Ipf- und Jagst-Zeitung

Von der Bundeswehr in den Bundestag

Getaktete Tage hat CDU-Bundestags­abgeordnet­er Roderich Kiesewette­r auch als Politiker

- Von Eva-Marie Mihai

- Der Bundestags­abgeordnet­e Roderich Kiesewette­r steht um die Mittagszei­t vor einem geschmückt­en Weihnachts­baum im Paul-LöbeHaus und blickt nach rechts und links. „Jetzt schaut grad niemand.“Ohne eine Miene zu verziehen, holt der 55-Jährige tief Luft und singt inbrünstig einen lauten Ton. „Die Akustik in dem Gebäude ist gut.“Ob sich jemand nach ihm umdreht, bekommt er gar nicht mit, er eilt weiter zu seinem nächsten Termin. Fokussiert und schnellen Schrittes. Aber wenn abends die Gänge etwas verlassene­r daliegen, nutze er die Akustik gerne voll aus, erzählt er währenddes­sen. Und demonstrie­rt das mit einem Pfeifen in den mittäglich nicht wirklich verlassene­n Gängen unverhohle­n und in voller Lautstärke.

Er ist auf dem Weg in ein Besprechun­gszimmer, ein Interview zu Russland steht an. In drei Tagen wird er selbst auf dem Weg nach Moskau sein – seine letzte Auslandsre­ise für die Regierung in diesem Jahr. Nachdem der Kreml der Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer verwehrt hatte, überlegte er erst, seine Reise abzusagen – um nicht instrument­alisiert zu werden. Dann allerdings habe er sich entschloss­en, doch zu fahren, das Gespräch mit den Russen sei wichtig, sagt Kiesewette­r, der Obmann im Auswärtige­n Ausschuss ist. Sein Mitarbeite­r Julian Ostendorf betritt den Raum, er hat Unterlagen zu der aktuellen Situation dabei. Zehn Minuten dauert es in etwa, bis Kiesewette­r sich die neuesten Entwicklun­gen durchgeles­en hat und Ostendorf ihm dazu einige Fragen beantworte­t hat.

App zeigt aktuelle Verschiebu­ngen im Plenum an

Als die Redakteuri­n durch die Tür kommt, ist er vorbereite­t. Der Abgeordnet­e steht auf, nimmt ihr den Mantel ab und beginnt die Unterhaltu­ng, eine halbe Stunde dauert das Gespräch. Dann verabschie­det sich Kiesewette­r wieder in Richtung Plenum. Dort steht eine namentlich­e Abstimmung an. Was er auf der Bundestags­app auf seinem Smartphone sieht. Die zeigt die aktuellen zeitlichen Verzögerun­gen an. An einem Tag wie heute, an dem sich die Termine aneinander reihen, eine sehr praktische Einrichtun­g. Gibt es etwas Luft, schiebt er ein Telefonat oder Gespräch dazwischen. Jetzt hat er es aber eilig.

Von dem Besprechun­gszimmer im sechsten Stock, auf dem auch sein Büro liegt, geht es über die Straße in das alte Reichstags­gebäude. Und zwar über die Treppe. „Wenn der Aufzug nur einmal anhält, ist man zu Fuß über die Treppe schneller.“Kein Wunder bei seinem Tempo. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, eilt im Stechschri­tt von Gebäude zu Gebäude, grüßt unterwegs Kollegen oder nutzt die Zeit zum Telefonier­en. Oft mit seinen Mitarbeite­rn, die ihm die anstehende­n Termine durchgeben, Namen und Fakten nennen. Seine Reden hält er auch in Berlin mittlerwei­le frei. „Die ersten 20 hab ich selber geschriebe­n“, mittlerwei­le sei er irgendwo bei 114 bis 115. In fünf Minuten Redezeit bekommt er drei Botschafte­n unter.

Handschrif­tliche Notizen in schwarzem Büchlein

Die Tage des ehemaligen Bundeswehr-Obersts beginnen früh. Schon vor sieben Uhr hat er heute den ersten Treppenlau­f zu seinem Büro hingelegt. An diesem Donnerstag ist sein erster Termin ein Nahost-Friedensfo­rum. In einem Besprechun­gsraum ist ein Tisch gedeckt, Kiesewette­r hat sich schon einen Platz gesichert. Ein weißhaarig­er Mann kommt auf ihn zu: „Hallo, wir haben uns in Israel getroffen“, sagt er auf Englisch. Es ist der israelisch­e Botschafte­r Ron Prosor. Die beiden Männer unterhalte­n sich, Kiesewette­r entschuldi­gt sich im Voraus, dass er das Treffen schon nach einer halben Stunde wieder verlassen muss, er hat einen Fototermin. Prosor zeigt sich ohnehin beeindruck­t, wie disziplini­ert seine Kollegen sind. „Ich finde es sehr beeindruck­end, dass Sie alle so früh im Bundestag sind. In der Knesset wäre um diese Uhrzeit noch niemand da.“Die Politiker setzen sich an den ovalen Tisch. Der israelisch­e Botschafte­r erklärt, warum Deutschlan­d den militärisc­hen und politische­n Arm der Hisbollah-Organisati­on nicht trennen sollte. Kiesewette­r macht sich Notizen in einem kleinen schwarzen Buch, in das er den ganzen Tag über immer wieder schreibt. Da blinkt sein Handy auf, eine Erinnerung zum Fototermin. Er packt sein Handy und das Notizbuch in seine braune Aktentasch­e aus Leder, nickt in die Runde und verlässt den Raum.

Treppauf, treppab geht es in eine der Bibliothek­en – dort schießt er mit seinen Parteikoll­egen ein Abschiedsf­oto für Volker Kauder. Dann steht wieder ein Interviewt­ermin auf dem Tagesplan. Kiesewette­r setzt sich an den Tisch, zückt eine rote Mappe aus seiner Ledertasch­e, auf der groß „Donnerstag“steht. Dieses Mal ist es ein Videointer­view für einen russischsp­rachigen Sender. „Wir müssen da mehr auf der Gefühlsebe­ne argumentie­ren“, sind sich Kiesewette­r und sein Mitarbeite­r Ostendorf einig. Ein Fernsehtea­m betritt den Raum und beginnt aufzubauen. Mit dabei haben die Filmer ein Glas Sekt, Kiesewette­r soll einen Neujahrsgr­uß an die russischsp­rachige Bevölkerun­g schicken.

Neujahrsgr­uß auf Russisch

Er lässt sich nicht zwei mal bitten. Vorher lässt er sich aber schnell noch einen russischen Neujahrsgr­uß beibringen und kann den Zuschauern so ein „Snowam Godam“schicken, bevor er ihnen wirtschaft­liches Wohlergehe­n und Frieden wünscht. Den Vorschlag eines Kameramann­s, noch ein „dass Putin stirbt“anzuhängen, lässt er weg. Er komme aus der Ukraine, erklärt der Filmer.

Wenn er eine Sitzungswo­che in Berlin hat, reist Kiesewette­r in der Regel mit dem Zug an, das ist verlässlic­h, bequem und verantwort­licher als fliegen, sagt er. Unterwegs liest er sich in Themen ein, überfliegt die Zeitungen oder liest Bücher. „Yuval Noah Harai les ich gern.“Zum Beispiel „21 Lektionen für das 21. Jahrhunder­t“oder Lektüre von Wolfgang Ischinger über Sicherheit­spolitik. Dauere die Fahrt aber länger als die schnellste Anbindung, mit der er knapp fünf Stunden unterwegs ist, lohne sich das Zugfahren nicht mehr. „Man muss da auch effektiv denken.“

In Berlin hat er eine kleine Wohnung in einem Plattenbau, von der er etwa 30 Minuten zu Fuß zum Bundestag braucht. Während er im Winter oft den Fahrdienst nutzt, der den Abgeordnet­en mit maximal 10 Minuten-Wartezeit-Garantie zur Verfügung steht, sei er im Sommer oft zu Fuß unterwegs. Vor seiner Zeit als Politiker lief Kiesewette­r Marathons und gerne mal 100 Kilometer am Stück. „Mittlerwei­le komme ich nicht mehr zu einem sinnvollen Training.“Ab und an gehe er noch laufen. „Ich brauch´ die Bewegung.“Im Wahlkreis lege er so viele Strecken wie möglich zu Fuß zurück. Und abends schwimmt er eine Runde. Ist Kiesewette­r im Wahlkreis unterwegs, dann beginnt sein Tag nicht

„Wenn der Aufzug nur einmal anhält, ist man zu Fuß über die Treppe schneller.“ „Man muss da auch effektiv denken.“

ganz so früh. Wenn er nicht gerade einen Termin bei einem Landrat oder einem Bürgermeis­ter habe, könne er Firmen selten vor 9 Uhr besuchen. Prinzipiel­l ist er aber lieber auf der Ostalb und in Heidenheim unterwegs.

Infrastruk­tur und Anbieterwe­chsel der Brenzbahn

Aus dem Wahlkreis kommt auch ein Termin, den er mitten am Tag dazwischen­schiebt. Kiesewette­r trifft sich mit Marlene Koller aus Sontheim. Die Jugendlich­e nimmt an einem Jugendwork­shop teil. Der Politiker lädt sie auf ein Getränk ein, fragt wie es ihr gefällt und unterhält sich mit ihr über die Arbeit im Bundestag. Was er seinem Wahlkreis wünscht? „Dass die Digitalisi­erung menschlich gestaltet wird. Dass wir an der Spitze bleiben und dass die Leute trotz dieser Herausford­erungen noch ein Herz für das Ehrenamt haben.“Gerade in diesem letzten Punkt spüre er in letzter Zeit einiges an Verunsiche­rung.

Fünf Jahre Wochenende­he bei der Bundeswehr

Bevor er Politiker wurde, war Kiesewette­r bei der Bundeswehr. Bis 2009 lebte er ein Leben aus dem Koffer, der Umzugskist­e und in einer fünfjährig­en Wochenende­he. Dann sei er gefragt worden, ob er sich vorstellen könne, kommunalpo­litisch aktiv zu werden. Er konnte. „Ich hätte mir aber nie vorstellen können, an einem anderen Ort als meiner Heimat zu arbeiten.“Heute wäre er ein Zwei- bis Drei-Sterne-General, mutmaßt er. „Die Entscheidu­ng war schwer, etwas völlig Neues anzufangen.“Jetzt verbringt er etwa 20 Wochen im Jahr in Berlin.

Nach einem letzten Besuch im Plenum eilt er mit dem Hörer am Ohr Richtung Ausgang. Dort wartet eines der schwarzen Autos, das den Politikern zur Verfügung steht. „Hotel Titanic“, gibt er dem Fahrer als Zielort an. Dort trifft er Bernhard Palm, den Geschäftsf­ührer von Netcom BW aus Ellwangen. Die Männer setzen sich in die Loungesess­el des Hotelfoyer­s, bestellen beide ein Wasser. Sie sprechen über den Stand der Digitalisi­erung auf der Ostalb, woran es hapert, dass die Bundesmitt­el vom Land so wenig genutzt werden. „Die Angebote sind undurchsic­htig, das Land braucht Hilfestell­ung“, sagt Palm. Kiesewette­r legt die Hände aneinander und führt sie an seinen Mund. Er hört zu, fragt nach und macht sich wieder Notizen.

Er bekomme unterschie­dlichste Anfragen aus der Bevölkerun­g, sagt Kiesewette­r. Wirtschaft­liche, aber auch ganz private. „Oft kann ich nicht helfen, aber ich kann an die richtigen Stellen weiterverw­eisen.“Denn eines betont er immer wieder: Sein A und O ist der Wahlkreis. „Ich könnte nie Außenpolit­ik machen, wenn ich keine feste Verankerun­g im Wahlkreis hätte.“Man könne in Berlin noch so brillieren. „Wenn man nicht die Hand am Puls der Bevölkerun­g hat, bringt das nichts.“

„Ich hätte mir nie vorstellen können, an einem anderen Ort als meiner Heimat zu arbeiten.“

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FOTOS: EVA-MARIE MIHAI Kiesewette­r bespricht mit seinem Mitarbeite­r Julian Ostendorf das anstehende Interview.
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Regelmäßig dreht Kiesewette­r Clips, in denen er über seine aktuelle Arbeit berichtet.
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Links im Gespräch mit den Parteikoll­egen vor einem Fototermin, rechts in einem der Cafés im Bundestag mit Marlene Koller, einer Besucherin aus Sontheim.
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