Was geschah nach der „Dämonenaustreibung“?
Im Berufungsfall der toten Wilhelmsdorferin fordert die Staatsanwaltschaft in Frauenfeld eine höhere Strafe, die Verteidigung will eine niedrigere
- Es war eine „Dämonenaustreibung“, an deren Folgen Vanessa W. aus Wilhelmsdorf im Landkreis Ravensburg gestorben ist: An dieser Überzeugung hielt die Staatsanwaltschaft Kreuzlingen im Berufungsverfahren am Mittwoch vor dem Obergericht Frauenfeld im schweizerischen Thurgau fest. Überzeugt ist die Staatsanwaltschaft auch davon, dass der schuldige Vater Klaus S. seine Tochter auch geschändet und ihren Totenfrieden gestört hat. Deswegen sei die Haftstrafe, die das Bezirksgericht Frauenfeld vor einem Jahr verhängt hatte („Böse Geister“/„Schwäbische Zeitung“am 10. März 2018), zu niedrig. Sie hält am Antrag auf eine 14-jährige Freiheitsstrafe fest.
Klaus S., der aus Leutkirch im Allgäu kommt und in Deutschland mehrfach vorbestraft ist, war wegen eventualvorsätzlicher Tötung zu neun Jahren Haft plus Schmerzensgeld verurteilt worden. Nach Schweizer Recht liegt dann ein Eventualvorsatz vor, wenn ein Täter bei seinem Handeln den Tod als möglich erachtet und ihn billigend in Kauf nimmt, ihn aber nicht beabsichtigt. Außer der Staatsanwaltschaft ging auch die Verteidigung in Berufung; sie fordert eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren.
Was ist in der Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Wagenhausen im schweizerischen Kanton Thurgau wirklich passiert? Es bleibt wohl das Geheimnis von Klaus S.. Fest steht, dass Vanessa W. an schweren inneren Verletzungen starb, die ihr von ihrem Vater zugefügt wurden. In den späten Abendstunden des 2. Januar 2016 war sie zusammen mit ihm in der Wohnung ihres ehemaligen Freundes in der Schweiz. Den Ausführungen der Staatsanwaltschaft zufolge glaubte der Vater, sie sei von einem Dämon besessen gewesen, weil sie sich ein Kind von ihrem ExFreund wünschte. Schon vor der Reise in die Schweiz war es in Wilhelmsdorf zu einem Streit zwischen den beiden gekommen, der in Wagenhausen in einer „Dämonenaustreibung“gipfelte.
Eine tödliche „Massage“
Die kleinwüchsige und lernschwache 25-Jährige ließ sich überzeugen, sich einer „Massage“mit den Füßen zu unterziehen. In erster Instanz war deutlich geworden, dass der 51-Jährige mit den Füßen und seinem ganzen Körpergewicht auf die junge Frau eintrat. Die Beschreibung seines Vorgehens, die Art der inneren Verletzungen und die Fotos der mit Hämatomen übersäten Leiche lassen auf ein Martyrium schließen. Nach der „Behandlung“brach Vanessa in der Dusche bewusstlos zusammen.
Was danach geschehen war, war einer der fraglichen Punkte, um die es im Berufungsverfahren ging. Zweifelsfrei hat Klaus S. die Frau mit seinen Fingern penetriert und begonnen, sie zu stimulieren. Dabei hat er sie mit seinem Ring innerlich verletzt. Er sei der Überzeugung gewesen, so ihr Basis-Chakra im Beckenboden zu stimulieren und sie so zu reanimieren, hieß es. Der Mann bewegte sich in der Mittelalterszene und hat einen Hang zum Okkultismus. Er sei von seiner Methode überzeugt gewesen, auch wenn mit dieser Stimulation Erfolge nicht möglich beziehungsweise nicht bewiesen sind. „Das war der einzige Grund, sexuelle Motive lagen zu keinem Zeitpunkt vor“, argumentierte Verteidiger Daniel Christen.
Die erste Instanz war unter Berücksichtigung eines forensischen Gutachtens zur selben Ansicht gelangt und hatte Klaus S. im März 2018 von der Schändung und von der Störung des Totenfriedens freigesprochen. „Das ist eine reine Schutzbehauptung“, sagte hingegen Staatsanwalt Marco Breu am Mittwoch. Der Vater „hätte durchaus andere Handlungsmöglichkeiten gehabt. Er hätte den Rettungsdienst und/oder die Nachbarn zur Hilfe rufen können“. So hatte es ihm auch der ehemalige Freund von Vanessa W. in einem Chat geraten. Er war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Wohnung. Weiterhin im Dunkeln bleibt auch, was es mit dem Holzknebel auf sich hatte, den der Vater dem leblosen Körper seiner Tochter zwischen die Zähne geklemmt hatte. Die Staatsanwaltschaft sagt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits die Totenstarre eingesetzt hatte, weswegen der Totenfrieden gestört worden sei. Die Verteidigung hingegen bleibt dabei: „Er tat das zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs und nicht nach dem Tod.“So habe er verhindern wollen, dass die Tochter ihre Zunge verschluckt.
Christen sagte in seinen Ausführungen außerdem, das Bezirksgericht habe in seinem Urteil inkonsequent argumentiert. Es habe ein sehr schweres Verschulden angenommen, es sei aber nur von einem leichten bis mittleren Verschulden auszugehen. Er bezog sich auf Schweizer Rechtsprechung, die in solchen Fällen fünfeinhalb Jahre ansetze. Seinem Mandanten „tut es von Herzen leid“, er habe sich entschuldigt, und das sei nicht genügend gewürdigt worden. „Der Vorwurf, dass er nicht geweint hat, ist klar polemisch.“Er habe auch das Schmerzensgeld bezahlt und den Schuldpunkt akzeptiert.
Klaus S., neben dem Kantonspolizisten sitzend, schwieg während der Verhandlung. Scheinbar abwesend – wie schon vor einem Jahr mit leicht angedeutetem Lächeln – blickte er auf das Gericht. Zu Beginn und am Ende erteilte ihm Obergerichtspräsidentin Anna Katharina Glauser Jung jeweils das Wort. Ob er etwas erklären wolle? „Im Moment g’rad nicht. Nein.“
Das Urteil wird in den nächsten Tagen nicht öffentlich gefällt. Erfahrungsgemäß kann es bis zur Urteilsmitteilung durch das Obergericht bis zu zwei Monaten dauern.