Hausarzt wichtiger als Internet
Umfrage belegt Ängste über die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum
BERLIN/STUTTGART – Für 95 Prozent der Deutschen ist ein Hausarzt wichtiger für eine gute Infrastruktur als Internetversorgung (93 Prozent) und Schulen (90 Prozent). Das zeigt eine Forsa-Umfrage im Auftrag der AOK, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. In ländlichen Regionen sind die Menschen mit der Gesundheitsversorgung viel unzufriedener als in den Städten, in denen die Arztdichte größer ist. „Das Gefühl der Abgehängtheit“alarmiere auch die Politik zusehends, sagte AOK Vorstandsvorsitzender Martin Litsch.
Experten gehen davon aus, dass allein in Baden-Württemberg innerhalb der kommenden vier bis fünf Jahre rund 500 Hausärzte fehlen werden. Im Land liegt das Durchschnittsalter der Hausärzte bei 56,1 Jahren (bundesweit bei 55,2). Die Tendenz ist steigend, denn es finden sich nicht genug Nachfolger.
Die AOK hat deshalb die Initiative „Stadt. Land. Gesund.“gestartet und will 2019 und 2020 zusätzlich 100 Millionen Euro in eine verbesserte ländliche Versorgung stecken. Die Ansätze sind dabei vielseitig: Von der baden-württembergischen Versorgungsassistentin in Hausarztpraxen (Verahmobil) über Arztnetze bis hin zur Telemedizin, die räumliche Distanzen überwinden soll.
Im Südwesten soll im Sommer das bundesweit erste Telemedizin-Projekt starten, bei dem Ärzte via Internet Rezepte ausstellen können. „Wenn es weiterhin wie geplant läuft, dann wird das Projekt im Juni in der Region Stuttgart und im Landkreis Tuttlingen starten“, sagte eine Sprecherin der Landesapothekerkammer am Mittwoch. Nutzen können das Angebot Patienten von „Docdirect“. Der Service der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) war 2017 der erste seiner Art in Deutschland. Wer sich registriert, kann sich per Telefon, Chat und Video Rat bei einem Kinderoder Hausarzt holen. „Wir haben gezeigt, dass Telemedizin in Deutschland funktioniert. Wir könnten aber noch deutlich mehr Anrufe bearbeiten“, so KVBW-Sprecher Kai Sonntag. Derzeit sind mehr als 3000 Nutzer registriert, pro Monat gehen zwischen 200 und 250 Anrufe von Patienten ein.
- Ein großer Ambulanztrecker vor der Tür der Bundespressekonferenz mitten in Berlin soll Landluft in die Hauptstadt bringen und damit signalisieren, dass die AOK das Problem angehen will. Die Hausärzte werden immer älter und viele, die in den Ruhestand gehen, finden keine Nachfolger für ihre Praxen – und das trifft den ländlichen Raum ungleich stärker als die Städte. Die AOK wollte genau wissen, was die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum braucht, und gab deshalb bei Forsa eine Umfrage in Auftrag.
Die Erkenntnisse: Der Hausarzt ist für die Bürger am wichtigsten, sowohl für die Städter als auch für Landbewohner. Aber Bewohner auf dem Land sind wesentlich unzufriedener als die Städter mit dem Angebot an Krankenhäusern und Haus-, Fach- und Kinderärzten in ihrer Umgebung. „Das ist der Punkt, um den wir uns kümmern müssen“, sagt AOK-Vorstandsvorsitzender Martin Litsch in Berlin.
In kleinen Orten sind nur noch 55 bis 60 Prozent mit der Versorgung durch Fachärzte zufrieden. In den Großstädten sind es 70 Prozent. Der Trend wird voraussichtlich zunehmen. Bis 2030 gehen bundesweit 10 567 Hausärzte in den Ruhestand, „und es gibt keinen Run auf Niederlassungen in Dörfern“, so Martin Litsch. Deshalb seien viele verschiedene Projekte nötig. Einen durchschlagenden Erfolg konnte man bisher mit der Werbung für Hausärzte nicht erzielen, nur einige kleine Erfolge. Die AOK Bayern zum Beispiel wirbt mit Landarztpraktika um junge Mediziner, die „Landarztmacher“erreichen jährlich 50 Studierende. In Baden-Württemberg gibt es Stipendien für Studenten, die sich als Landarzt verpflichten, oder eine Förderung der Kassenärztlichen Vereinigung und des Landes für Ärzte, die sich in unterversorgten Regionen niederlassen.
Flexible Lösung
„Man kann keine Ärzte aufs Land zwingen“, meint Litsch. Deshalb müssten die Kassen „Beinfreiheit“für flexible, kreative Lösungen erhalten. In Brandenburg fährt zwar nicht mehr die berühmte Film-Schwester Agnes auf ihrer Schwalbe zu den Patienten, doch es gibt das Projekt „Agnes zwei“mit Assistenzen der Hausärzte. In Baden-Württemberg sind es zum einen die „Verahs“, die Versorgungsassistenten, die ältere Kranke vor Ort besuchen, und zum anderen beschreitet man neue Wege der Telemedizin. Überall werden Lösungen angestrebt, Ärzte zu entlasten.
Doch es gibt nicht den einen Weg für alle, heißt es bei der AOK. Irmgard Stippler, die Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern sagt: „Die Eifel braucht andere Lösungen als der Bayerische Wald.“
Die AOK als alte Ortskrankenkasse will mit 1300 Standorten auch weite ihrem Namen Ehre machen. Viele alternative Versorgungsprojekte sollen je nach Standort dazu beitragen, dass die Gesundheitsversorgung vor Ort erhalten bleibt. Sei es, dass ambulante Angebote ausgebaut werden oder lokale Gesundheitszentren entstehen wie im sächsischen Landkreis Görlitz, wo aus einem kleinen Krankenhaus mit 100 Betten ein Gesundheitszentrum wurde, mit einer kassenärztlichen Bereitschaftspraxis und einem medizinischen Versorgungszentrum, in dem auch junge Ärzte mit Kindern Teilzeit arbeiten können.
„Es ist sehr erfreulich, dass Menschen auf diese bereits bestehenden Versorgungsansätze sehr aufgeschlossen reagieren“, sagt Stippler. Auch das Serviceangebot der Krankenkassen, zum Beispiel Fahr- oder Bringdienste oder mobile Artzpraxen, finden 97 Prozent der Befragten gut. Denn an erster Stelle aller Entscheidungsfaktoren für einen Arzt steht dessen nachweislich gute Qualität. An zweiter Stelle die Erreichbarkeit mit Bus, Bahn oder Auto. Und nur 26 Prozent finden es sehr wichtig, dass der Arzt in kurzer Entfernung zur Wohnung ist. Es müsse nicht bei jeder Milchkanne einen Augenarzt geben, meint Litsch, aber die Erreichbarkeit muss hergestellt und ein entsprechender Service auf dem Land gestellt werden. Es gelte die Aufforderung „Bring uns bitte dahin“.
Mehr Fernbehandlung
Auch die Akzeptanz für Fernbehandlungen steigt, der deutsche Ärztetag hat sich im letzten Jahr für die Lockerung der Fernbehandlung ausgesprochen, schon jeder Zweite kann sich dies vorstellen.
Ärztenetze sollen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ärzten sorgen, denn auch hier besteht eine gewisse Unzufriedenheit bei älteren und chronisch kranken Patienten.
Doch es gibt keine bundesweiten Blaupausen. „Wir brauchen nicht mehr Zentralismus, sondern mehr Spielraum für passgenaue regionale Versorgungslösungen“, sagt Irmgard Stippler. Weder eine Berufsgruppe allein noch ein Gesundheitssektor allein – auch keine Krankenkasse allein – könne die Versorgung der Zukunft gestalten. Das schaffe man nur gemeinsam.