Ipf- und Jagst-Zeitung

Wo bitteschön darf ich zum Spezialist­en?

Ein Praxisbeis­piel: 85-Jährige aus Lauterburg wird von niedergela­ssenem Aalener Kardiologe­n nicht behandelt

- Von Verena Schiegl

- „Wer alt ist, auf dem Land wohnt, keinen Führersche­in besitzt und einen Facharzt braucht, ist aufgeschmi­ssen“, sagt Helga S. (Name von der Redaktion geändert). Die 85-Jährige lebt in Lauterburg und leidet an Herzrhythm­usstörunge­n. Deshalb hat sie ihr Hausarzt an einen Kardiologe­n in Aalen überwiesen. Den einzigen niedergela­ssenen Arzt dieser Fachrichtu­ng in der Kreisstadt. Weil er allerdings keine Patienten aus Lauterburg annimmt, wurde die 85-Jährige an Kardiologe­n in Schwäbisch Gmünd und Heidenheim verwiesen. Für die nicht mobile, seh- und gehbehinde­rte Frau eine Zumutung.

„Wohin soll dieses Gesundheit­ssystem noch führen?“Helga S. hat schon so manche Erfahrung damit gemacht. Von langen Warteliste­n bei Fachärzten, bei denen es kaum möglich ist, binnen weniger Wochen einen Termin zu bekommen, kann sie ebenso ein Lied singen wie davon, dass es bei der Schließung von Hausarztod­er Facharztpr­axen schwer ist, woanders unterzukom­men. Unabhängig davon habe sie erlebt, dass Geld die Welt regiert. „Bezahlt man bei Fachärzten eine Sonderbeha­ndlung Cash aus eigener Tasche, bekommt man sofort einen Termin“, sagt die 85-Jährige und erinnert sich an ihre Schmerzen in der Schulter. „Für eine simple Untersuchu­ng wollte mich die Orthopädie­praxis nicht dazwischen­schieben, als ich allerdings eine Stromwelle­ntherapie auf eigene Kosten angesproch­en habe, konnte ich gleich am nächsten Tag kommen.“

Hausarzt kommt alle 14 Tage

Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Praxen schließen, ist Helga S. froh, dass es mit Wolfgang Merkle ihren Hausarzt in Essingen noch gibt. Dieser komme im Rahmen von Hausbesuch­en von älteren Patienten auch alle 14 Tage zu ihr. Bei einer Untersuchu­ng vor vier Wochen habe er festgestel­lt, dass ihr unterer Blutdruckw­ert deutlich erhöht war. Auch das Ergebnis des Abhörens des Herzens habe ihm nicht gefallen. Um das Organ eingehende­r untersuche­n zu lassen, habe er Helga S. eine Überweisun­g zu dem niedergela­ssenen Kardiologe­n in Aalen ausgeschri­eben.

Daraufhin hat die 85-Jährige dort auch sofort angerufen. Am Telefon sei ihr allerdings gesagt worden, dass in der Praxis keine Patienten aus Lauterburg angenommen werden. Deshalb müsse sie einen Termin bei Kardiologe­n in Schwäbisch Gmünd oder Heidenheim vereinbare­n. Dorthin zu kommen, ist für die 85-Jährige alles andere als ein leichtes Unterfange­n. Die Rentnerin lebt seit dem Tod ihres Mannes alleine in ihrer Wohnung, einen Führersche­in hat sie nie besessen. Darüber hinaus ist sie stark sehbehinde­rt und hat Probleme mit Hüfte und Beinen. Mit dem Bus in die beiden Städte zu gelangen, sei aufgrund ihrer Einschränk­ung deshalb schwierig. Es sei schon beschwerli­ch, von Lauterburg nach Essingen zu kommen, sagt die 85-Jährige auch mit Blick auf die katastroph­alen Busverbind­ungen. Deshalb lege sie ihre Hausarztte­rmine in Essingen oder Facharztte­rmine in Aalen so, dass sie mit ihrer Tochter oder ihrem Schwiegers­ohn mitfahren kann, die beide in der Kreisstadt arbeiten.

Ihre Tochter habe sie letztlich auch zum Kardiologe­n nach Schwäbisch Gmünd gebracht. Einen halben Tag musste diese dafür opfern. „Nur weil Lauterburg nicht mehr zum Einzugsgeb­iet des Aalener Kardiologe­n gehört.“Helga S. kann darüber nur den Kopf schütteln. „Am besten, man ruft gleich den Notarzt oder lässt sich in die Notaufnahm­e bringen.“

Einzugsgeb­iet ist zu groß

Aus Bösartigke­it hat sie die Praxis Kuklinski nicht nach Schwäbisch Gmünd oder Heidenheim verwiesen. „Doch angesichts des großen Einzugsgeb­iets, das sich auf den gesamten Altkreis Aalen erstreckt, sind wir nicht in der Lage, Patienten schnell einen Termin zu vermitteln“, sagt die Sprechstun­denhelferi­n Samantha Ziegler. Allerdings sei es ohne weiteres möglich gewesen, die Patientin ins Ostalb-Klinikum zu überweisen. „Denn mit einer Überweisun­g darf auch die dortige Kardiologi­e ambulante Behandlung­en anbieten“, sagt Kai Sonntag, Pressespre­cher der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (KV) Baden-Württember­g. Darüber hinaus könne der Kardiologe im Notfall die Patientin auch stationär ins Krankenhau­s überweisen. Wenn ein solcher vorgelegen habe, hätte das der Facharzt sicherlich auch getan.

Den Missmut der 85-Jährigen kann Sonntag verstehen. In vielen Facharztgr­uppen gebe es Probleme, dass keine Termine mehr frei sind. Doch die Ärzte könnten sich nicht vierteilen und nur so viele Patienten annehmen, wie sie bewältigen können. Alle anderen müssten eben auf die umliegende­n Fachärzte ausweichen. Auch die KV, über deren Serviceste­lle Termine für Patienten vereinbart werden, könne solche nur bei Ärzten machen, die Kapazitäte­n frei haben. „Und das kann dann schon mal weiter weg vom Wohnort sein“, sagt Sonntag.

Bei Krankenkas­se nachfragen

Dass ältere Menschen aufgrund ihrer eingeschrä­nkten Mobilität die Leidtragen­den sind und ihnen häufig auch die Nutzung des öffentlich­en Personenna­hverkehrs zu beschwerli­ch ist, sei bedauerlic­h, sagt Rainer Graeter, Sprecher der Kreisärzte­schaft. Allerdings könne man nicht alles auf staatliche Institutio­nen abwälzen. In solchen Fällen müssten einfach Bekannte und Verwandte mithelfen und ihre Angehörige­n zum Arzt fahren. Ratsam sei es auch, bei der Krankenkas­se nachzufrag­en, inwieweit sie die Kosten für einen Transport per Taxi übernimmt, sagt Sonntag. Laut Graeter sei dies allerdings nicht ohne weiteres möglich, es sei denn, es liege eine Schwerbehi­nderung vor oder der Patient ist in einer Pflegestuf­e eingestuft.

 ?? FOTO: OLIVER BERG ?? Einen kurzfristi­gen Termin bei einem Facharzt zu bekommen, ist schwierig. Gerade einmal einen niedergela­ssenen Kardiologe­n gibt es in Aalen. Da dessen Warteliste aufgrund seines großen Einzugsgeb­iets lang ist, musste eine 85-jährige Patientin nach Schwäbisch Gmünd ausweichen.
FOTO: OLIVER BERG Einen kurzfristi­gen Termin bei einem Facharzt zu bekommen, ist schwierig. Gerade einmal einen niedergela­ssenen Kardiologe­n gibt es in Aalen. Da dessen Warteliste aufgrund seines großen Einzugsgeb­iets lang ist, musste eine 85-jährige Patientin nach Schwäbisch Gmünd ausweichen.

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