Heilpädagogisches Reiten in Ellwangen
In einem Stall in Rotenbach bietet die Marienpflege diese Therapie an.
- „Hier ist Idylle pur“, sagt Sarah Kraus und lässt ihren Blick über Wald und Wiesen oberhalb von Rotenbach schweifen. In einem Stall umgeben von weitläufigem Gelände bietet die Erzieherin und Reitpädagogin der Marienpflege heilpädagogisches Reiten an. Die norwegischen Fjordpferde, mit denen sie und die Bereiterin Dagmar Rock arbeiten, haben die Ruhe weg. Den Kindern und Jugendlichen, die hierher kommen, hilft das.
Sie haben Gewalt, sexuellen Missbrauch oder Verwahrlosung erlebt. Deshalb sind die Jungen und Mädchen nicht mehr bei ihren Eltern, sondern wohnen im Kinder- und Jugenddorf Marienpflege. Doch die Traumatisierung durch die Herkunftsfamilie wirkt nach. Manche der Sechs- bis 18-Jährigen macht die Krankheit ADHS hyperaktiv, andere mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADS sind zu verträumt. Viele haben Bindungsstörungen – sei es, dass sie viel zu wenig Distanz halten oder im Gegenteil gar keine Emotionen zeigen können. „Oder sie unterscheiden nicht mehr zwischen Mein und Dein, oder sie haben Sprachverzögerungen oder Lernschwierigkeiten“, führt Sarah Kraus die Aufzählung weiter. Es mangelt nicht an langfristigen Folgen von familiärem Desaster. Wie kann man sie mildern?
Kontakt mit Merlin und Varel
Zeit mit Sarah Kraus und den kinderdorfeigenen Pferden zu verbringen ist ein Weg, den die Marienpflege anbietet. Friedlich und stark wirken der neunjährige Merlin und der 13-jährige Varel. Beide sind Falben mit der für die Fjordpferde typischen stehenden Mähne und einem schwarzen Aalstrich von den Ohren bis zum Schweif. Ihr ruhiges Gemüt mache sie fürs heilpädagogische Reiten besonders geeignet. Im Kontakt mit den Vierbeinern können die Kinder ins Gleichgewicht kommen, sich selbst finden, Selbstbewusstsein gewinnen. „Es ist eine Therapie am und auf dem Pferd“, erklärt die Reitpädagogin, „und ich bin die Vermittlerin.“
An diese Aufgabe hat sie 2014 die Ordensfrau Schwester Marie-Sophie Schindeldecker herangeführt, die das therapeutische Reiten in der Marienpflege lange Jahre leitete, nun aber von ihren Mitschwestern in die Ordensleitung der Franziskanerinnen in Sießen gewählt worden war. 2015 machte Sarah Kraus die nötige Ausbildung bei der Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten (SG-TR) von Marianne Gäng. In der Begegnung zwischen Mensch und Pferd, so deren Überzeugung, liege „etwas Ganzmachendes, Heilsames, Erfüllendes, das wir für beeinträchtigte Menschen erschließen in der Hoffnung, dass bei gelungener Beziehung zwischen Mensch und Pferd sich das zustande Gekommene auch oder wieder auf die Beziehung von Mensch zu Mensch überträgt.“
Als Erzieherin in der Marienpflege arbeitete Sarah Kraus bereits seit langem. „Dafür, nun auch das Reiten zu übernehmen, war ich prädestiniert, weil ich mich persönlich schon immer sehr viel mit Tieren beschäftigt habe“, erklärt sie. Nach der Leitung wechselte auch der Ort des Angebots: vom Hof von Dagmar Rock in Hummelsweiler nach Rotenbach auf das Gelände der Familie Oberdorfer, wo ein kleiner Stall nach und nach aus- und umgebaut wurde.
Naturnahe Haltung
Inzwischen stehen hier ein großer Offenstall für Einsteller und ein Kleinpferdestall, in dem unter anderem die Therapiepferde untergebracht sind, mit weitläufigem Außenbereich. „Die naturnahe Haltung in der Herde, meist draußen und mit genügend Bewegung, führt zu einem ausgeglichenen Wesen“, sagt Sarah Kraus. Das ist wichtig: „Nur mit einem ausgeglichenen Pferd als Partner kann auch ich mit den Kindern gute Arbeit machen.“
Die beginnt im Reiterstüble. Hier trifft sich jede Gruppe zu Beginn der Stunde, hier erfährt Kraus, wie es einem jeden gerade geht. „Meist steht die Ampel auf Grün“, sagt sie und meint das wörtlich: Ihren Schützlingen helfen die Ampelfarben, um sich auszudrücken. Die Reitpädagogin geht auf ihre Bedürfnisse ein. „Manche Kinder sind glücklich, wenn sie ein Pferd füttern, pflegen und mit ihm schmusen dürfen, die brauchen nur das“, erzählt sie. Andere wie die ADHS-Kinder, die voller Anspannung stecken, lässt Kraus gern aufsitzen. „Der Rhythmus des Pferdes entspannt.“Einen ihrer Jungs, der ständig unter Strom steht, führt sie zum Beispiel in den Wald: Nichts wirkt beruhigender als die Natur.
Viele Erfolgserlebnisse
Trotzdem ist das Ziel des Unterrichts für die Kinder reiten zu lernen. „Der Weg ist länger als in einer herkömmlichen Reitschule, und wir haben ganz sicher keine sportlichen Ambitionen“, lächelt Sarah Kraus. Aber ihre Schüler haben Erfolgserlebnisse. Sie absolvieren einen Parcours über Stangen, spielen vom Pferderücken aus Basketball und „Besen-Polo“, lernen das Tier eines anderen zu führen oder reiten Slalom um Pylonen. „Da kommt viel Motorik ins Spiel“, verdeutlicht Sarah Kraus. Rund 25 Kinder und Jugendliche betreut sie insgesamt.
Psychotherapeutische Gespräche führt Sarah Kraus mit niemandem, trotzdem kommt sie an ihre Schützlinge „ganz nah ran“. Das langfristige Ziel des heilpädagogischen Reitens aber ist, vom Pferd zu lernen: Verantwortungsgefühl und Toleranz dem anderen gegenüber, dazu eigene Standhaftigkeit und Selbstbewusstsein und immer wieder: zu kommunizieren. „Das Pferd wertet nicht“, sagt Sarah Kraus, „aber ich muss mich groß machen und ihm zeigen, was ich von ihm will, sonst reagiert es nicht richtig.“Gerade so wie im wahren Leben: „Da liest einem auch keiner die Wünsche von den Augen ab. Ich muss mich schon mitteilen“, so die Pädagogin. „Wenn die Kinder das mit dem Pferd lernen, nehmen sie es in den Alltag mit.“Langfristig ist ihr Ideal, eines Tages einen lebenstüchtigen Erwachsenen in die Selbstständigkeit zu entlassen. Am Ende jeder Stunde reicht ihr dies: das Lächeln eines Kindes.