Kretschmann entfeinstaubt
Während sich die schwäbisch-alemannische Fasnacht und der Karneval wieder annähern, lassen in Rottweil Tabubrüche aufhorchen
200 Narren zogen am Mittwoch in Stuttgart beim närrischen Staatsempfang zum Neuen Schloss, um Winfried Kretschmann (Foto: dpa) aus dem Amt zu drängen – und die Fasnet auszurufen. Zuvor wurden dem Ministerpräsidenten die Leviten gelesen, vor allem in Sachen Diesel. Der Grüne verteidigte die Fahrverbote jedoch: „Ich würd’ sie gern sofort verwerfen.“Doch er müsse die Gesetze achten, „sonst werden mich die Richter schlachten“. Trotzdem wurde er konsequent „entfeinstaubt“.
- „In diesem Jahr gehe ich zum ersten Mal fremd!“Man sollte die Ankündigung von Werner Mezger nicht falsch verstehen. Der Volkskundeprofessor aus Rottweil ist zwischen Konstanz und Köln als „Fasnachtspapst“ziemlich unumstritten, und natürlich gilt das Bekenntnis seiner ureigenen Domäne: Mezger, 67 Jahre alt, wird am Fasnetsmontag zum ersten Mal in seinem Leben nicht beim Narrensprung seiner Heimatstadt dabei sein. Er gibt dem Kölner Karneval die Ehre.
Für manche Sittenwächter der schwäbisch-alemannischen Fasnacht vielleicht ein Sündenfall, für andere eher ein Normalfall, auf jeden Fall aber ein Zeichen für den Wandel. Dass sich zum Beispiel auch eine alte und besonders traditionsbewusste Fasnet wie die Rottweiler verändert, hat gerade erst Dieter E. Albrecht vorexerziert. Er war stolzer Besitzer einer besonderen Narrenfigur: eines Schantle aus dem Jahr 1928, den sein Ururgroßvater, der frühere Rottweiler Schultheiß Edwin Glückher, schon getragen hatte. Dieter E. Albrecht, der das E in seinem Namen vom bekannten Vorfahren hat, hielt das Prachtstück stets in Ehren. Jahr für Jahr ging er „d’Stadt nab“, wie man in Rottweil sagt, narrte nach dem alten Motto „Jedem zur Freud, keinem zum Leid“, stets den hier uralten Gruß „Glückselige Fasnet“im Sinn. Bis vor ein paar Monaten. Da bot er den Edelschantle plötzlich im Internet an. Es war ein einmaliger Tabubruch, denn es ist mit die oberste von vielen Regeln der Rottweiler Fasnet, dass man mit Narrenkleidle keinen Handel treibt.
Bereits am zweiten Tag, berichtet Albrecht, sei das Höchstgebot für den Schantle auf 15 000 Euro gestiegen. Da brach er die Auktion ab. „Ich hätte das aus moralischen Gründen niemals verkaufen können“, sagt er. Der langjährige Stadtrat der Freien Wähler wollte provozieren und demonstrieren – demonstrieren gegen „den Verfall der Rottweiler Fasnet“, wie er betont. Die ist für ihn in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zu einem „Schaulaufen für Touristen“verkommen. Der wahre Sinn der Fasnet, nämlich den Leuten, und da besonders der Obrigkeit, den Spiegel vorzuhalten, gehe verloren. In Rottweil heißt das „Aufsagen“: Die traditionellen Narren haben ein liebevoll gestaltetes Narrenbuch dabei, in dem sie Missetaten oder Missgeschicke von Mitbürgern entweder in lustigen Reimen oder in kunstvollen Zeichnungen karikieren. Ober beides. Manche sagen auch aus dem Stegreif auf. Doch dieser traditionelle Narrentyp drohe auszusterben, dafür drängten sich immer mehr „eitle Eventnarren“in den Vordergrund, rügt Albrecht und hat für sich die Konsequenz gezogen: „Das ist nicht mehr meine Fasnet“, verkündete der 53-Jährige öffentlich und erklärte seine Narrenkarriere für beendet. Den Prunkschantle vermachte er als Schenkung dem Landesmuseum Württemberg. Und so ist der fast 90 Jahre alte GlückherSchantle jetzt im Schloss Waldenbuch, Abteilung Alltagskultur, zu besichtigen – als Symbol für den Wandel der Fasnacht. Kuratorin Raffaela Sulzner sagt beglückt: „Sowohl durch seine Materialität als auch durch die mit dem Schantle verbundenen Geschichten erzählt das Objekt vom Wandel, der Kontinuität und der sich verändernden Bedeutung (…) von Brauchtum und Tradition.“
Dieter E. Albrecht hat sich zum Zeichen des Protests eine weitere Provokation erlaubt: Seine zweite und letzte Narrenfigur, die er besitzt, ein Biß (Weißnarr mit Schellen), steht neuerdings in voller Pracht samt Plakette, Brief und Preisschild (6500 Euro) zum Verkauf in einem Rottweiler Schaufenster der Innenstadt. So etwas gab es noch nie in der langen Geschichte der Narrenstadt. Die Narrenzunft schweigt offiziell, doch wie sehr es brodelt und kocht hinter den Kulissen, zeigt die Tatsache, dass der Vorstand dem Ladenbesitzer umgehend die Erlaubnis entzogen hat, Narrenbändel zu verkaufen. Dabei hat auch die Zunft das Problem seit Jahren erkannt und versucht, mit Kindernachmittagen, Workshops, Infoabenden und/oder Appellen das Narrenschiff wieder auf alten Kurs zu bringen.
Der Preis des Erfolgs
Die Rottweiler Fasnet ist begehrter denn je. Sagenhafte 9000 Narrenkleidle haben es mittlerweile durch den strengen Narren-TÜV geschafft und sind damit offiziell zugelassen. Heißt: Die Rottweiler Fasnet droht an ihrer schieren Größe zu kollabieren. Die Appelle von Narrenmeister Christoph Bechtold klingen angesichts des Booms und des Wandels fast schon verzweifelt: Er beklagt, dass viele Einheimische ihre Kleidle irgendwelchen Auswärtigen überließen und so zum Niedergang des Brauchtums beitragen. „Die vielen Tausend Sprungteilnehmer“, sagt er ironisch und vermeidet bewusst das Wort Narren, „bringen uns an unsere Grenzen.“Eindringlich bat er sie, die Fasnet „in ihren Dorfgemeinschaften zu feiern“. Das wäre ein Gewinn für alle Seiten.
Der Wandel hat größere Dimensionen als nur Rottweil, wie man am Beispiel der Schwäbisch-Alemannischen Narrenvereinigung mit ihren knapp 70 Zünften erkennen kann: Jahrzehntelang galt der Karneval, zumal beim harten Kern der Traditionalisten, als natürlicher Feind ihrer Fasnet. Man muss sich nur die Historie vor Augen führen: Im Jahr 1924 probten die Narren hierzulande den Aufstand und gründeten als „Schutzund Trutzburg“gegen den überbordenden Karneval und gegen die Fasnetsverbote der Regierungen von Württemberg und Baden die Schwäbisch-Alemannische Narrenvereinigung. Doch eine „Flut von Neuaufnahmen“, eine inflationäre Zunahme von Narrentreffen und die Nachahmung historischer Narrenfiguren durch neue Zünfte führte schon zwölf Jahre später zu einem Grundsatzstreit. Vor allem Rottweil und Villingen fühlten sich als historische Gralshüter des Brauchtums berufen. Nur der Krieg verhinderte Austritte.
Zum endgültigen Bruch kam es 1953, als sich der Anschluss der Vereinigung in den Bund Deutscher Karneval abzeichnete. Da hörte nicht nur für die Rottweiler der Spaß auf: Sie erklärten spontan den Austritt. Wenig später zogen Elzach, Überlingen und Oberndorf nach. Seither veranstaltet der „Viererbund“den Narrentag, nächstes Jahr in Überlingen. Veränderungen oder gar ein Flirt mit dem Karneval sind nicht geplant und schon gar nicht gewollt. Ganz im Gegenteil. Sie begreifen sich als Edelzünfte der Tradition und als NarrenAristokraten.
Derweil haben sich die Schwäbisch-Alemannische Narrenvereinigung und Kölner Karnevalisten längst wieder angenähert. Als Brauchtumsforscher hat Werner Mezger von jeher – bei aller Liebe zum heimatlichen Narrensprung – nicht auf Abgrenzung gesetzt, sondern auf Offenheit. Und sein Befund war von Anfang an klar: „Fasnacht und Karneval sind zwei Äste mit unterschiedlichen Feierformen, aber den gleichen Wurzeln.“Vor allem aber: „Ohne die Kölner Karnevalsreform im Jahr 1823 wäre – nach dem Fasnachtsverbot von 1809 – die schwäbisch-alemannische Fasnet in der heutigen Form nicht denkbar.“
Tatsächlich regierte König Karneval selbst in heutigen Hochburgen der schwäbisch-alemannischen Fasnet bis Ende des 19. Jahrhunderts. Nach wie vor ist beispielsweise in Rottweil die „Karnevalsgesellschaft Narrhalla 1888“für die Saalfasnet zuständig.
Schon früh befasste sich Mezger mit dem Phänomen Karneval und kam unter anderem zum Ergebnis, dass er „gar nicht so oberflächlich ist, wie manche hier denken“. So spiele zum Beispiel das soziale Engagement ebenso eine große Rolle wie das Thema Vergänglichkeit, Tod. Der Rottweiler Professor bekam 1993 als Erster den vom Bund Deutscher Karneval verliehenen „Kulturpreis der Deutschen Fastnacht“. Seither hält der Kontakt – und ausgerechnet er, als Schwabe, wurde mehrfach als Festredner zum Kölner Karneval eingeladen.
Vorurteile über Bord geworfen
Da Mezger auch bei der Vereinigung Schwäbisch-Alemannischer Narrenzünfte e. V. aktiv ist, wurden die Wege zwischen den beiden sich lange fremden Welten kürzer. Spätestens als sie bemerkten, dass sie gemeinsame Interessen haben, warfen beide Seiten ihre Vorurteile über Bord: Die Jecken, die sich über die humorlosen Maskenträger lustig machten, und die Fasnachter, die das wahre Brauchtum für sich beanspruchten. Plötzlich stellten sie fest, dass sie sich gar nicht so unähnlich sind und dass sie in der globalen Welt von heute nur gemeinsam ein großes Ziel erreichen: die Anerkennung als „immaterielles Weltkulturerbe“durch die Vereinten Nationen. Bisher hat es nur zum nationalen Kulturerbe gereicht, während andere Traditionen weltweit die höchste Anerkennung erreicht haben – vom Karneval in Tschechien und Belgien bis nach Bolivien und Kolumbien.
Zweimal haben sich Abordnungen schon besucht – und prompt Gefallen aneinander gefunden. Man habe den Kölnern gesagt, ein paar Mitglieder reichten aus, um das Nötige zu besprechen, berichtet Werner Mezger. „Dann kamen die mit einem ganzen Bus voller Leute, und es wurde ein toller Abend im Narrenschopf Bad Dürrheim.“Der nächste Schritt des Wandels ist bereits eingeleitet: Im Narrenschopf sind inzwischen Ornate des Kölner Dreigestirns ausgestellt. Und es gleicht fast einem Wunder, was Mezger berichtet: „Die gegenseitige Wertschätzung ist enorm.“
Aber „fremdgehen“will der Professor nur einmal und ansonsten der schwäbisch-alemannischen Fasnacht die Treue halten: Am Fasnetsdienstag wird er morgens wieder in Rottweil sein – beim Narrensprung. Um Schlag 8 Uhr.
„Die vielen Tausend Sprungteilnehmer bringen uns an unsere Grenzen.“ Christoph Bechtold, Narrenmeister zu Rottweil „Fasnacht und Karneval sind zwei Äste mit den gleichen Wurzeln.“ Werner Mezger, Volkskundeprofessor und „Fasnachtspapst“aus Rottweil