Die Heimat – nah und unerreichbar
Alltag im Flüchtlingscamp Mam Rashan zwischen Hoffnung und Resignation – Die Sehnsucht nach dem Shingal tragen die Jesiden in ihren Herzen
Aziza Azo Murad lacht über die Frage, ob sie sich manchmal im Camp langweile. „Wenn Du insgesamt 14 Kinder zu versorgen hast, gibt es keine Langeweile. Da gibt es immer etwas zu tun“, sagt sie: Drei Mahlzeiten am Tag vorbereiten, den Container sauber halten, Wäsche waschen. Auch um den pflegebedürftigen Schwiegervater kümmern sich Aziza Azo Murad und ihre beiden Schwägerinnen. Jetzt gerade machen aber alle Pause, weil der verspätete Besuch aus Deutschland doch noch eingetroffen ist. Mehr als die Hälfte der 20-köpfigen Großfamilie Murad hat sich im Container von Aziza und ihrem Mann Rasho Sabri Murad versammelt – Rashos Brüder, deren Frauen und viele, viele Kinder. Sie erzählen von ihrem Alltag im Camp, von ihrer Vergangenheit im ShingalGebiet, von ihren Zukunftsträumen und der Angst, für immer und ewig fern der Heimat auf kleinstem Raum leben zu müssen.
Circa zwölf Quadratmeter misst der Container, der gleichzeitig Wohnzimmer, Esszimmer, Schlafzimmer – und nun Besuchsraum ist. Im Hintergrund brummt ein Generator, der den Strom für die Klimaanlage liefert. Selbst im Oktober kann es im schattenlosen Camp Mam Rashan richtig warm werden – erst recht, wenn sich so viele Menschen auf so engem Raum drängen. Doch im Vergleich zum Sommer ist das natürlich nichts. „Wenn es richtig heiß ist, könnten wir unser Brot an den Containerwänden backen, wenn wir keinen Strom haben“, sagt Aziza Azo Murad und lacht erneut. Die 38-Jährige strahlt eine – in Anbetracht ihrer Lebensumstände – verblüffende Herzlichkeit und Fröhlichkeit aus.
Vertrieben oder verschleppt
Dem Ehepaar Murad und ihren vier Kindern wurde wie all den anderen jesidischen Familien aus dem Shingal-Gebiet das genommen, was ihr früheres Leben leicht, abwechslungsreich und angenehm gemacht hat: ein Haus, ein Auto, Geld. Am 3. August 2014, als der sogenannte Islamische Staat ihre Heimat überfiel, nahm dieses Leben ein jähes Ende. Wer nicht sterben oder versklavt werden wollte, musste Hals über Kopf fliehen. Rashos Vater wurde von den Dschihadisten sogar als Geisel verschleppt und kam erst gegen Tausende Dollar Lösegeld frei. Von den Verletzungen, die ihm damals zugefügt wurden, hat er sich bis heute nicht erholt.
„Wir hatten es wirklich sehr schön im Shingal“, sagt Aziza Azo Murad. „Wir konnten jederzeit einen Ausflug machen, die Verwandten haben sich gegenseitig besucht, es ging uns dort sehr gut.“Aber darüber will sie eigentlich gar nicht sprechen. Denn sonst wird sie doch traurig, und ihre Augen bekommen einen feuchten Glanz. Jetzt muss die Familie froh darüber sein, dass Rasho ein mit Spenden finanziertes Ladengeschäft in Mam Rashan übernehmen konnte. Dort verkauft der ehemalige Polizist, der in seinem früheren Leben rund 1000 Euro im Monat verdient hat, nun Süßigkeiten und Kekse. So kann er wenigstens ein bisschen zum Lebensunterhalt seiner Familie beitragen. „Diese Projekte bedeuten uns sehr viel“, sagt Rasho Sabri Murad. „Vielen Dank für diese Unterstützung aus Deutschland.“Bevor er Ladeninhaber wurde, hat er als Wachmann für den Wasserbrunnen im Camp gearbeitet. „Alles ist besser als arbeitslos zu sein“, sagt der Mittvierziger. Das sei die schwierigste Zeit für ihn nach der Flucht gewesen.
Umgerechnet knapp 15 Euro bekommt jeder Camp-Bewohner im Monat vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Dieses Geld reicht, wenn es denn rechtzeitig überwiesen wird, fürs Nötigste. Doch sobald die Familien neue Kleidung, Schulhefte für die Kinder oder Medizin brauchen, wird es knapp. „Wir haben in den Camps einfach zu wenig Möglichkeiten, uns selbst zu finanzieren“, sagt Rasho Sabri Murad. Und außerhalb der Camps? Da sieht es für die Jesiden, von denen viele in der Heimat als Landwirte oder Gärtner gearbeitet haben, nicht viel besser aus. Die Arbeitslosigkeit ist ein großes Problem im gesamten Irak und auch in der Autonomieregion Kurdistan. „Selbst wer studiert hat, findet oft nur einen Job in einer Teestube“, sagt Rasho Sabri Murad. „Wir können, wenn wir Glück haben, als Erntehelfer arbeiten. Andere Tätigkeiten gibt es nicht.“
Im Container ist die Temperatur jetzt deutlich gestiegen – der Generator hat sich wohl in die Siesta verabschiedet. Immerhin: Im Gegenzug ist auch der Geräuschpegel in dem kleinen Raum gesunken. Einige Nachbarn, die zuvor dabeisaßen, haben die Runde wieder verlassen, so viel Neues war für sie wohl nicht dabei. Wie sollte es auch anders sein? Jeder kennt hier jeden. Alle erleben dasselbe. Keiner der Bewohner verlässt das Camp einfach mal so, um essen oder einkaufen zu gehen oder um auf dem Basar den neuesten Tratsch auszutauschen.
Ihr Dorf ist jetzt eine Ansammlung Tausender Container auf einem Hügel in der Nähe der kurdischen Stadt Shekhan. Kein Baum, wenig Grün, aber immerhin ein Dach über dem Kopf. In diesem Camp sind die Jesiden, die schon im Shingal-Gebiet sehr für sich gelebt haben, abgeschnitten von der Alltagswelt der Umgebung. „Nur wenn jemand ernsthaft krank ist, verlassen wir Mam Rashan, um in eine Klinik zu fahren“, sagt Aziza Azo Murad. Sie, ihre Familie, ihre Nachbarn bilden eine Schicksalsgemeinschaft, die aber ihr Schicksal auch nach dem offiziellen Sieg über die Terrormiliz IS nicht selbst in die Hand nehmen kann. Denn sie können weder zurück in ihre Heimat noch an einen anderen Ort, wo sie sich ein selbstständiges Leben aufbauen könnten.
Australien, Deutschland, die USA – von diesen Ländern träumen Aziza Azo und ihr Mann Rasho Sabri Murad, wenn sie sich eine bessere Zukunft ausmalen. „Am besten wäre es, wenn ihr uns einen Pass schenkt. Dann gehen wir einfach weg“, sagt die 38-Jährige mit einem Lachen, das nicht darüber hinwegtäuschen kann, wie groß ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben ist. Eine australische Organisation hat der Familie im Rahmen eines speziellen Kontingents sogar das Angebot gemacht, sie alle aufzunehmen, weil Rashos Vater vom IS verschleppt worden war. „Wenn das klappt, gehen wir“, sagt er. Vom Herzen her würde die Großfamilie Murad allerdings am liebsten in das Shingal-Gebiet, das nur wenige Autostunden von ihrem jetzigen Leben entfernt liegt, zurückkehren. Doch die Hoffnung darauf schwindet mit jedem Tag in dem Camp. „Eher fliegen wir zum Mond“, meint Rasho Sabri Murad. „Sollen wir zu den Leuten zurückgehen, die uns am 3. August 2014 überfallen und gequält haben – und die uns vernichten wollten?“, fragt er dann.
Ungewisse Zukunft
Natürlich kennen er und seine Nachbarn im Camp die Berichte über die gezielte Ansiedlung sunnitischer Muslime durch die irakische Zentralregierung in ihren Heimatdörfern. Und ihnen ist bewusst, dass die Häuser im Shingal weitgehend zerstört sind, vom Wiederaufbau wenig zu sehen ist, Brunnen und Bewässerungsanlagen vom IS vergiftet wurden und viele Gebäude nach wie vor vermint sind. Natürlich wissen sie auch, dass für die Sicherheit im Shingal nun schiitische Milizen zuständig sind, zu denen sie kein Vertrauen haben. Die Angst der Jesiden, erneut zur Zielscheibe in einer konfliktbeladenen Region zu werden, ist deshalb größer als ihre Sehnsucht nach der Heimat.
Doch wie kann es für sie weitergehen? Was wird aus ihren Kindern, wenn sie größer sind und nicht mehr im Camp zu Schule gehen können? Werden sich die Familien damit abfinden müssen, ihr Leben lang Flüchtlinge zu sein, abhängig von der Unterstützung anderer und von Spenden? Diese Fragen hängen schwer in dem circa zwölf Quadratmeter kleinen Raum – und wollen keine Antwort finden. Doch Aziza Azo Murad hält sich am Guten fest, das sie in den vergangenen Jahren auch erlebt hat: „Unser Leben seit der Flucht ist ja schon viel besser geworden. Es gibt hier eine Schule, das Begegnungszentrum, den Spielplatz, den Fußballplatz und die Läden. Am Anfang lebten wir in Zelten und waren nass, sobald es geregnet hat. Wir sind euch sehr dankbar, dass ihr uns geholfen habt.“