Provokationsprofis
Rammstein gießen auch auf der neuen CD Öl ins Feuer
RAVENSBURG - „Säääääääcks, hahaha ja“tönt Till Lindemann in seiner unverkennbaren Berserker-Stimmlage. Hui, wie provokant, er hat Sex gesagt. Zuvor trifft im Songtext James Bond auf den Karnevals-Schunkelrock der Höhner: „Wir leben nur einmal / wir lieben das Leben.“Der Song „Sex“offenbart das Dilemma, vor dem die Berliner Brachialrocker mit ihrem schlicht „Rammstein“betitelten Album stehen, das heute erscheint. Es ist das erste Studioalbum seit 2009 – und nun stellt sich die Frage: Wie soll man noch provozieren im Jahr 2019? Im Videoclip zu „Pussy“rammelten die sechs Männer 2009 durch die Gegend, ihre Köpfe digital auf die Körper realer Darsteller montiert. Der Clip feierte auf einem Pornoportal Premiere. Schwer zu toppen. Noch dazu in Zeiten, in denen die Rap-Megaseller Kollegah und Farid Bang mit ihrer heftig kritisierten Auschwitz-Textzeile den Echo auf dem Gewissen haben.
Griff in die Mottenkiste
Bleibt scheinbar nur der Rückgriff auf vergangene Zeiten. Eine Woche vor der Veröffentlichung des siebten Studioalbums, dessen Front ein Streichholz auf weißem Hintergrund zeigt, kramten Rammstein ihr 1998 erstmals veröffentlichtes Video zur Depeche-Mode-Coverversion „Stripped“wieder hervor und luden den Clip erneut auf ihrem offiziellen YouTube-Kanal hoch. Der deutsche Opern- und Filmregisseur Philipp Stölzl – der übrigens dieses Jahr Verdis „Rigoletto“auf der Bregenzer Seebühne inszeniert – unterlegte die schroffen Gitarrenklänge damals mit Szenen aus Leni Riefenstahls Nazi-Propagandafilm „Olympia – Fest der Völker“über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Eine hitzige Debatte über die Grenzen der Kunstfreiheit kam ins Rollen – und lieferte all jenen Munition, die Rammstein in die rechte Ecke rückten und den Musikern auch schon zuvor das Spiel mit faschistoider Ästhetik vorgeworfen hatten. In einem offiziellen „Making of“, das ebenfalls jetzt am 10. Mai hochgeladen wurde, bekennt Gitarrist Paul Landers: „Hinter dem Video steh ich heute noch.“Sein Gitarrenkollege Richard Kruspe ergänzt: „Ich finde es ein wunderschönes Video.“Regisseur Stölzl stellt fest, der Grusel gehöre zum düsteren „Rammstein-Gefühl“ dazu, „Stripped“passe da gut rein. Was reitet diese Band, die immer genervt auf Nazi-Vorwürfe reagierte, ausgerechnet diesen Clip aus der Mottenkiste zu holen?
In Zeiten sozial-medialer Kurzatmigkeit fangen Rammstein gar nicht erst an, als Appetithäppchen auf YouTube Einblicke in die Studioarbeit zu geben im Gegensatz zu vielen anderen Bands. Schon vor Erscheinen der ersten Single „Deutschland“am 28. März gab es einen Riesenrummel: Rammstein hatten eine 36-sekündige Vorschau veröffentlicht, in der die Bandmitglieder als KZ-Häftlinge verkleidet zu sehen waren. Das löste weltweit Empörung aus. Den Song selbst konnte man dann als Absage an Nationalstolz verstehen: „Deutschland – meine Liebe kann ich dir nicht geben“, singt Lindemann da. Die Single ging in den Charts auf Platz eins, doch schon die zweite Auskopplung „Radio“schnitt schwächer ab.
Es brauchte also wohl nochmal einen kalkulierten Tabubruch, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Was liegt da näher, als den größten Skandal der Bandgeschichte nochmal aufleben zu lassen? Die Musiker müssen sich vorwerfen lassen, das Spiel mit der NS-Ästhetik als billige Marketingstrategie zu nutzen.
Profis in Sachen Eigen-PR
Provokation gehörte von Beginn an zu Rammstein, deren Mitglieder in DDR-Punkbands wie Feeling B und First Arsch ihre ersten musikalischen Schritte machten. Wenn es darum geht, sich ins Gespräch zu bringen, sind Rammstein Profis, ob auf dem 1995er-Debüt „Herzeleid“mit Zeilen wie „Rammstein – ein Mensch brennt“oder neun Jahre später mit „Mein Teil“, einem Song über den Kannibalen von Rotenburg samt dazugehörigem Skandalvideo.
Das Zeug zum Schocker hat auf dem siebten Studioalbum vielleicht gerade noch „Puppe“, ein Song, in dem die Band Till Lindemanns Gedicht (ja, Dichter ist er auch) „Wenn Mutti spät zur Arbeit geht“recycelt. Hier ist es der kleine Bruder, der in sein Zimmer gesperrt wird, während sich seine Schwester nebenan prostituiert und dann von einem Freier getötet wird. „Dann reiß ich der Puppe den Kopf ab, ich beiß der Puppe den Hals ab, es geht mir nicht gut“, brüllt Lindemann und offenbart mit körperlicher Wucht eine neue stimmliche Facette. Währenddessen zollt der Background-Gesang Drafi Deutscher Tribut: „Dam-dam“. Doch das Provokationspotenzial der Songs (es sind wie immer auf den Studioalben elf an der Zahl) ist auch deshalb begrenzt, weil vieles inzwischen bürgerliche Mitte schreit: Ein Song über Tätowierungen mit Textzeilen wie „Wenn das Blut die Tinte küsst, wenn der Schmerz die Haut umarmt“ist heute, da Hautgemälde längst nicht nur mehr Seeleute und Kriminelle zieren, sondern auch Verwaltungsfachfrauen und Buchhalter, nur bedingt spannend. „Zeig dich“, ein Song über Kindesmissbrauch in der Kirche (wie schon das 2001er „Halleluja“), klingt mit seinem Rezept „Gregorianischer Chor trifft auf harte Gitarren“nicht nur musikalisch nach vorgestern. Kirchenkritik ist inzwischen sowas von Mainstream, wenn selbst Papst Franziskus Päpste und Bischöfe als „Menschenschinder“bezeichnet – wen soll das schocken?
Beamtenhafte Korrektheit
Apropos massentauglich: Mit beinah schon beamtenhafter Korrektheit liefern Rammstein musikalisch genau das, was die Fans erwarten. Die bewährte Mischung aus monolithischen Gitarren, Dampfhammerrhythmen und mal hibbeligen, mal ominösen Keyboardspielereien von Tastenmann Flake. Alles bombastisch produziert, bestens verzahnt im Zusammenspiel, aber eben auch maximal vorhersehbar. Dienst nach Vorrrschrift sozusagen. Das ironisch Erwartungen brechende „Ausländer“ist da mit seinem Mix aus IbizaDiscobeat und zackigen Gitarren eine angenehme Überraschung. Wer sich schon bisher für Rammstein begeistern konnte, der wird mit dem neuen Album jedenfalls gut bedient. Es würde verwundern, wenn es nicht an die Spitzenposition der Charts stürmte.
Was ist das also? Kunst? Kommerz? Kasperletheater für Erwachsene? „Frag nicht nach dem Sinn“heißt es symptomatisch in „Hallomann“. Alles nicht so ernst nehmen am Ende? Nun ja: Rammstein sind mit mehr als 20 Millionen weltweit verkaufter Tonträger einer der erfolgreichsten deutschen Musikexporte. Globetrotter berichten gern, dass international immer zwei Namen fallen, wenn es um Musik aus Deutschland geht: die Scorpions und Rammstein.