Waffenrecht entzweit die Schweiz
Am Sonntag stimmen die Eidgenossen über strengere EU-Regeln für den Waffenbesitz ab – Voraussetzung für den Verbleib im Schengenraum
BERN (dpa) - Mitten in Europa, aber nicht in der EU: Weil die Schweiz trotzdem eng verflochten ist mit den Nachbarländern, muss sie sich an deren Regeln halten. Am Sonntag stimmen die Eidgenossen auf Verlangen der EU unter anderem über eine Verschärfung ihres nationalen Waffenrechts ab. Bei Ablehnung drohen harte Konsequenzen aus Brüssel. Jüngste Umfragen deuten allerdings auf eine Zustimmung hin.
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GENF - Die Schweiz strotzt vor Schusswaffen. Zwischen zwei bis drei Millionen Gewehre, Flinten, Pistolen und Revolver lagern laut Schätzungen in den Haushalten. Das Land hat 8,5 Millionen Einwohner: Damit rangiert die Eidgenossenschaft laut der Genfer „Small Arms Survey“-Erhebung ganz oben bei den Staaten mit den meisten Waffen pro Kopf.
Die Regierung in Bern will die private Hochrüstung ab sofort zumindest etwas besser kontrollieren können. Ein geändertes Gesetz würde „punktuelle Verbesserungen beim Schutz vor Waffenmissbrauch“bringen, sagt Justizministerin Karin Keller-Sutter von der liberalen FDP. Zugleich beruhigt Keller-Sutter die aufgebrachten Waffenbesitzer zwischen Bodensee und Genfersee: „Niemand wird entwaffnet“, sagt sie. Und die traditionellen Schützenfeste Helvetiens seien auch nicht in Gefahr.
Das Brisante an dem neuen Reglement: Es stammt von der Europäischen Union. Das Nicht-EU-Mitglied Schweiz will Änderungen an der EU-Waffenrichtlinie in nationales Schweizer Recht umsetzen – und damit einen Ausschluss aus dem Verbund der Dublin- und SchengenStaaten vermeiden. Am morgigen Sonntag wird sich zeigen, ob das Volk in der Schweiz mitzieht. Dann stimmen die Eidgenossen in einem Referendum über das neue Waffengesetz ab. Wie nicht anders zu erwarten war, stehen die Bestimmungen unter Dauerfeuer der Waffenlobby. Die „Interessengemeinschaft Schießen Schweiz“erzwang das Referendum, um das „Diktat der EU“zu verhindern. Gegen das „antischweizerische“Regierungsvorhaben kämpft auch die rechtspopulistische Volkspartei SVP des Milliardärs Christoph Blocher.
Selbst kleinste Änderungen der Regeln schmähen die Flintenfreunde als Angriff auf ein „zentrales Freiheitsrecht“, das sie auf die mythischen Ursprünge der Eidgenossenschaft zurückverfolgen. Noch heute huldigen viele Schweizer dem Ideal des wehrhaften Bürgers: Notfalls muss er eben zum Gewehr greifen. Die Schusswaffentoten, die Zahl liegt seit Jahrzehnten fast immer über 200 pro Jahr, gelten als bedauerliche Einzelfälle.
Das revidierte Gesetz schreibt eine Markierung aller wesentlichen Bestandteile einer Waffe vor. „Das erleichtert es der Polizei, die Herkunft einer Waffe zu klären“, betont Ministerin Keller-Sutter. Zudem zielen die Bestimmungen auf halbautomatische Waffen mit großen Magazinen ab. Diese Waffen sollen zwar künftig grundsätzlich verboten werden. Es gibt jedoch etliche Ausnahmen. Sportschützen dürfen auch nach einer Gesetzesannahme weiter den Abzug ziehen. Sammler können sich weiter an ihren Arsenalen erfreuen, wenn sie eine sichere Aufbewahrung garantieren. Soldaten behalten das Recht, nach dem Militärdienst ihr Sturmgewehr zu erwerben. „Für Jägerinnen und Jäger ändert sich ebenfalls nichts“, heißt es von der Regierung.
Schärfere Regelungen seit 2017
Tatsächlich geht es Bern auch nicht um eine Verschärfung des Waffenrechts. Vielmehr soll sichergestellt werden, dass die Eidgenossenschaft im Verbund der Dublin- und Schengen-Staaten bleibt. Mit den DublinVerfahren und dem Schengen-Abkommen kooperieren EU-Staaten in den Bereichen Asyl, Polizei, Justiz, Einreise und Grenzübertritt. Auch Nichtmitglieder der EU wie die Schweiz können bei Dublin und Schengen mitmachen.
Die EU hatte ihre Waffenrichtlinien 2017 angesichts terroristischer Gewalt verschärft und erwartet dasselbe nun von der Schweiz. „Bei einem Nein endet die Zusammenarbeit der Schweiz mit den Schengenund Dublin-Staaten automatisch, es sei denn, die anderen Staaten und die EU-Kommission kommen der Schweiz entgegen“, warnt Ministerin Keller-Sutter. Doch Zugeständnisse der EU-Mitglieder an die Eidgenossen sind nicht zu erwarten.
Die Folgen einer Verweigerung wären gemäß einer Regierungsanalyse gravierend: Die Schweiz hätte keinen Zugriff mehr auf EU-Fahndungssysteme. Sie müsste wieder Asylanträge von Menschen überprüfen, deren Gesuch ein anderes europäisches Land bereits abgelehnt hat. Reisende müssten neben dem Schengen-Visum wie früher ein Schweiz-Visum beantragen. An den Grenzen käme es wieder zu Personenkontrollen. Insgesamt könnte Helvetiens Volkswirtschaft ein Schaden von Milliarden Euro jährlich entstehen.
Die Warnungen der Regierungen zeigen Wirkung: Umfragen zufolge heißt eine Mehrheit der pragmatischen Eidgenossen das neue Waffengesetz mit europäischer Dimension gut.