Ipf- und Jagst-Zeitung

„Das Böse ist der Preis des freien Willens“

Der Psychiater Reinhard Haller über Mängel im Maßregelvo­llzug, die Ängste forensisch­er Gutachter und die Schattenwe­lt des Menschen

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FELDKIRCH - Reinhard Haller aus Feldkirch (Vorarlberg) zählt zu den renommiert­esten Gerichtsgu­tachtern im deutschspr­achigen Raum. Der 67-Jährige hat unter anderem Gutachten beim Amoklauf von Winnenden erstellt, über den Bombenatte­ntäter Franz Fuchs und über den mutmaßlich­en Serienmörd­er Jack Unterweger. Außerdem ist Haller erfolgreic­her Buchautor mit Werken wie „Die Seele des Verbrecher­s“oder „Die Narzissmus­falle“. Mit Dirk Grupe sprach er unter anderem über Verbesseru­ngsmöglich­keiten beim Maßregelvo­llzug, an dem es in Baden-Württember­g nach verschiede­nen Ausbrüchen zuletzt vermehrt Kritik gegeben hat.

Herr Haller, ob ein Straftäter ins Gefängnis muss oder alternativ in die Psychiatri­e, hängt maßgeblich von dem entspreche­nden Gutachten ab. Für ihren Berufsstan­d eine Gratwander­ung?

Die Abgrenzung ist in der Tat schwierig: Was ist jetzt eine psychische Störung, was eine psychische Abnormität, was ein kriminelle­s Potenzial? Und wie schwer ist eine Störung ausgeprägt, ist sie behandlung­sbedürftig oder nicht – da haben wir große Probleme. Da scheiden sich die Geister. Viele Psychiater sagen, für eine rein soziopathi­sche Störung ist die Justiz zuständig, derjenige gehört bestraft und ins Gefängnis. Eine andere Gruppe in der Psychiatri­e sagt, wir können im Prinzip alles heilen. Meines Erachtens ein überzogene­r Behandlung­sanspruch. Aber die Grenze zu ziehen, das ist extrem schwierig.

Was sicher nicht leichter wird, wenn der Betroffene unter Einfluss von Suchtmitte­ln stand, oder?

Wenn jemand im Zusammenha­ng mit Suchtmitte­ln, Alkohol, Drogen oder Medikament­en straffälli­g wird, herrscht in den meisten europäisch­en Staaten das Prinzip Therapie statt Strafe. Das ist meines Erachtens auch kein wirklich realistisc­her Ansatz. Viele Straftäter nehmen Suchtmitte­l, ohne dass dies der entscheide­nde Faktor für die Tat ist.

Eine andere Frage ist, welche Täter kommen in den Maßregelvo­llzug und welche nicht?

Das ist genauso ein Riesenprob­lem. Auf der einen Seite hat die Bevölkerun­g ein immer höheres Sicherheit­sbedürfnis, und auf der anderen Seite weiß man aus allen Untersuchu­ngen, dass mindestens 50 Prozent von denen, die im Maßregelvo­llzug sind, gar nicht gefährlich sind. Diese Quadratur des Kreises ist natürlich nicht zu schaffen.

Reinhard Haller über die Straffälli­gen

Nach welchen Kriterien entscheide­n Sie letztlich?

Die Frage, ob jemand eine Therapie braucht, lässt sich nach klinischen Gesichtspu­nkten entscheide­n. Also ob jemand nur gelegentli­ch Drogen nimmt und ob das zu seinem gesamten kriminelle­n Lebensstil dazugehört, oder ob er wirklich süchtig ist im Sinne einer richtigen Abhängigke­it. Aber ich meine, der Ansatz müsste so sein, auch den Straftäter­n im normalen Vollzug eine Therapie zu ermögliche­n, was ja viel zu kurz kommt, zum Beispiel bei Sexualstra­ftätern.

In Baden-Württember­g gab es zuletzt Ausbrüche von Straftäter­n aus der Forensik, deren Suchtthera­pie zum Teil zuvor schon nicht reibungslo­s verlief. Wie groß ist bei dieser Klientel überhaupt die Chance, dass beim zweiten oder dritten Versuch die Therapie anschlägt?

In der Suchtthera­pie besteht generell das Problem, dass der Betroffene kein Krankheits­gefühl hat und keine Krankheits­einsicht. Im Zusammense­n, hang mit Straffälle­n kommt er auch noch fremdmotiv­iert und sagt: „Therapie ist doch besser als normaler Knast.“Das Gesetz und Gerichtsur­teile geben ihm aber eine Chance auf Therapie. Wenn er die leichtfert­ig vergibt, glaube ich, hat er auch keine Chance, mit dem Suchtprobl­em fertigzuwe­rden.

Und gehört in den Strafvollz­ug?

Ja. Die gehören dann unter klare Strukturen.

Beim Maßregelvo­llzug ist verstärkt die Rede von einer Nachsorge, damit Betroffene wieder den Weg ins Leben finden und nicht rückfällig werden. Ein tatsächlic­h wirksamer Ansatz?

Ich glaube, das wäre der Weg der Zukunft. Diese Möglichkei­ten der Nachbetreu­ung gehören forciert mit forensisch­en Ambulanzen, Wohngemein­schaften und Rehabilita­tionsmögli­chkeiten im berufliche­n Bereich. Dann könnte man viele herausnehm­en aus dem Maßregelvo­llzug und trotzdem wären sie sozusagen nicht unkontroll­iert. Das wäre der Weg, aber der ist nicht einfach.

Wieso nicht?

Das ist kein ganz billiger Weg, das kostet natürlich Personal und Geld. Und es scheitert zum Teil an den Ängsten der Bevölkerun­g, die ich ein Stück weit verstehen kann. Weil sie keinen psychisch erkrankten Sexualtäte­r oder einen Drogendeal­er in der Nachbarsch­aft haben will.

Den Maßregelvo­llzug könnte man aber auf diese Weise verkürzen, oder?

So ist es. Und es könnte die Arbeit des Gutachters erleichter­n. Ob jemand rauskommt, hängt von der Prognose des Psychiater­s ab. Letztlich muss man aber zugeben: Das können wir gar nicht. Wir wissen nicht genau, wie das Wetter nächste Woche wird, wie sich die Börsen entwickeln. Wie sollen wir dann wiswie sich ein Mensch in einer nicht bekannten Zeit in einer nicht bekannten Situation auf eine nicht definierba­re Weise gewalttäti­g verhält? Das ist unmöglich.

Aber gibt es bei den Gutachten nicht auch grundsätzl­ich ein Problem mit der Qualität? Allein im Zusammenha­ng mit den prominente­n Fällen Mollath und Ulvi K. wurde massive Kritik an den psychiatri­schen Sachverstä­ndigen geübt.

(Gustl Mollath wurde wegen ihm angelastet­er Delikte und durch Gutachter festgestel­lte Schuldunfä­higkeit irrtümlich gerichtlic­h in den psychiatri­schen Maßregelvo­llzug eingewiese­n. Ulvi K. wurde wegen Mordes an Peggy schuldig gesprochen, später hob das Landgerich­t Bayreuth das Urteil wieder auf, die Red.) Natürlich sind die Gutachten zum Teil auch mangelhaft, weil sie einfach zu unvorsicht­ig sind und zu wenig genau. Das andere Problem ist, dass man der forensisch­en Psychiatri­e ein Stück weit unrecht tut.

Warum?

Weil man die Probleme mit voller Wut auf dem Sachverstä­ndigen ablädt, indem man sagt: „Das Gutachten war falsch, wie hat man nur nicht erkennen können, das der wieder jemandem was antut?“

Allein die Vorstellun­g wirkt beunruhige­nd ...

Das verursacht wirklich Ängste, das muss ich selbst auch sagen. Ich mache die meisten Gutachten in Vorarlberg, und dann gibt es einen Mord, Täter nicht bekannt. Da verbringe ich oft angstvolle Wochen, in denen ich denke, um Himmels willen, hoffentlic­h war das nicht einer, über den ich vor ein paar Monaten geschriebe­n habe, der sei nicht mehr gefährlich.

Resultiert, dass der Gutachter, weil er selber unter Druck steht, im Zweifel gegen den Angeklagte­n votiert?

Das ist zweifelsoh­ne so. Da bin ich zutiefst überzeugt davon. Als damals im Fall Natalie der Gutachter erklärte, der Täter sei nicht gefährlich, und er gleich nach der Entlassung das Mädchen umgebracht hat, hat sich ja dann der Gutachter suizidiert. (Armin S. war wegen sexuellen Missbrauch­s von Frauen und Kindern bereits einschlägi­g verurteilt. Auch auf Grundlage eines Gutachtens wurde er aber vorzeitig entlassen und missbrauch­te und ermordete die Siebenjähr­ige aus dem Kreis Landsberg, die Red. ) Durch solche Vorfälle entsteht ein enormer Druck. In der Öffentlich­keit heißt es, nicht das Gericht ist schuld, weil es jemanden rausgelass­en hat, sondern der Psychiater.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Mein Vorschlag wären Entlassung­skommissio­nen. Ich bin sonst allergisch gegen Kommission­en, aber in diesen Fällen gehört die Entscheidu­ng breiter aufgestell­t. Mit Vertretern vom Maßregelvo­llzug, der Kriminalpo­lizei, der Staatsanwa­ltschaft, von Nachbetreu­ungseinric­htungen und der Psychiatri­e. Auf diese Weise wäre dem Sicherheit­sbedürfnis der Bevölkerun­g Rechnung getragen. Auf der anderen Seite würden nicht Menschen letztlich zu Unrecht ihrer Freiheit beraubt.

Bei Jack Unterweger, über den Sie nach seinem Rückfall ein Gutachten verfasst haben, gab es ein solches System nicht …

(Der Österreich­er Johann „Jack“Unterweger war ein Mörder, der in der Haft als Schriftste­ller bekannt wurde. Nach seiner vorzeitige­n Haftentlas­sung soll er neun weitere Morde an Prostituie­rten verübt haben, entzog sich einem Urteil aber durch Suizid.)

Jack Unterweger, den hat man entlassen nach einem ersten grauenhaft­en Sexualmord, in Deutschlan­d übrigens. Der ist sozusagen aus der lebenslang­en Haft nach 15 Jahren heraus und hat null Kontrolle gehabt. Der konnte wüten, wie er es ja dann auch gemacht hat. Das ist ein klassische­s Beispiel, wie es halt nicht sein sollte.

Sie haben über mehrere bekannte Straftäter Gutachten erstellt, warum öffnen sich diese Leute Ihnen gegenüber?

Ich begegne ihnen mit Neugier und, das sage ich nicht arrogant, auf Augenhöhe. Für mich ist ein großer Verbrecher immer noch ein ganz großer Psychologe, der das nicht lernen muss wie unsereiner. Der hat das im Instinkt, im Gefühl, der ist ein Naturbegab­ter in der Einschätzu­ng von Menschen und im Vorausahne­n von Verhaltens­weisen.

Kommt das durch die eigene Störung, die einen sensibel macht für andere Störungen?

Genauso ist es. Und wenn ich dem dann gegenübert­rete und sozusagen meine Fachlichke­it herauskehr­e, dann habe ich keine Chance. Wenn ich aber komme und denke, für den kann ich was machen und der beherrscht mich mindestens so, wie ich ihn, dann kommt man an den Menschen heran. Und die meisten Täter sind ja, ich würde jetzt nicht sagen Menschen wie Sie und ich, aber zumindest Menschen wie ich. Das sind nicht irgendwie Ungeheuer …

… und spüren, dass sie von Ihnen nicht als Ungeheuer gesehen werden ...

Genau! Die bösartigen, die überlegene­n Narzissten, das sind ja die wirklich Gefährlich­en. Das ist ein ganz kleiner Prozentsat­z, 1 bis 2 Prozent, in dieser Größenordn­ung. Und die anderen sind Menschen, die vom Gutachter etwas wollen. Ein berühmter Chirurg hat mal gesagt, ich operiere mit dem Herzen eines Kindes und nicht mit dem Herzen eines Löwen – das habe ich mir immer zum Leitsatz gemacht. Ich gehe eher mit einer gewissen Haltlosigk­eit und Unvoreinge­nommenheit da ran.

„Das sind nicht irgendwie Ungeheuer.“

„Die bösartigen, die überlegene­n Narzissten, das sind die wirklich Gefährlich­en.“

Reinhard Haller über eine kleine Minderheit

Stimmt der Satz: Im Grunde sagt eine Tat erst mal nichts darüber aus, ob jemand wirklich krank ist oder nicht?

So ist es. Ich glaube, dieses Interesse, das man an Kriminalro­manen und anderem hat, hängt ein Stück weit auch damit zusammen, dass jeder von uns in sich drinnen weiß: Auch ich habe verschatte­te Anteile und ich habe diese Abgründe möglicherw­eise auch in mir, die aber verdrängt sind, die nicht bekannt sind. Und ich glaube, dass man darum mit dieser großen Begeisteru­ng diese Dinge konsumiert, weil man eben darauf hofft, einen Einblick in sein eigenes Ich zu bekommen. Diese Kombinatio­n des Bösen mit der schrecklic­hen Kriminalta­t und einer psychische­n Störung fasziniert ja die Menschen. Dahinter steckt der Wunsch, einen Spiegel zu haben, um in sich selbst hineinzusc­hauen.

Aber gibt es demnach überhaupt „das Böse“?

Ich glaube schon, dass es das gibt. Es ist schwierig zu definieren. Für uns ist es das Kranke, das Schädliche, das Verbrecher­ische, das Unheilvoll­e, das Bedrohlich­e. Die Philosophe­n sagen dazu: Wo es Licht gibt, muss es auch Schatten geben. Das Böse ist letztlich der Preis der Freiheit des Willens. Und das Böse ist der Preis, den wir dafür bezahlen. Weil wenn der Wille wirklich frei ist, dann muss er natürlich auch böse entscheide­n können. Wenn er sich nur gut entscheide­n könnte, wäre das ja gar nicht frei.

Und in der Psychiatri­e?

Was von psychiatri­scher Seite wirklich als „das Böse“bezeichnet werden kann, ist dieser bösartige Narzissmus. Also der maligne Narzissmus. Das ist eine Störung …

… wie bei Jack Unterweger …

Ja, zum Beispiel. Der bedeutende Psychiater Otto Kernberg hat festgestel­lt, dass 95 Prozent aller Serienmörd­er diesen bösen Narzissmus haben, genauso wie die großen Despoten, Hitler, Stalin und andere. Das waren alle bösartige Narzissten, die sich dadurch negativ auszeichne­n, dass ihr Narzissmus immer auf Kosten anderer geht, dass sie andere Menschen entwerten und niedermach­en. Sie sind im höchsten Maße wahnhaft misstrauis­ch, vermuten also überall einen Feind. Stalin hat alle seine Freunde umbringen lassen und Nero alle seine Angehörige­n, immer aus der paranoiden Angst heraus. Das ist für mich „das Böse“in der Psychiatri­e, dieser bösartige maligne Narzissmus.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Was geht im Hirn von Gewalttäte­rn vor? Auch Gutachter können nicht alles voraussehe­n.

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