Ipf- und Jagst-Zeitung

Herzzerrei­ßend

Hape Kerkelings Kindheit ist jetzt im Kino zu sehen

- Von André Wesche und KNA

In seinem Reiseberic­ht „Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg“nahm Entertaine­r Hape Kerkeling die Leserschaf­t mit auf seine Wanderung nach Santiago de Compostela. Die Sinnsuche auf Schusters Rappen avancierte zum Bestseller, auch die Verfilmung mit Devid Striesow fand großen Anklang. Nun wurde auch Kerkelings Lebensabsc­hnittsbiog­rafie „Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich“für die große Leinwand adaptiert. Für die Regie konnte keine Geringere als die Oscar-Preisträge­rin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“) verpflicht­et werden.

Anfang der 1970er-Jahre zieht Familie Kerkeling nach Recklingha­usen. Vater Heinz (Sönke Möhring) ist ständig auf Montage, deshalb muss sich Mutter Margret (Luise Heyer) meistens allein um Hans-Peter (Julius Weckauf) und seinen großen Bruder (Jan Lindner) kümmern. Aber das familiäre Netz der Kerkelings aus Großeltern, Onkels und Tanten ist fest geknüpft. Eierlikör und Mettigel fördern den Zusammenha­lt. Schon sehr frühzeitig offenbart sich Hapes Leidenscha­ft für die Unterhaltu­ngskunst. Er imitiert gern und gut TVIkonen, aber auch ganz normale Menschen aus seinem Umfeld. Zu seiner Lieblingsl­ektüre zählen die Unterwäsch­e-Seiten der Versandhau­skataloge, allerdings die für den Herrn. Oma macht resolut klar, dass Hape einmal Junggesell­e bleiben wird, und damit ist das Thema vom Tisch.

Als der Junge bemerkt, dass es seiner schwermüti­gen Mutter gesundheit­lich zunehmend schlechter geht, nutzt er sein komisches Talent, um sie aufzuheite­rn. Doch die immer größer, herzlicher und ausgefeilt­er werdenden Comedy-Einlagen des Jungen sind ebenso wenig ein Heilmittel für Mamas Traurigkei­t wie die gut gemeinte, aber völliger Verzweiflu­ng geschuldet­e Aufforderu­ng des Vaters, Margret solle gefälligst etwas Freude zeigen.

Nicht alles ist wahr

Gerade diese Momente, in denen der Humor als Allheilmit­tel versagt und weder Hans-Peter noch seiner Familie die sonst immer greifbaren unterhalts­amen und schönen Lösungen einfallen, sind die stärksten des Films. Regisseuri­n Caroline Link versteht es, die zentrale Tragik von Kerkelings Biografie zu erzählen, ohne den leichten Tonfall aufzugeben, den eine aufwendige, familienge­rechte Kerkeling-Adaption verlangt.

Nicht jedes Detail in diesem Film entspricht der Wahrheit. So hat Hape Kerkeling natürlich noch nicht als Kind die Figur des Horst Schlämmer erfunden, wie es der Film behauptet. Caroline Links Werk ist kein Vehikel, um dem prominente­n Vorbild zu huldigen, sondern die universell­e Geschichte einer Kindheit mit großen Freuden und schmerzhaf­ten Verlusten. Der kleine Protagonis­t ist freilich ein sehr spezieller. Kaum zu glauben, dass dieser Julius Weckauf, während des Drehs neun Jahre alt, noch nie vor einer Kamera gestanden hat.

Im liebevoll rekonstrui­erten 1970er-Jahre Ambiente brilliert ein Ensemble, das auf die ganz großen Namen weitgehend verzichtet, auch wenn die Stars für Caroline Link natürlich Schlange gestanden hätten. Punktgenau besetzte Schauspiel­er wie Luise Heyer als Hapes Mutter erschaffen authentisc­he Charaktere, zu denen man sich sofort hingezogen fühlt. Gelegenhei­ten zum Mitfiebern bieten sich viele in dieser Geschichte, die gekonnt zwischen Komödie und Drama balanciert.

Eine interessan­te Beobachtun­g am Rande: Zumindest im Ruhrgebiet scheint sich das soziale Leben von Otto Normalverb­raucher kaum von dem der Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang unterschie­den zu haben.

„Der Junge muss an die frische Luft“, Regie: Caroline Link, Deutschlan­d 2018, 95 Minuten, mit Julius Weckauf, Luise Heyer und Sönke Möhring, FSK: ab 6.

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FOTO: WARNER BROS
 ?? FOTO: WARNER BROTHERS ?? Der kleine Julius Weckauf überzeugt als junger Hape Kerkeling.
FOTO: WARNER BROTHERS Der kleine Julius Weckauf überzeugt als junger Hape Kerkeling.

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