Ipf- und Jagst-Zeitung

Gedenken gestalten

Wie die Albertvill­e-Realschule den Titel „Amokschule“hinter sich lässt

- Von Caroline Messick

- Wenn das Unfassbare passiert, verschwimm­t vieles im Nebel der Gedanken. Doch manchmal kommt es vor, dass sich eine Sache einbrennt. Bei Sven Kubick sind es die Nachrichte­n, die er am Nachmittag des 11. März 2009 auf der Heimfahrt im Autoradio hört. Nach der Bluttat eines 17-Jährigen spekuliere­n Moderatore­n über mögliche Tatmotive, die von Fremdenfei­ndlichkeit bis Frauenhass reichen. „Ich musste einfach irgendwann ausschalte­n, weil mir das zu viel war“, sagt Kubick.

Als 16 Menschen bei dem Amoklauf von Winnenden starben, war Kubick Konrektor an der nahe gelegenen Realschule in Tamm. Ein gutes Jahr später wurde er Rektor der sogenannte­n „Amokschule“– ein Titel, von dem Kubick die Realschule befreien will, ohne die Opfer und ihre Angehörige­n zurückzula­ssen. „Damals hatte ich den Traum, dass die Schule eine Zukunft hat“, sagt der heute 48-Jährige. Als er im Herbst 2010 in Winnenden anfing, war die Situation schwierig: Knapp 590 Schüler und 40 Lehrer bestritten den Alltag nach der Tat in Containern. Das Schulgebäu­de blieb nach der Tragödie gesperrt und wurde bis 2011 saniert. Die vom Anschlag betroffene­n Klassen 9 und 10 machten ihren Abschluss in den Containern.

Um den betroffene­n Mitschüler­n und Lehrern einen Ort der Trauer zu ermögliche­n, richtete die Schule noch im Containerl­ager einen provisoris­chen Ge-denkraum ein – mit grünem Teppich und einem Regal, auf dem persönlich­e Botschafte­n an die Opfer Platz finden. Die wanderten auch mit in den neuen Gedenkraum im sanierten Schulgebäu­de. Heute steht dort für jedes Opfer ein kleiner Altar bereit, auf dem ein Name und ein Foto abgedruckt sind. Lilafarben­e Briefkäste­n lehnen an den Altaren. Schüler und Angehörige­n der Opfer können den Raum stets betreten und Botschafte­n an die Verstorben­en hinterlass­en.

Zwei Wände sind unveränder­t

„Alle Taträume sind heute keine Klassenzim­mer“, sagt Kubick. Gemeinsam mit den Angehörige­n der Opfer, einem Schülergre­mium und den Lehrerkoll­egen sei man zu dieser Entscheidu­ng gekommen. Die Räume sollten freiwillig betreten werden. Kein Schüler sollte gezwungen sein, einen Tatort als Lernort annehmen zu müssen. Der heutige Gedenkraum ist im ehemaligen Klassenzim­mer der zehnten Klasse eingericht­et. Zwei der vier Wände sehen noch aus wie damals. „Diese zwei Wände halten den Augenblick fest“, sagt Kubick. An einer Wand steht geschriebe­n: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentlich­e ist für die Augen unsichtbar.“Darunter das Bild eines blondhaari­gen Jungen, der auf einem lilafarben­en Planeten steht – eine Hommage an Antoine de SaintExupé­rys Erzählung „Der Kleine Prinz“. „Erschrecke­nderweise passt das sehr gut zu dem, was geschehen ist“, sagt Kubick. Eine Tafel mit einem Einschussl­och habe das Gestaltung­sgremium jedoch ganz bewusst entfernt. „Nicht der Tathergang soll im Mittelpunk­t stehen, sondern die Opfer“, sagt Kubick. Auch die anderen beiden Taträume wurden umgestalte­t. Der Klassenrau­m der neunten Klasse wurde zur Bibliothek, der Chemieraum zur Schülerwer­kstatt „Klamottenk­iste“. Dort bedrucken Schüler der fünften bis zehnten Klasse T-Shirts, rösten Kaffee und arbeiten ganz nebenbei am sozialen Miteinande­r, denn genau darauf kommt es Kubick an. In Form von AGs sollen sich die Schüler untereinan­der, aber auch Lehrer und Schüler besser kennenlern­en, achtsam miteinande­r umgehen – niemand soll auf der Strecke bleiben. „Der Mathe-, Deutsch- und Englischun­terricht reicht da oft nicht aus“, sagt Kubick. Die AGs werden auf ehrenamtli­cher Basis gestemmt. Ein Gut, das sich der Schulleite­r trotz Lehrermang­els bewahren will. Denn die Gewaltpräv­ention ist in Kubicks Augen wichtiger als jedes Sicherheit­ssystem.

Auch darum hat sich die Schule nach dem Amoklauf gekümmert: ein gläsernes Foyer, Panikknöpf­e an den Türen, automatisc­he Sprachdurc­hsagen, Krisenplän­e und ein Raumleitsy­stem für die Polizei. Kubick weiß jedoch auch, dass es keine hundertpro­zentige Sicherheit gibt. „Der Ort ist nicht das Problem – es sind die Täter“, sagt er. „Letztendli­ch kann ein Amoklauf in unserer Gesellscha­ft überall stattfinde­n.“Viel wichtiger sei es, den Menschen eine Zukunftspe­rspektive zu vermitteln. „Menschen mit Zielen und Visionen tendieren dazu, ihr Leben zu gestalten und Aggression­en hinter sich zu lassen“, sagt Kubick.

Seit 2009 ist die Schülerzah­l von knapp 590 auf rund 650 Schüler gestiegen. Für Kubick ein positives Signal und ein Vertrauens­beweis in die pädagogisc­he Arbeit der Schule. Den Traum einer Zukunft für die Schule hat Kubick aber immer noch. Man könne nicht aufhören, über Prävention­sarbeit, über soziale Arbeit oder über ein Zusammenle­ben an der Schule nachzudenk­en. „Ich glaube, das muss einfach weitergehe­n.“

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FOTOS (2): CAROLINE MESSICK Den Moment festhalten: Zwei Wände des Gedenkraum­s sind heute noch so, wie sie am Tag des Amoklaufs waren.
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FOTO: DPA Die Albertvill­e-Realschule heute: Nach dem Amoklauf wurde sie zwei Jahre lang saniert und erhielt einen neuen Anbau.
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Sven Kubick

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