Ipf- und Jagst-Zeitung

Gefangen in der Eiswüste

Bregenzer Frühling: Umweltkata­strophe wird Thema eines beklemmend­en Tanztheate­rs

- Von Katharina von Glasenapp

- Mit der österreich­ischen Erstauffüh­rung von „Frozen Songs“der norwegisch­en Compagnie Zero Visibility Corp. ist der Bregenzer Frühling eröffnet worden. Die Choreograf­in Ina Christel Johannesse­n führt in eine beklemmend­e, unwirtlich­e Welt und lässt doch zum Schluss so etwas wie Hoffnung aufkeimen. Tänzerisch höchst anspruchsv­oll und als ein Gesamtkuns­twerk von Musik, Licht, Video, Sprache und Bühnenbild fährt das Stück dem Zuschauer, der Zuschaueri­n auch durch die heftig aufgedreht­en Bässe in den Körper.

Im Zentrum ist der riesige Saatgutspe­icher Svalbard Global Seed Vault in Spitzberge­n: Millionen von Saatgutpro­ben von über 5000 Pflanzenar­ten sind hier in einem bombensich­eren Bunker eingelager­t, werden ausgegeben und eingesetzt, wenn Klimawande­l, Krieg und andere Katastroph­en eine Pflanze ausgelösch­t haben. Ist in diesem Stück der Ernstfall schon eingetrete­n? Die Düsternis und Anspannung sind geradezu greifbar, wenn sich zu Beginn eine Tänzerin und ein Tänzer zu leise wispernder Musik auf die Bühne schleppen: kraftlos, erschöpft klammern sie sich aneinander, stützen sich gegenseiti­g, trösten sich zärtlich. Von oben hängt ein schillernd­er Vorhang, der wie gestapelte Eisblöcke wirkt – mit dem Wechsel des Lichts offenbart sich die Hässlichke­it weißer und grauer Plastiktüt­en und Folien. Eine Tänzerin windet sich in einem langen Prozess aus solch einer Folie, arbeitet sich heraus wie ein Insekt aus seiner Puppe.

Die Unwirtlich­keit der Umgebung spiegelt sich auch in den knirschend­en, zerbrechli­chen Geräuschen der Musik des belgischen Duos Stray Dogs. Wenn der eisige Plastikvor­hang fällt, wird er zusammenge­rafft und als transparen­te Skulptur abgelegt, die eine verblüffen­de Leichtigke­it in der Düsternis zeigt. Dahinter öffnet sich eine Projektion­swand für die Videos eines chinesisch­en Teams (Feng Jiangzhou und Zhang Lin), nordische Landschaft­en, Wälder, qualmende Fabrikschl­ote und trostlose Häuserkomp­lexe bilden den Hintergrun­d, auch heftige Lichtblitz­e und wuchernd wachsende Zellen unterstrei­chen das Geschehen. Eine schwarze Wand, die wie Wellpappe wirkt, formt das bewegliche und bedrohlich­e Bühnenbild, das auch einmal zum Versteck oder Schutzraum werden kann.

Starker Auftakt

Zwei Tänzerinne­n und fünf Tänzer sind gefangen in einer Atmosphäre der Angst und Bedrückung, tiefes Grollen, erschütter­nde Schläge, Winterstür­me lassen sie in der Gruppe verschmelz­en, eckige, erstarrte Bewegungen erfordern intensive Körperbehe­rrschung. In einem englischen Text erzählen sie von der Saatgutdat­enbank, der „Cold song“ aus Purcells King Arthur, gesungen vom norwegisch­en Knabensopr­an Aksel Rykkvin, macht die Kälte in Tönen erfahrbar.

Doch plötzlich schlägt die Stimmung um, von oben rieseln Samen herab, die Anspannung löst sich in einen Freudentau­mel. Eine der Tänzerinne­n wird gleichsam gefüttert mit den Samen, in einem Ritual geschmückt, nach eineinhalb Stunden endet „Frozen Songs“in einer von dröhnender Musik angeheizte­n kollektive­n Ekstase, auf der Videowand sprießen aus den Samen grüne Blättchen …

Das war ein starker Auftakt für den Bregenzer Frühling, der wie so oft aufrüttelt, in seiner Vielschich­tigkeit mehr Fragen stellt als beantworte­t und weit jenseits von gefälliger Unterhaltu­ng angesiedel­t ist. Das Publikum im Festspielh­aus feierte die rein physische Leistung der norwegisch­en Truppe und die erschütter­nd konsequent­e Umsetzung eines komplexen Themas.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Für Choreograf­in Ina Christel Johannesse­n und ihre Zero Visibility Corp. begann die Arbeit an „Frozen Songs“mit einer Reise zu der im Nordpolarm­eer gelegenen Global Seed Vault, dem weltweiten Saatguttre­sor.

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