Ein Mann und seine Passion
Urkatholisch und doch ein Rebell – Christian Stückl inszeniert in Oberammergau bereits zum vierten Mal die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu
Stellt man sich eine bayerische Urgewalt in Männergestalt vor, passt Christian Stückl perfekt ins Bild. Der 57-jährige Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele und Intendant des Münchner Volkstheaters trägt bevorzugt Haferlschuhe, dezentes Trachtenhemd sowie Strickjanker zur Jeans und redet im breiten Dialekt seiner Heimat. Doch es ist nicht nur die äußere Erscheinung dieses stattlichen Mannsbilds mit den schwarz-grauen Locken und dem Dreitagebart, die beeindruckt, sondern auch sein Auftreten, sein Habitus, seine Gestik und Mimik, sein offener, direkter Blick. Das alles zieht sofort in Bann und nimmt einen für ihn ein. Die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ist ihm also gewiss, wenn er in seinem kargen Büro im Festspielhaus lebhaft davon erzählt, wie ihm als nur 24-Jährigem die Spielleitung der Passion übertragen worden ist, wie viel ihm daran liegt, die Oberammergauer Passionsspiele immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und zu erneuern, wie verwurzelt er in seiner Heimat ist, wie er aber auch immer wieder rausmuss in die Welt, oft nach Indien.
Doch obwohl der Oberammergauer viel von sich und seiner Arbeit preisgibt, die Worte unablässig aus ihm heraussprudeln und er eine ganze Journalistenschar ins Schlepptau nimmt, wenn er durchs Theater hastet, ist es gar nicht so leicht, die Aura und das Erfolgsgeheimnis dieses Mannes selbst in Worte zu fassen. Vielleicht hilft ein Beispiel: Stückl ist Kettenraucher und schert sich einen feuchten Kehricht um das Rauchverbot im Oberammergauer Festspielhaus. Sein Weg vom Büro zur Bühne und Requisite ist markiert mit vollen Aschenbechern und ausgetretenen Kippen auf dem Boden. Stückl zieht nicht an der Zigarette, er saugt den Rauch hörbar ein. Ganz tief. Und genauso gierig saugt er alles um sich herum auf und in sich hinein. Am liebsten Menschen, die er mit seiner Art begeistern kann, und Ideen, von denen er selbst begeistert ist.
Stückl gilt als begnadeter Menschenfänger, der ein Händchen für seine Schauspieler hat und auch die Jugend begeistern und formen kann. Vielleicht hilft ihm dabei, dass er einmal wie viele andere Oberammergauer das Holzschnitzer-Handwerk erlernt hat. „Doch ich habe schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist. Ich fühlte mich einsam so allein vor einem stummen Holzblock. Und eigentlich bin ich nur Holzbildhauer geworden, weil alle meine Vorgänger Holzbildhauer waren. Ich dachte, das müsste so sein. Mein eigentlicher Berufswunsch war aber schon als Bub, einmal Spielleiter der Passion zu sein“, verrät der Wirtssohn.
Ein eiserner Wille und Ehrgeiz zählen wohl auch zu seinen Charaktereigenschaften, denn Stückl schaffte es tatsächlich, jüngster Spielleiter aller Zeiten zu werden. Ganz knapp. Denn im Gemeinderat erhielt er nur neun von 17 Stimmen. „Noch heute spalte ich das Dorf. Die eine Hälfte liebt mich und meine Arbeit, die andere würde mich gern zum Teufel jagen“, weiß er. Und das, obwohl er im kommenden Jahr bereits zum vierten Mal die Passion in Oberammergau inszeniert und mittlerweile bundesweit ein anerkannter und preisgekrönter Regisseur ist. Stückl arbeitete an der Seite von Volker Schlöndorff und Dieter Dorn, inszenierte neben vielen Theaterstücken unter anderem den „Jedermann“in Salzburg sowie die Eröffnungsfeier zur Fußball-WM 2006 in München. Doch alle zehn Jahre sorgt er erneut für heftige Diskussionen in Oberammergau. Was ihn freut, denn „solange wir streiten, bleibt’s lebendig“. Das war so, als er Abdullah Karaca, einen Oberammergauer Muslim, zu seinem Stellvertreter ernannte und das ist auch jetzt so, weil er erstmals einem Muslimen eine Hauptrolle im Stück gegeben hat. Stückl zitiert mit einem Grinsen im Gesicht aus hasserfüllten Briefen von Frauen, die ihm Blasphemie vorwerfen, weil er für die Passion 1990 die Regel kippte, dass nur unverheiratete Frauen unter 35 Jahren die Maria spielen durften. Er berichtet davon, dass ihm die Haustür zugemauert wurde und der Pfarrer von der Kanzel gewettert hat, als er den ersten Protestanten auf die Bühne holte. Viele Widerstände musste er in den vergangenen 30 Jahren brechen. Und er, der sich so ungern als Rebell bezeichnen lässt, kämpft weiter. Denn seiner Meinung nach ist „Reform der Grundstock für die Erhaltung von Tradition“.
Durchgesetzt hat sich Stückl bislang immer. Vielleicht, weil die Oberammergauer auch erleben mussten, wie viel Lob der junge Regisseur, der nie eine Schauspielschule besucht hat, weltweit erntete, als er mit seinem Team den alten Text stellenweise umschrieb und die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu von ihren antisemitischen Altlasten befreite. Stückl hat es auch geschafft, dass die Dorfjugend wieder begeistert dabei ist, wenn alle zehn Jahre Passion gespielt wird. Zu seiner eigenen Jugendzeit war das noch ganz anders. Er und viele seiner Altersgenossen fanden wenig Gefallen an dem in ihren Augen angestaubten und reaktionären Passionsspiel. Der gerade mal dem Teenageralter entwachsene Stückl gründete aus Protest Anfang der 1980er-Jahre sogar eine eigene Theatergruppe in Oberammergau und erregte bereits mit seiner ersten Inszenierung, Shakespeares „Sommernachtstraum“, einiges Aufsehen. Auch in München. Dieter Dorn, Intendant, Regisseur und Schauspieler, wurde auf Stückl aufmerksam und holte den jungen Oberammergauer als Assistent an die renommierten Kammerspiele.
In Bayerns Hauptstadt prägt Stückl noch heute die Theaterlandschaft, erntet viel Lob und ist allseits bekannt. Fast so wie zu Hause in Oberammergau, wo er immer noch in der Ortsmitte wohnt und jeden kennt. Auch weil er seit Jahrzehnten den Nikolaus gibt und in die Familien kommt. Wenn er durchs Dorf läuft oder vor dem Café sitzt und eine (meist aber mehrere) raucht, setzt er seinen berühmt-berüchtigten Castingblick auf, um neue Schauspieltalente zu entdecken. Konfession, Herkunft oder Status spielen für ihn dabei keine Rolle. Er habe immer nur das Beste fürs Theater im Sinn. Und dazu gehört für den nach eigenen Angaben „durch und durch katholischen“Urbayern auch eine Reise zusammen mit seinen Hauptdarstellern nach Israel. An den Originalschauplätzen und in Gesprächen mit Rabbinern will Stückl für sich und sein Team die Figur Jesus Christus greif- und begreifbar machen. Und später auch dem großen Publikum, das aus der ganzen Welt alle zehn Jahre nach Oberammergau kommt, um Stückls Passion zu sehen.
Noch heute spalte ich das Dorf. Die eine Hälfte liebt mich und meine Arbeit, die andere würde mich gern zum Teufel jagen. Christian Stückl