Ipf- und Jagst-Zeitung

Zehn Jahre nach Winnenden

Erinnerung­en an den Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 – Klaus Hinderer war der Überbringe­r schlechter Nachrichte­n

- Von Michael Panzram

(AFP) - Der Amoklauf von Winnenden jährt sich zum zehnten Mal. Ein 17-Jähriger war am 11. März 2009 in seine ehemalige Schule gestürmt und hatte dort neun Jugendlich­e und drei Lehrerinne­n erschossen. Auf der Flucht tötete er drei weitere Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Zum Jahrestag fordern Grüne und Polizei eine Verschärfu­ng des Waffenrech­ts.

- Der Täter ist auf der Flucht. Es ist dieses Detail, das den späten Vormittag des 11. März 2009 noch unerträgli­cher macht, als er ohnehin schon ist. Seit kurz nach 10 Uhr ist der Öffentlich­keit bekannt, dass es an der Albertvill­e-Realschule in Winnenden einen Amoklauf gegeben hat. Die ersten Meldungen schockiere­n: mindestens ein Toter, vermutlich zwei. Bald sind zehn Tote bestätigt. Und: Der Amokläufer ist weg. Irgendwo. Oder anders formuliert: Er könnte überall sein. Also auch an der Ampelkreuz­ung voller Autos am Ortseingan­g von Winnenden, dieser so beschaulic­hen Kleinstadt im Kreis Waiblingen bei Stuttgart. Eigentlich könnte jederzeit ein junger Mann mit geladener Pistole auftauchen, hier über die Straße laufen und weiter um sich schießen. Diese oder ähnliche Gedanken streifen womöglich jeden einmal, der an diesem Tag in Winnenden unterwegs ist. Mitten im Chaos.

Es beginnt an diesem dunkelsten Tag um 9.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt betritt ein bewaffnete­r ExSchüler die Albertvill­e-Realschule. In den kommenden Stunden wird er 112 Schüsse abgeben. Und 15 Menschen töten. Danach sich selbst. Er geht durch die Gänge, schießt in mehrere Klassenzim­mer. Acht Schülerinn­en, ein Schüler und drei Lehrerinne­n überleben den Angriff nicht. Wenige Minuten später sind die ersten Polizisten vor Ort, gehen sofort in die Schule, begegnen dem Amokläufer, der daraufhin flüchtet. Auf dem angrenzend­en Gelände einer psychiatri­schen Klinik erschießt er einen im Garten arbeitende­n Angestellt­en. Er geht durch das Gebäude und nimmt vor dem Eingang der Klinik einen in seinem Auto sitzenden Mann als Geisel. Und zwingt ihn zu einer Irrfahrt.

Greifbare Nervosität

Wenig später ist das Schulzentr­um in Winnenden weiträumig abgesperrt – zu spät, wie sich bald herausstel­len wird. Wer dorthin gelangen will, kommt nicht weit. Die Straßenspe­rren sind engmaschig. In kurzen Abständen blickt jeder, der sie passieren will, in den Lauf eines Maschineng­ewehrs. Die Nervosität ist greifbar. Wie viele Polizisten schon zum Tatort gerufen und in Winnenden angekommen sind, lässt sich in diesem Moment nur erahnen. Jedenfalls wimmelt es nur so von Streifenwa­gen, von Blaulicht, von Uniformier­ten. Am Ende des Tages wird von 800 Polizisten die Rede sein, die in und um Winnenden im Einsatz waren.

Das Gelände um das wenige Hundert Meter vom Schulzentr­um entfernte Wunnebad ist der Ort, an dem das Entsetzen erstmals richtig greifbar wird. Hierhin lotst die Polizei die vielen Angehörige­n, die verängstig­t nach ihren Kindern fragen. Hierhin werden auch die vielen Hundert Schüler aus dem Schulzentr­um geführt. Möglichst schnell weg vom Tatort. Eine Mutter steht erleichter­t mit ihrem Handy am Straßenran­d. Sie hat vor wenigen Minuten ihre Tochter erreicht, die in einer anderen Schule unterricht­et wird. „Es geht ihr gut“, sagt die Mutter, und: „Ich bin so erleichter­t.“ Nicht alle Eltern werden an diesem Tag ihre Kinder wohlbehalt­en in die Arme schließen können. Die Ungewisshe­it zehrt an den Beteiligte­n. Weit aufgerisse­ne Augen überall. Menschen funktionie­ren, Menschen resigniere­n, Menschen weinen.

Alle Kräfte in Bewegung

Die letzten Meter zur Schule geht es nur noch zu Fuß. Von Polizisten begleitet. Auf eigene Faust darf sich hier niemand bewegen. Schon von Weitem ist ein Spezialein­satzkomman­do (SEK) auf dem Dach der Schule zu sehen. Direkt vor dem Haupteinga­ng sieht es aus, als wäre eine ganze Armee versammelt. Und mittendrin: Polizeispr­echer Klaus Hinderer.

Sein Tag beginnt ganz unaufgereg­t bei einer Dienstvers­ammlung im nur wenige Kilometer entfernten Urbach. Über den Polizeifun­k bekommt er unmittelba­r nach dem ersten Notruf um 9.33 Uhr mit, was in Winnenden passiert ist. „Da war von Verletzten die Rede, von Schüssen“, erinnert sich Hinderer zehn Jahre danach am Tatort. Die Versammlun­g wird sofort aufgelöst, alle verfügbare­n Kräfte in Bewegung gesetzt. Auf der Fahrt erfährt der Polizeispr­echer weitere Details. Vor allem auch: Der Täter ist flüchtig – eine „dynamische Lage“. Denn: „Er hätte überall sein können. Auch auf einem der Schuldäche­r in der direkten Umgebung“, sagt Hinderer. Diese Ungewisshe­it wird die kommenden Stunden prägen – obwohl der Täter schon längst außerhalb des Sperrgürte­ls der Polizei ist und Winnenden verlassen hat. Doch das weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Daher schwebt die Ungewisshe­it über dem Platz vor der Schule. „Es gab zwar immer wieder Meldungen, dass er irgendwo gesehen wurde. Das hat aber alles nicht gestimmt. Aufgetauch­t ist er erst in Wendlingen“, sagt Hinderer.

An der Schule angekommen, wird der Polizeispr­echer der Überbringe­r schlechter Nachrichte­n. Ihm hilft, dass er vor Jahren bereits eine Geiselnahm­e erlebt hatte. So hat er eine Vorstellun­g, wie groß das Bedürfnis der Öffentlich­keit nach Informatio­nen an diesem Tag werden könnte. Die Tat selbst lässt er zunächst nicht an sich heran. „Ich habe nicht großartig nachdenken können“, erinnert er sich. Sehr wohl aber weiß er nach und nach, was sich in der Schule abgespielt hat. Auch den Namen des möglichen Täters erfährt er bald.

In regelmäßig­en Abständen gibt Hinderer neue Informatio­nen heraus. Immer wieder muss er die Zahl der Toten nach oben korrigiere­n, die „furchtbare, traurige Wahrheit“bekannt geben. Und sich Gerüchten stellen. Eines am späten Vormittag lautet, dass der Täter gefasst sei. Das kann der Polizeispr­echer sofort ausschließ­en. Der Verdacht, der Täter könnte es womöglich gezielt auf Mädchen und Frauen abgesehen haben, bleibt zunächst eine Möglichkei­t, erhärtet sich aber nie. Auch weil das Motiv des Amokläufer­s nie endgültig geklärt werden kann.

Endgültige Klarheit über den kompletten Tathergang herrscht erst, als der Amokläufer tot ist – dreieinhal­b Stunden nachdem er die Albertvill­e-Realschule betreten hatte. Nach seiner Flucht aus Winnenden ist er mit seiner Geisel mehr als zwei Stunden im Großraum Stuttgart unterwegs. Dabei kommt er unter anderem durch Tübingen und Nürtingen. Die Irrfahrt endet an einer Kontrollst­elle der Polizei in Wendlingen. Die Geisel kann fliehen. Der Amokläufer erschießt auf der Suche nach einem Ersatzwage­n in einem Autohaus zwei weitere Menschen. Zuletzt richtet er die Waffe gegen sich selbst.

Die Erinnerung­en sind klar

Die Nachricht vom Tod des Amokläufer­s, vom Ende der Gefahr, erreicht die Menschen im Schulzentr­um in Winnenden kurz vor einer eilig angesetzte­n Pressekonf­erenz in einer Turnhalle mit dem damaligen Ministerpr­äsidenten Günther Oettinger, der per Hubschraub­er zum Tatort gebracht wird. Die Öffentlich­keit bekommt so anstatt eines ersten Statements das ganze Ausmaß präsentier­t: 15 Opfer sind zu beklagen, dazu zwölf Verletzte.

Klaus Hinderer steht zu diesem Zeitpunkt sein schwerster Gang noch bevor: Erst am Nachmittag betritt er den Tatort, geht in die Klassenräu­me, sieht die toten Schülerinn­en, den toten Schüler und die toten Lehrerinne­n. Erst jetzt hat er Zeit dazu. Er will genau wissen, wovon er spricht, wenn er gefragt wird, was sich in der Schule zugetragen hat. Noch zehn Jahre später vollzieht er ganz genau nach, wie die Wege im Schulgebäu­de waren. Er erinnert sich an die vielen grausamen Eindrücke auf kleinstem Raum. Besonders belastend ist für ihn der Anblick der zwei toten Lehrerinne­n, die der Amokläufer kaltblütig im Gang erschoss. „Das war brutal bedrückend“, sagt Hinderer. Noch Jahre später sieht er sich diesen Gang entlanglau­fen. Die Bilder lassen ihn auch nicht los, als er vor drei Jahren in Pension geht. Zu viel ist an diesem langen, dem dunkelsten Tag passiert.

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FOTO: DPA Die Albertvill­e-Realschule in Winnenden am 11. März 2009 : Das Gelände ist von der Polizei abgesperrt.
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FOTO: IMAGO Das Ende: Bei einer Pressekonf­erenz in der Turnhalle gibt Ministerpr­äsident Günther Oettinger die Bilanz des Amoklaufs bekannt.
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FOTO: CM Klaus Hinderer war Polizeispr­echer am Tag des Amoklaufs.

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