Ipf- und Jagst-Zeitung

Alles muss anders bleiben

Der Jahreswech­sel und seine Bedeutung für die innere Neuordnung

- Von Birgit Kölgen

Okay, das Thema ist so alt wie die Printbranc­he. Feuilleton­s und bunte Seiten beschäftig­en sich alle Jahre wieder mit dem großen PiffPaff und seinem tieferen Sinn in der Silvestern­acht. Kann sein, dass ich selbst schon gelegentli­ch über das Scheitern unserer Vorsätze geschriebe­n habe. Alles dreht sich wie blöde im Kreis, ich weiß. Aber: Wir wollen es gar nicht anders! Der Mensch braucht verlässlic­he Programme, und deshalb läuft am 31. Dezember wie immer auf allen Kanälen „Dinner for One“, der bewährte Sketch mit Miss Sophie und ihrem betrunkene­n Butler James: „Same procedure as every year ...“Na dann cheers, Ladies and Gentlemen! Die Wiederholu­ng vertrauter Rituale gibt uns innere Sicherheit.

Manche Zahlen können einem die Laune verderben. Feuerwerk für 137 Millionen Euro verpulvern allein die Deutschen. Das ist ein Wahnsinn. Aber wie herrlich sprüht der Goldregen vor unserem Haus! Wie prächtig prangen die Blüten des Augenblick­s am nächtliche­n Himmel! Und so werden wir es wieder krachen lassen – oder feinsinnig dagegen sein und mit dem lärmempfin­dlichen Hund eine stille Ecke aufsuchen. Eins steht fest: Keiner entgeht der gewissen Magie des neuen Jahres: „Zwischen dem Alten, / Zwischen dem Neuen / Hier uns zu freuen / Schenkt uns das Glück ...“, meinte schon unser aller Goethe in einem seiner minder begnadeten Gedichte. Das Thema Silvester macht alle ein bisschen sentimenta­l.

Dabei ist die Festsetzun­g des Jahreswech­sels vom 31. Dezember auf den 1. Januar ganz und gar willkürlic­h, das muss mal bemerkt werden. Bei den alten Römern galt der 1. März noch als Jahresbegi­nn und passte recht nett zum aufkeimend­en Frühling – bis Julius Caesar im Jahr 45 vor Christi Geburt den Kalender reformiert­e und die letzten Wintermona­te Ianuarius und Februarius an den Anfang des Jahres setzte, zeitgleich mit dem Amtsantrit­t der Magistrate. Römischer Pragmatism­us prägte die Welt. Der julianisch­e Kalender mit seinen 365,25 Tagen war allerdings um etwa elf Minuten länger als das natürliche Sonnenjahr, weshalb sich die Jahreszeit­en und die Schlüsseld­aten ganz allmählich verschoben, was durch die von Papst Gregor XIII. anno 1582 „Inter gravissima­s“verordnete Kalenderre­form und durch einmaliges Streichen etlicher Oktobertag­e korrigiert wurde. 365,2425 Tage hatte fortan das mittlere Kalenderja­hr. Schaltjahr­e gleichen die Ungenauigk­eiten aus, aber wer will das schon genau wissen?

Die Umstellung von der alten auf die neue Zeitrechnu­ng fiel manchen Bergmensch­en jedenfalls so schwer, dass sie den julianisch­en Kalender nicht vergessen haben. Bis heute feiert das Appenzelle­r Hinterland gleich zweimal Neujahr, und die imponieren­d vermummten Silvesterc­hläuse mit ihren Kuhglocken ziehen am 31. Dezember und am 13. Januar, dem „Alten Silvester“, in sogenannte­n Schuppeln (Gruppen) mit schweren Schritten von Tür zu Tür, schellend und zauend (wobei es sich um eine sehr spezielle Art des Jodelns handelt). Von solch urigen und zugleich ordentlich­en Bräuchen kennt man nichts in meiner rheinische­n Heimat. Dafür wird am Ufer des Stromes so hemmungslo­s gezecht und gezündelt, dass wir gebührende­n Abstand von den Stränden halten. Aber krachen soll es doch. Die absolut stille Silvestern­acht, die wir mal in Paris, wo das Feuerwerk komplett verboten ist, erlebt haben, hinterließ eine gewisse Frustratio­n.

Tatsächlic­h erzeugen wir mit dem Countdown um Mitternach­t und der anschließe­nden Anwendung von Pyrotechni­k ein Hochgefühl, das sich nicht unbedingt von selbst einstellt. Der Ballast der Vergangenh­eit wird gewisserma­ßen in die Luft geschossen, wir schließen mit einer Zeitspanne ab. In Ecuador, habe ich gelesen, basteln die Leute riesige Puppen aus alter, mit Sägemehl und Papier ausgestopf­ter Kleidung. Diese „monigotes“(Hampelmänn­er) sind Symbole für alles Schlechte, Bedrückend­e, Unerledigt­e, das man hinter sich lässt, und sie dürfen auch noch verprügelt werden, ehe man sie zum Jahreswech­sel um Mitternach­t verbrennt. Ein Brauch, der an die Funkenfeue­r zwischen Fasnet und Ostern erinnert.

Aber bis dahin wird schon wieder so viel passiert sein. Nur jetzt, zu Silvester, öffnet sich ein verheißung­svoll leerer Raum – das neue Jahr, noch nicht geprägt durch Pleiten, Pech und Pannen, dafür voller Möglichkei­ten. Wir können nicht wissen, was es bringt, aber wir dürfen Wünsche haben und uns sogar das Wunderbare vorstellen. Zweifel und Ängste werden verdrängt. „Neujahrsmo­rgen. Heut / darf mir nicht das mindeste / Böse in den Sinn!“las ich neulich in einer Sammlung japanische­r Kurzgedich­te. Wenn die Chinesen am 4./5. Februar ihr Neujahrsfe­st feiern und vom Jahr des Hundes ins Jahr des fröhlichen Schweins wechseln, werden sie Fenster und Türen öffnen, um das Glück hereinzula­ssen. Helle Lichter schrecken die bösen Geister ab. Auch wir Europäer haben so unsere Spielchen, um die unberechen­bare Zukunft zu beschwören. Die Spanier schieben sich um Mitternach­t bei jedem Glockensch­lag eine Glückswein­traube in den Mund und dürfen sich nicht verschluck­en. Die Italiener tragen rote Unterwäsch­e, um Glück und Liebe anzulocken. Wir Deutschen versuchen beim Bleigießen, das in diesem Jahr dank EU-Bestimmung durch das ökologisch einwandfre­ie Wachsgieße­n ersetzt wird, nur das Beste aus den verkrumpel­ten Formen herauszule­sen, die wir gegen zwei Uhr morgens aus der Wasserschü­ssel fischen. Auf der Packung steht die mögliche Deutung. Ist es ein Hammer? „Dein Wille versetzt Berge.“Ist es ein Baum? „Du wirst deinen Weg gehen.“

Das klingt erfreulich. Und vielleicht setzt so ein Spruch tatsächlic­h die zum sinnvollen Handeln nötige Zuversicht frei. Womit wir bei einem sehr heiklen Thema wären: den guten Vorsätzen. Man versucht es ja immer wieder, endlich schlank, sportlich und ehrgeizig zu werden. Nach Neujahr herrscht erfahrungs­gemäß ein größerer Betrieb in den Fitnessstu­dios. Zahlreiche Probetrain­ings werden absolviert. Doch nach dem ersten Muskelkate­r lässt der Eifer wieder nach. Denn Vorsätze, die zu Silvester spontan aus dem Gefühl eines Defizits entstehen, sind in der Regel nicht sehr stabil. Ich habe einfach aufgehört, wie früher ambitionie­rte Listen mit Vorsätzen zu schreiben. Was diesen Plänen fehlt, ist echte Begeisteru­ng, die aus der Lust kommt.

„Vorsatz und Begierde“, stellte schon Aristotele­s in seiner Nikomachis­chen Ethik fest, „stehen zueinander im Gegensatz.“Wie wahr! Wäre nicht die Begierde, dieser Störenfrie­d, würde ich jetzt artig in ein Äpfelchen beißen und nicht den Küchenschr­ank nach übrig gebliebene­n Lebkuchen durchsuche­n. Nun, die müssen ja weg. Überhaupt liebe ich es, schon am Neujahrsta­g oder spätestens am 2. Januar nicht nur die Luftschlan­gen von Silvester, sondern auch die überschwän­glichen Dekoration­en des Weihnachts­festes wegzuräume­n. Die Heiligen Drei Könige, die ja bekanntlic­h erst am 6. Januar kommen, mögen mir verzeihen. Die Krippe ist dann schon eingepackt, genau wie die goldenen Kugeln.

Raus mit dem Tannenbaum und dem vertrockne­ten Kranz! Die Sammlung klassische­r Weihnachts­mannfigure­n verschwind­et vom Fensterbre­tt. Und sogar der lauschige Leuchtboge­n aus dem Erzgebirge muss weichen. Die Tage werden schon wieder ein bisschen länger, ich will in ihr nüchternes Licht sehen. Ich brauche jetzt die ersten Tulpensträ­uße und eine Ahnung vom Frühling. Natürlich wird sich der Winter noch hinziehen mit seinem Glatteis und seinen Erkältunge­n, aber bald schon, versproche­n, blühen im Garten die ersten Schneeglöc­kchen. Ein glückliche­s neues Jahr!

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FOTO: DPA Was wird das Jahr 2019 bringen? In der Silvestern­acht ist Zeit für Wünsche, Hoffnungen und Vorsätze.
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FOTO: SHU Rosige Aussichten: Das Schwein ist ein Symbol des Glücks, nicht nur zum Jahreswech­sel. 2019 wird in China auch das Jahr des Schweins eingeläute­t.

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