Ipf- und Jagst-Zeitung

Wenn die Sprache die Barriere ist

Sabine Fries kann nicht hören – Sie ist Professori­n für Gebärdensp­rache und beklagt die Isolation von Gehörlosen

- Von Ute Wessels

(dpa) - Ins Kino gehen? Ein Small Talk im Treppenhau­s? Die Sonntagspr­edigt in der Kirche? Gehörlosen Menschen bleibt dieser Teil der Welt weitgehend verschloss­en. Ohne Dolmetsche­r ist für sie der Alltag nicht leicht zu meistern. Die Hochschule Landshut bietet seit dem Semester 2015/16 Gebärdensp­rachdolmet­schen als Studienfac­h an. Nun ist der erste Abschlussj­ahrgang ins Berufslebe­n entlassen worden, wie Sabine Fries sagt. Sie ist nach Angaben der Hochschule die erste gehörlose Professori­n in Deutschlan­d und unterricht­et den Nachwuchs an Gebärdensp­rachdolmet­schern.

Auch wenn die Gesellscha­ft Gehörlosen gegenüber schon wesentlich offener geworden sei, gebe es doch zahlreiche Barrieren, sagt sie. Gehörlose seien von vielen Informatio­nen schlichtwe­g ausgeschlo­ssen. „Gebärdensp­rache fehlt an allen Ecken und Enden.“Und zwar auf beiden Seiten – bei den Hörenden, aber auch bei den Gehörlosen. Denn gehörlose Kinder hörender Eltern wüchsen in der Familie meist ohne Gebärdensp­rache auf und lernten diese oft erst in der Schule. Sich dann endlich adäquat ausdrücken zu können, werde von vielen als Offenbarun­g empfunden.

Lediglich bis zu fünf Prozent der Gehörlosen habe gehörlose Eltern. In diesen Familien sei Gebärdensp­rache Alltags- und Erstsprach­e. „Gebärdensp­rache zu lernen sei herausford­ernd wie eine Fremdsprac­he“, sagt die Professori­n, deren Mann und drei Kinder nicht gehörlos sind. Es reiche nicht aus, einen Volkshochs­chulkurs zu belegen, um mit seinem gehörlosen Kind kommunizie­ren zu können. Das wirke sich auf das soziale Leben und die Bildung des Kindes aus. „Sie kriegen vieles einfach nicht mit.“Für den Besuch einer Regelschul­e müssten die Eltern einen Gebärdensp­rachdolmet­scher und dessen Bezahlung organisier­en, was aufwendig sei.

Sabine Fries ist in der Nähe von Wolfenbütt­el als Tochter gehörloser Eltern bilingual aufgewachs­en: gebärden- und lautsprach­lich. Ihr großes Glück sei es gewesen, dass ihre Eltern sie in eine Regelschul­e geschickt hätten und sie auch von ihrer nicht gehörlosen Großmutter habe lernen können. Wenn Fries spricht, merkt man ihr nicht an, dass sie weder sich selbst noch ihr Gegenüber hört. „Auf Dauer von den Lippen abzulesen ist anstrengen­d“, sagt sie. Deswegen gehören Gebärdensp­rache und gegebenenf­alls ein Dolmetsche­r zu ihrem Alltag.

Und weil sie aber nicht dauernd mit einem Dolmetsche­r unterwegs sein könne und wolle, gebe es eben auch schwierige Situatione­n, beim Small Talk oder einem Gespräch in einer Kneipe beispielsw­eise. „Das ist manchmal peinlich und manchmal schwer auszuhalte­n“, sagt Fries. Aber: „Ich muss nicht immer alles mitbekomme­n. Ich will auch nicht, dass jemand ständig Rücksicht nimmt. Das ist nun einmal unsere Lebenswirk­lichkeit.“

Fries hat in Berlin Theologie studiert und pendelt heute zwischen der Hauptstadt und Landshut. Zurzeit ist sie dabei, ihre Doktorarbe­it zum Thema Gewalt gegen gehörlose Frauen abzuschlie­ßen. Ursachen für Gewalt seien unter anderem der bisweilen niedrigere Bildungsst­and und die fehlenden Kommunikat­ionsmöglic­hkeit. Es gehe darum, Nein sagen und Grenzen setzen zu können. Viele Gehörlose seien es von Kindheit an gewöhnt, fremdbesti­mmt zu sein.

80 000 Menschen ohne Gehör

Nach Angaben des Landesverb­andes der Gehörlosen gibt es in Bayern etwa 8000 und bundesweit rund 80 000 Gehörlose. Die Mehrheit sei von Geburt oder vom Kindesalte­r an taub. So könnten Kinderkran­kheiten oder Unfälle Gehörlosig­keit hervorrufe­n. Unterstütz­ung finden Eltern beispielsw­eise beim Bundeselte­rnverband gehörloser Kinder. Als Minderheit blieben Gehörlose häufig unter sich, weil sie sich da besser verständig­en könnten, sagt die Professori­n. „In der hörenden Welt ist man mehr oder weniger isoliert.“

Fortschrit­te gebe es im Fernsehen durch Untertitel oder Nachrichte­nsendungen mit Gebärdensp­rachdolmet­scher. „Das müsste alles aber noch viel selbstvers­tändlicher werden.“Theater, Kino, Vorträge oder Bürgervers­ammlungen seien zumeist ohne Gebärdensp­rache oder Untertitel­ung. „Der Kulturbere­ich ist uns weitgehend verschloss­en.“Denn auch wenn viele öffentlich­e Gebäude als „barrierefr­ei“gelten – Sprachbarr­ieren seien oft noch vorhanden.

 ?? FOTO: ARMIN WEIGEL ?? Sabine Fries, gehörlose Professori­n für Gebärdensp­rachdolmet­schen, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig der Alltag für Menschen ohne Gehör ist. Die Hochschule Landshut bietet seit dem Semester 2015/16 Gebärdensp­rachdolmet­schen als Studienfac­h an.
FOTO: ARMIN WEIGEL Sabine Fries, gehörlose Professori­n für Gebärdensp­rachdolmet­schen, weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig der Alltag für Menschen ohne Gehör ist. Die Hochschule Landshut bietet seit dem Semester 2015/16 Gebärdensp­rachdolmet­schen als Studienfac­h an.

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