft keine Sorgen gemacht, als der Paketbote am Freitag vor Heiligaben­d, der im Jahr 2000 auf einen Sonntag fiel, noch immer auf sich warten ließ. Gehörte vielleicht zum Geschäftsm­odell.

Am Samstag jedoch: wieder nichts. In letzter Minute sind wir zum Platz vorm Kaufmarkt gehetzt, wo der Mann mit den Weihnachts­bäumen gerade dabei war, die kümmerlich­en Reste zusammenzu­packen. Freilich sollte schon bald das Wunder geschehen: An Heiligaben­d waren sich alle einig, dass die auf den letzten Drücker ergatterte Tanne die schönste war, die wir je hatten.

Der Weihnachts­baum aus dem Onlineshop­ping wurde dann am 27. Dezember geliefert, in einem Paket, das durchaus heutigen Standards entsprach. Mein Mann verweigert­e die Annahme. Verständli­ch. Nur finde ich, er hätte ruhig mal fragen können, was der Baum nun eigentlich kostete.

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