Opfer Kind
Immer neue Meldungen über sexuellen Missbrauch schockieren die Welt
- Missbrauch in der Kirche und in Kinderheimen, ein Sextäterring auf einem Campingplatz, dazu immer wieder neue Enthüllungen über Verfehlungen von Musikern wie Michael Jackson und R. Kelly – seit Wochen bestimmt das Thema Kindesmissbrauch die Schlagzeilen. Was auffällt: Dass Kinder systematisch zu Opfern gemacht werden, zieht sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. In Nordrhein-Westfalen war es das Milieu von Dauercampern, in dem mehrere Erwachsene ihre sexuellen Gelüste am Nachwuchs befriedigten. Dagegen zähl(t)en Michael Jackson, R. Kelly und der in den USA wegen des Besitzes Tausender kinderpornografischer Bilder und Videos zu 20 Jahren Haft verurteilte deutsche Zauberkünstler Jan Rouven zu den Schwerreichen.
Unterschiedlich ist auch das Vorgehen der Täter: Manche vergehen sich an Kindern aus der eigenen Familie oder aus dem Bekanntenkreis. Andere schließen sich einer Institution an – wie die Priester in der katholischen Kirche, die Kinder und Jugendliche auch dadurch gefügig machten, indem sie sie moralisch unter Druck setzten. Was ist über Kindesmissbrauch bekannt, was bleibt ein Rätsel? Wir haben Behauptungen zu dem Thema auf den Prüfstand gestellt.
Behauptung 1: Es ist ein gutes Zeichen, dass immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch bekannt werden.
Professor Michael Melter vom Uniklinikum Regensburg sieht eine positive Tendenz: Dadurch dass das Thema mehr in der Öffentlichkeit sei, könnten Täter abgeschreckt werden. Aber er weist auch darauf hin: „Die meisten Taten bleiben unentdeckt.“Auch das Internet hilft dabei, dass Fälle nicht im Verborgenen bleiben. Die sozialen Netzwerke erleichtern es Opfern, in die Öffentlichkeit zu treten. Der Hashtag #MeToo ist ein Beispiel dafür, wie sich Betroffene gegenseitig Mut machen.
Behauptung 2: Die Missbrauchsfälle nehmen zu.
Es kommt auf den Zeitraum an, den man betrachtet. Folgt man der Polizeilichen Kriminalstatistik, ist die Zahl der Fälle seit 2009 mit jährlich unter 15 000 quasi konstant. Allerdings: Diese Statistik gibt nur Aufschluss über die Zahl der Anzeigen, also den öffentlich gewordenen Missbrauch. Wie groß die Dunkelziffer ist, bleibt unklar. Die Weltgesundheitsorganisation geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder.
Behauptung 3: Die Strafen für Kindesmissbrauch sind zu lasch.
Das ist Ansichtssache. Laut Paragraf 176 des Strafgesetzbuches wird der sexuelle Missbrauch von Kindern mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet, in besonders schweren Fällen sogar bis zu 15 Jahren. Häufig gibt es aber Kritik daran, dass der Strafrahmen nicht richtig ausgeschöpft wird und dass es manche Richter selbst im Fall wiederholten sexuellen Missbrauchs bei Bewährungsstrafen belassen.
Behauptung 4: In der DDR wurde das Thema sexueller Missbrauch von Kindern besonders stark tabuisiert.
Stimmt – zumindest ist zu diesem Ergebnis die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gekommen, die in Berlin Ergebnisse ihrer Anhörungen vorgestellt hat. „Betroffene konnten, wenn überhaupt, erst nach dem Ende der DDR über die erlittene sexuelle Gewalt berichten“, heißt es in dem Bericht. Zwar habe es sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR in allen Schichten gegeben, ähnlich wie in der Bundesrepublik. Er habe aber nicht ins Bild der „heilen sozialistischen Gesellschaft“gepasst und daher auch in offiziellen Kriminalitätsstatistiken kaum eine Rolle gespielt.
Behauptung 5: Missbrauch findet besonders in bestimmten Milieus statt – etwa in bildungsfernen Schichten und in der Kirche.
Die Täter stammen laut dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, aus allen sozialen Milieus. Die männlichen Täter leben hetero- oder homosexuell und unterscheiden sich durch kein äußeres Merkmal von nicht missbrauchenden Männern. Grundsätzlich gilt: 25 Prozent des Missbrauchs findet innerhalb der engsten Familie statt. Auch Bildungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, sind Orte, an denen sexueller Missbrauch stattfindet. Und natürlich kirchliche Einrichtungen. Gefahren gehen auch von den digitalen Medien aus. Sie spielen bei sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen laut Rörig eine immer größere Rolle.
Behauptung 6: Die Opfer sind meistens weiblich.
Das ist so. Laut Statistik sind die Opfer zu etwa 75 Prozent Mädchen und 25 Prozent Jungen.
Behauptung 7: Täter sind vor allem Männer.
Geht man nach den von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen stimmt das (fast) – nur ein Prozent sind weiblich. Allerdings sind sich Experten sicher, dass es Täterinnen weit häufiger gibt, als es statistisch erfasst wurde. Sexueller Missbrauch durch Frauen werde seltener entdeckt, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut würden. Entsprechend ungenau sind die Zahlen: 10 bis 25 Prozent der Delikte, so wird vermutet, werden von Täterinnen verübt. Ein besonders schwerer Fall war der Missbrauch in Staufen im Breisgau, wo die Mutter selbst das eigene Kind aktiv missbrauchte und es auch Männern im Internet für Missbrauchstaten anbot.
Behauptung 8: Konsequenterweise sollte man Musik und Filme von Tätern wie R. Kelly und Kevin Spacey boykottieren.
Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Aber die Reaktion des Publikums spricht eine eindeutige Sprache. Hatte R. Kelly bis vor 15 Jahren sowohl in den USA als auch in Deutschland noch eine Reihe Top-Ten-Hits – darunter „I Believe I Can Fly“von 1996 –, so gingen die Verkaufszahlen in den Keller, als vor etwa 15 Jahren die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs konkreter wurden. Ähnlich erging es dem US-Schauspieler Kevin Spacey, der unter anderem beschuldigt wird, in den 1980erJahren einen 14-Jährigen sexuell belästigt zu haben. Nach Bekanntwerden des Vorwurfs wurde die NetflixSerie „House of Cards“ohne Spacey weitergedreht. Der Film „Billionaire Boys Club“, in dem Spacey eine Hauptrolle spielte, floppte an der Kinokasse und spielte an seinem Starttag in den USA nur 126 Dollar ein.