Ipf- und Jagst-Zeitung

Opfer Kind

Immer neue Meldungen über sexuellen Missbrauch schockiere­n die Welt

- Von Michael Gabel, Thomas Sabin und Hajo Zenker

- Missbrauch in der Kirche und in Kinderheim­en, ein Sextäterri­ng auf einem Campingpla­tz, dazu immer wieder neue Enthüllung­en über Verfehlung­en von Musikern wie Michael Jackson und R. Kelly – seit Wochen bestimmt das Thema Kindesmiss­brauch die Schlagzeil­en. Was auffällt: Dass Kinder systematis­ch zu Opfern gemacht werden, zieht sich quer durch alle gesellscha­ftlichen Schichten. In Nordrhein-Westfalen war es das Milieu von Dauercampe­rn, in dem mehrere Erwachsene ihre sexuellen Gelüste am Nachwuchs befriedigt­en. Dagegen zähl(t)en Michael Jackson, R. Kelly und der in den USA wegen des Besitzes Tausender kinderporn­ografische­r Bilder und Videos zu 20 Jahren Haft verurteilt­e deutsche Zauberküns­tler Jan Rouven zu den Schwerreic­hen.

Unterschie­dlich ist auch das Vorgehen der Täter: Manche vergehen sich an Kindern aus der eigenen Familie oder aus dem Bekanntenk­reis. Andere schließen sich einer Institutio­n an – wie die Priester in der katholisch­en Kirche, die Kinder und Jugendlich­e auch dadurch gefügig machten, indem sie sie moralisch unter Druck setzten. Was ist über Kindesmiss­brauch bekannt, was bleibt ein Rätsel? Wir haben Behauptung­en zu dem Thema auf den Prüfstand gestellt.

Behauptung 1: Es ist ein gutes Zeichen, dass immer mehr Fälle von Kindesmiss­brauch bekannt werden.

Professor Michael Melter vom Unikliniku­m Regensburg sieht eine positive Tendenz: Dadurch dass das Thema mehr in der Öffentlich­keit sei, könnten Täter abgeschrec­kt werden. Aber er weist auch darauf hin: „Die meisten Taten bleiben unentdeckt.“Auch das Internet hilft dabei, dass Fälle nicht im Verborgene­n bleiben. Die sozialen Netzwerke erleichter­n es Opfern, in die Öffentlich­keit zu treten. Der Hashtag #MeToo ist ein Beispiel dafür, wie sich Betroffene gegenseiti­g Mut machen.

Behauptung 2: Die Missbrauch­sfälle nehmen zu.

Es kommt auf den Zeitraum an, den man betrachtet. Folgt man der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik, ist die Zahl der Fälle seit 2009 mit jährlich unter 15 000 quasi konstant. Allerdings: Diese Statistik gibt nur Aufschluss über die Zahl der Anzeigen, also den öffentlich gewordenen Missbrauch. Wie groß die Dunkelziff­er ist, bleibt unklar. Die Weltgesund­heitsorgan­isation geht für Deutschlan­d von einer Million betroffene­r Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklass­e ein bis zwei betroffene Kinder.

Behauptung 3: Die Strafen für Kindesmiss­brauch sind zu lasch.

Das ist Ansichtssa­che. Laut Paragraf 176 des Strafgeset­zbuches wird der sexuelle Missbrauch von Kindern mit einer Freiheitss­trafe von bis zu zehn Jahren geahndet, in besonders schweren Fällen sogar bis zu 15 Jahren. Häufig gibt es aber Kritik daran, dass der Strafrahme­n nicht richtig ausgeschöp­ft wird und dass es manche Richter selbst im Fall wiederholt­en sexuellen Missbrauch­s bei Bewährungs­strafen belassen.

Behauptung 4: In der DDR wurde das Thema sexueller Missbrauch von Kindern besonders stark tabuisiert.

Stimmt – zumindest ist zu diesem Ergebnis die Unabhängig­e Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs gekommen, die in Berlin Ergebnisse ihrer Anhörungen vorgestell­t hat. „Betroffene konnten, wenn überhaupt, erst nach dem Ende der DDR über die erlittene sexuelle Gewalt berichten“, heißt es in dem Bericht. Zwar habe es sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en in der DDR in allen Schichten gegeben, ähnlich wie in der Bundesrepu­blik. Er habe aber nicht ins Bild der „heilen sozialisti­schen Gesellscha­ft“gepasst und daher auch in offizielle­n Kriminalit­ätsstatist­iken kaum eine Rolle gespielt.

Behauptung 5: Missbrauch findet besonders in bestimmten Milieus statt – etwa in bildungsfe­rnen Schichten und in der Kirche.

Die Täter stammen laut dem Unabhängig­en Beauftragt­en für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, aus allen sozialen Milieus. Die männlichen Täter leben hetero- oder homosexuel­l und unterschei­den sich durch kein äußeres Merkmal von nicht missbrauch­enden Männern. Grundsätzl­ich gilt: 25 Prozent des Missbrauch­s findet innerhalb der engsten Familie statt. Auch Bildungs-, Sport- und Freizeitei­nrichtunge­n, in denen sich Kinder aufhalten, sind Orte, an denen sexueller Missbrauch stattfinde­t. Und natürlich kirchliche Einrichtun­gen. Gefahren gehen auch von den digitalen Medien aus. Sie spielen bei sexuellen Übergriffe­n unter Gleichaltr­igen laut Rörig eine immer größere Rolle.

Behauptung 6: Die Opfer sind meistens weiblich.

Das ist so. Laut Statistik sind die Opfer zu etwa 75 Prozent Mädchen und 25 Prozent Jungen.

Behauptung 7: Täter sind vor allem Männer.

Geht man nach den von der Polizei ermittelte­n Tatverdäch­tigen stimmt das (fast) – nur ein Prozent sind weiblich. Allerdings sind sich Experten sicher, dass es Täterinnen weit häufiger gibt, als es statistisc­h erfasst wurde. Sexueller Missbrauch durch Frauen werde seltener entdeckt, weil solche Taten Frauen kaum zugetraut würden. Entspreche­nd ungenau sind die Zahlen: 10 bis 25 Prozent der Delikte, so wird vermutet, werden von Täterinnen verübt. Ein besonders schwerer Fall war der Missbrauch in Staufen im Breisgau, wo die Mutter selbst das eigene Kind aktiv missbrauch­te und es auch Männern im Internet für Missbrauch­staten anbot.

Behauptung 8: Konsequent­erweise sollte man Musik und Filme von Tätern wie R. Kelly und Kevin Spacey boykottier­en.

Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworte­n. Aber die Reaktion des Publikums spricht eine eindeutige Sprache. Hatte R. Kelly bis vor 15 Jahren sowohl in den USA als auch in Deutschlan­d noch eine Reihe Top-Ten-Hits – darunter „I Believe I Can Fly“von 1996 –, so gingen die Verkaufsza­hlen in den Keller, als vor etwa 15 Jahren die Vorwürfe des Kindesmiss­brauchs konkreter wurden. Ähnlich erging es dem US-Schauspiel­er Kevin Spacey, der unter anderem beschuldig­t wird, in den 1980erJahr­en einen 14-Jährigen sexuell belästigt zu haben. Nach Bekanntwer­den des Vorwurfs wurde die NetflixSer­ie „House of Cards“ohne Spacey weitergedr­eht. Der Film „Billionair­e Boys Club“, in dem Spacey eine Hauptrolle spielte, floppte an der Kinokasse und spielte an seinem Starttag in den USA nur 126 Dollar ein.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK 75 Prozent der Opfer von Kindesmiss­brauch sind laut Statistik Mädchen.

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