Wenn Helfer Hilfe brauchen
Die psychischen Belastungen, denen Rettungskräfte ausgesetzt sind, werden immer größer
- Der letzte Patient, den er in Göppingen behandelt hat, war ein Polizist, der traumatische Gewalterfahrungen im Einsatz gemacht hat. Sein erster Patient in Aalen war ein Mitarbeiter einer Justizvollzugsanstalt, der von Häftlingen angegangen worden ist. „Ein großes Thema“, sagt Michael Fritzsch, der neue Chefarzt der Psychosomatik am Ostalb-Klinikum.
Offizielle Zahlen oder Statistiken, wie viele Retter, Polizeikräfte und Menschen in Pflegeberufen unter psychischen Folgen ihres Berufs leiden, gibt es keine. Denn so unterschiedlich wie Menschen und Situationen sind, sind auch die Ausprägungen und Symptome, sagt Fritzsch. Auch gebe es zahlreiche verschiedene Stellen, an denen man sich Hilfe holen könne. Einerseits Notfallseelsorger und Hilfsangebote bei den unterschiedlichen Organisationen, zum anderen verschiedene Fachärzte. Trotzdem sind sich die Experten einig: Die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber Rettungskräften, Polizisten, aber auch Personal in den Krankenhäusern hat zugenommen und damit auch die psychischen Folgen, mit denen die Betroffenen zu kämpfen haben.
Bei der Polizei im Kreis kommt noch die hohe Arbeitsbelastung dazu. Denn das Betreuungsverhältnis, also die Anzahl an Menschen in der Bevölkerung, die auf einen Polizisten kommt, ist beim Aalener Präsidium in ganz Baden-Württemberg am höchsten, sagt Holger Bienert, Pressesprecher beim Präsidium Aalen.
Belasten können laut Fritzsch sowohl Ereignisse, bei denen man selbst körperlich verletzt wird, als auch Situationen, bei denen man Beobachter ist. Dazu gehörten zum Beispiel körperliche Angriffe, schwere Unfälle, bei denen Kinder beteiligt sind, oder Leichenfunde, erklärt Fritzsch. Als besonders gravierend erlebten Menschen Situationen, in denen sie den Geschehnissen vollkommen ausgeliefert seien und in deren Handlung man nicht eingreifen könne, ergänzt seine Kollegin Katharina Hauger, Oberärztin der Traumaambulanz am Ostalb-Klinikum. Auch wenn gewohnte Abläufe nicht funktionierten, fühlten sich Retter besonders hilflos, so Hauger. So nähmen zum Beispiel Rettungssanitäter es als besonders belastend wahr, wenn sie privat zu einem Unfallort kämen und ohne ihre Ausrüstung nicht wie gewohnt helfen könnten. Auch Holger Bienert bestätigt, „solange wir in unserer gewohnten Routine sind und beispielsweise einen Unfall aufnehmen, ist alles gut. Sobald Angehörige an den Unfallort kommen und es emotional wird, wird es belastend“, so der Polizeibeamte.
Die eine Leiche zuviel
Ob und wie stark jemand psychisch unter einem Einsatz leidet, ist indivuell verschieden, sagt Ralf Sing, hauptamtlicher psychosozialer Berater am Polizeipräsidium Aalen. Es käme ganz auf den Menschen und die Situation an. „Man kann sich das vorstellen, wie wenn jemand einen Rucksack voller Steine mit sich herumträgt. Irgendwann kommt ein weiterer Stein dazu, der für sich gesehen nicht mehr oder weniger schwer ist als die anderen. Am Ende war es dann aber vielleicht eine Leiche oder ein Unfallopfer zuviel“, erklärt Sing.
Auch die Symptome können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und von Vermeidungsstrategien im Beruf bis hin zu Appetitlosigkeit, Schlafproblemen oder Bluthochdruck reichen, erklärt Hauger. „Mancher zieht sich aus dem sozialen Leben zurück, ein anderer hat irrationale Schuldgefühle, zweifelt an seinem Beruf oder fühlt sich schuldig, weil er seine eigene Menschenkenntnis falsch eingeschätzt hat“, so die Ärztin.
Direkt nach einem einschneidenen Ereignis ist es wichtig, zu intervenieren, sagt Katharina Hauger. Bei der Polizei gibt es neben Ralf Sing noch einen weiteren hauptamtlichen psychosozialen Berater sowie sechs Kollegen, die nebenamtlich in diesem Bereich tätig sind. Daneben gibt es noch die Möglichkeit, Polizeiseelsorger oder den Polizeiärztlichen Dienst einzubinden.
Relatives neues Krankheitsbild
Wenn Sing und seine Kollegen nicht mehr helfen können, verweisen sie die Betroffenen an Ärzte oder Therapeuten. In besonders schlimmen Fällen leiden die Helfer unter der so genannten posttraumatischen Belastungsstörung, der einzigen psychischen Erkrankung, bei der man den Grund genau definieren kann, wie Fritzsch erklärt. „Dieses Krankheitsbild ist relativ neu. Es wurde erst in den 70er-Jahren definiert“, so der Chefarzt. Auslöser waren damals Vietnam-Veteranen, die nach dem Krieg nicht wieder ins Leben zurück gefunden haben. „Davor galten psychische Probleme als persönliche Schwäche des Einzelnen“, so Fritzsch weiter. Bis heute sei die Bereitschaft, sich Hilfe in solchen Fällen zu holen, immer weiter gestiegen, was er als sehr positiv bewertet.