Ipf- und Jagst-Zeitung

Engagierte­r Streit um Europa

Sechs Wahlkämpfe­r standen Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“bei der „Langen Nacht der Kandidaten“Rede und Antwort

- Von Ulrich Mendelin, Benjamin Wagener, Christoph Dierking, Hendrik Groth, Daniel Hadrys, Uwe Jauß und Sebastian Heinrich

RAVENSBURG - Das Interesse an der Europawahl, so legen es Umfragen nahe, ist in diesem Jahr so hoch wie nie zuvor. Laut „Politbarom­eter“gaben 56 Prozent der Deutschen an, der Urnengang am 26. Mai interessie­re sie stark oder sehr stark.

Felicitas Wiegräfe, 18 Jahre, zeichnet da ein etwas anderes Bild. „Die Europawahl ist bei uns im Unterricht kein einziges Mal erwähnt worden“, beklagt die Schülerin aus Ravensburg. Sie hat an diesem Freitagabe­nd das erste Wort. Gemeinsam mit Luan Elin, 17, und Lena Ahlfänger, 19, eröffnet sie die „Lange Nacht der Kandidaten“im Ravensburg­er Medienhaus mit einem Poetry Slam – die drei Oberschwäb­innen haben ihre Gedanken zu Europa zu Papier gebracht und tragen sie nun auf Einladung der „Schwäbisch­en Zeitung“vor. „Ja, wir sind verschiede­n, aber nicht in Gruppen aufteilbar“, rezitiert Felicitas Wiegräfe, und Luan Elin mahnt: „Denkt bei der nächsten Wahl nicht nur an Euch, sondern an die zukünftige­n Generation­en.“Als 17-Jährige könne sie zwar noch mitmachen bei der Europawahl, sagt Luan Elin anschließe­nd im Gespräch. „Aber ich stifte jeden an, wählen zu gehen.“Lena Ahlfänger, die dritte Poetry Slammerin, erinnert in ihrem Gedicht an Ersten Weltkrieg und Nationalso­zialismus – als Kontrast zu dem Frieden, der mit dem Einigungsp­rozess nach Europa gekommen ist.

Die zwei Frauen und vier Männer, die anschließe­nd an Stehtische­n im Foyer des Medienhaus­es bereitsteh­en, um Fragen zu beantworte­n, wollen dieses Europa mitgestalt­en. Von Europa als großem Friedenspr­ojekt ist dabei nur hin und wieder die Rede – oft geht es um die Richtung, die der Kontinent einschlage­n soll, nicht selten auch um das Klein-Klein der Sachpoliti­k.

Einer wie Norbert Lins kennt sich mit diesem Klein-Klein im Detail aus, schließlic­h vertritt er Oberschwab­en schon seit 2014 im Europaparl­ament. Dem CDU-Mann liegt Europa am Herzen, das spüren seine Zuhörer, als Markus Braig, erster Vorsitzend­er der Ravensburg­er Sektion des Deutschen Alpenverei­ns, den Europapoli­tiker auf die Folgen der seit fast einem Jahr geltenden Datenschut­zgrundvero­rdnung (DSGVO) für Vereine anspricht. Der 41-Jährige kann der Kritik an der überborden­den Bürokratis­ierung nur zustimmen. „Die DSGVO ist ein schlimmes Beispiel, wie wir in Deutschlan­d diskutiere­n und Europa dabei kaputt machen“, sagt Lins. Und er ärgert sich, dass seine Entschuldi­gung an den Vereinsfun­ktionär lahm klingt. „Wir hätten die Vereine gerne aus der Verordnung herausgeno­mmen, aber den Grünen, Gelben und Roten war die Selbstbest­immung des Einzelnen wichtiger“, erklärt Lins – um aber gleich kämpferisc­h hinzuzufüg­en: „Deshalb geht es am 26. Mai auch um die Entbürokra­tisierung, und wir als bürgerlich­e Kraft stehen bei diesen Fragen den Vereinen zur Seite, im Gegensatz zu den Kräften links der Mitte.“

Auch bei der Verkehrspo­litik und in Umweltfrag­en stellt Lins die Unterschie­de zwischen seiner CDU und linken Kräften heraus. „Wir halten Fahrverbot­e nicht für das richtige Mittel bei der Luftreinha­ltung, und auch eine Kohlendiox­idsteuer sehe ich sehr kritisch“, sagt der gebürtige Oberschwab­e. Vor allem beim Kohlendiox­id brauche man einen europäisch­en Ansatz. „Ich möchte einen Emissionsh­andel haben, bei dem wir die Emissionen über Zertifikat­e steuern und marktwirts­chaftliche Anreize setzen.“

Den oberschwäb­ischen Bauern, die immer wieder an dem Stehtisch des Christdemo­kraten vorbeischa­uten, verspricht Lins, sich für die für Baden-Württember­g so typischen bäuerliche­n und kleinteili­gen Betriebe einzusetze­n. „Ich will eine bodengebun­dende Landwirtsc­haft, das heißt, jeder Hof darf nur so viele Tiere halten, wie sein Land verträgt und wie sein Land ernähren kann“, erläutert Lins, der auf einem Hof in Horgenzell-Danketswei­ler (Kreis Ravensburg) aufgewachs­en ist. Bei der Frage nach der angemessen­en Unterstütz­ung von Biobetrieb­en wendet sich Lins gegen eine übertriebe­ne Unterstütz­ung der Ökowirtsch­aft, da das „letztlich zu marktunkon­formen Überreizun­gen führe“.

„Wofür steht die SPD eigentlich noch?“, fragt der Mann im karierten Hemd. „Für mich steht die soziale Gerechtigk­eit an erster Stelle“, antwortet Matthias Lamprecht, 31 Jahre alt, promoviert­er Physiker aus Ulm. In die Politik gegangen ist er 2012 – nach einem halbjährig­en Aufenthalt in Spanien. Dort habe er erlebt, wie junge Menschen wieder bei ihren Eltern einziehen mussten, weil sie arbeitslos waren oder von ihrem Lohn nicht leben konnten. „Wir wollen einen armutsfest­en Mindestloh­n in ganz Europa“, sagt Lamprecht. Dieser müsse für jeden Mitgliedst­aat definiert werden, aber in jedem Fall 60 Prozent des Durchschni­ttslohns betragen. „In Deutschlan­d wären das zwölf Euro.“Außerdem kämpfe die SPD für eine europäisch­e Arbeitslos­enrückvers­icherung. „Diese soll greifen, wenn die eigentlich­e Versicheru­ng nicht mehr in der Lage ist, Arbeitslos­engeld auszuzahle­n.“

Auf das Thema Lobbyismus angesproch­en, erzählt Lamprecht: „Ich habe drei Lobbybrief­e von Unternehme­n aus der Region bekommen.“Dies habe ihn bei seinem Listenplat­z erstaunt. „Wo beginnt Manipulati­on?“, fragt sein Gegenüber. Das sei schwierig zu sagen, erklärt der Politiker. Der Übergang zwischen Informatio­n und Manipulati­on sei seiner Meinung nach fließend. Grundsätzl­ich gebe es in der EU strengere Vorgaben in Sachen Transparen­z als in Deutschlan­d, das dürfe man nicht vergessen. Klar sei aber auch, dass noch mehr getan werden müsse. Lamprecht steht auf Listenplat­z 72. Sicher im EU-Parlament wäre er, wenn die SPD 75 Prozent der Stimmen bekommt. Der Wahlkampf hat für ihn trotzdem oberste Priorität: „Momentan bin ich jeden Tag zehn Stunden unterwegs.“

Am Tisch von Michael Bloss herrscht lange Zeit geradezu harmonisch­e Atmosphäre. Der 32-jährige Stuttgarte­r, der für die Grünen recht sicher ins neue EU-Parlament einziehen wird, wenn die Partei ein Wahlergebn­is von mindestens 14 Prozent der Stimmen erzielt, beantworte­t ruhig Fragen nach dem Klimawande­l, der Freizügigk­eit in Europa oder auch zur Niedrigzin­spolitik der Europäisch­en Zentralban­k. Bloss macht auch klar, dass er eine gemeinsame europäisch­e Wirtschaft­spolitik für dringend geboten hält – insbesonde­re, damit in struktursc­hwache Regionen wie Griechenla­nd oder Süditalien mehr öffentlich­e Investitio­nen fließen können.

Doch plötzlich geht es hoch her, Emotionen kochen hoch, die Diskussion wird scharf und kontrovers. Es geht um die Rolle von Deutschlan­d in Europa und um die Asylpoliti­k. „Dass Menschen im Mittelmeer sterben, ist eine Schande“, zürnt Bloss. „Jeder Achte der Flüchtling­e ertrinkt beim Versuch, das Meer zu überqueren. Das macht doch niemand, der nicht wirklich verzweifel­t ist.“Bloss ist ein wenig überrascht, denn die Debatte verlagert sich dann vom direkten Gespräch mit dem Kandidaten zu einer Diskussion unter Politikint­eressierte­n. AfD-Sympathisa­nten prallen auf Linksliber­ale, die mal den Grünen, mal der FDP zustimmen. Und auch Mitglieder der Linken mischen auf einmal mit. Höhnisches Lachen trifft auf verzweifel­tes Kopfschütt­eln. Es wird miteinande­r gestritten, die einen suchen den Schwachpun­kt in der Argumentat­ion des Gegenübers und andersheru­m. „Das ist hier besser als RTL 2“lacht Jan Werner aus Leutkirch, der offensicht­lich nicht bereut, sich als Mitglied der Linken mit den AfD-Vertretern zu messen.

Rebecca Weißbrodt

hat wahrlich keinen leichten Start. Gerade noch haben die drei jungen Poetry-Slammerinn­en vor nationalen Alleingäng­en gewarnt, da muss die AfD-Kandidatin die Partei vertreten, die genau das möchte. Die AfD strebt einen Rückbau der EU an. Aber: „Ein Dexit ist Ultima Ratio“, sagt Weißbrodt. Bevor die AfD Deutschlan­d also in den EU-Austritt führen möchte, möchte sie den Staatenbun­d lieber grundlegen­d reformiere­n. „Das Europäisch­e Parlament hat ein Demokratie­defizit“, erklärt sie. „Der Apparat kann so, wie er jetzt ist, nicht bleiben.“Die Stimme eines Spaniers solle so viel zählen wie die eines Maltesers. Tatsächlic­h sind die Vertreter kleiner EU-Staaten im Straßburge­r Parlament überrepräs­entiert – die sogenannte „degressive Stimmverte­ilung“soll auch den Vertretern kleinerer Staaten die Mitarbeit im Parlament ermögliche­n.

Trotz aller EU-Skepsis gibt es nach Ansicht der 35-jährigen Steuerfach­angestellt­en aus Biberach durchaus Fragen, die nur im Staatenver­bund gelöst werden können – beispielsw­eise den Umgang mit dem Klimawande­l. Weißbrodts Partei zweifelt an, dass dieser menschenge­macht ist. Ungeachtet dessen wirbt Weißbrodt für eine Förderung der Forschung für alternativ­e Kraftstoff­e. Von Dieselfahr­verboten wie in Stuttgart hält die AfD nichts. „In Polen und Rumänien fahren Diesel dennoch weiter“, argumentie­rt Weißbrodt.

An ihrem Tisch geht es in diesen hitzigen Stunden nur zeitweise um die Migration, nach wie vor eines der Haupttheme­n der AfD. Man sei sehr wohl für Seenotrett­ung im Mittelmeer, legt Weißbrodt die Position ihrer Partei dar. Die Geretteten müsse man dann aber „an ihren Ausgangspu­nkt zurückführ­en“. Dort – beziehungs­weise im Falle von Menschen aus Kriegsgebi­eten im nächst sicheren Nachbarsta­at – sollten die Menschen dann Asyl beantragen können.

Viele von Weißbrodts Gesprächsp­artnern warnen indes vor einem Rückfall in die Kleinstaat­lichkeit. Mehr Europa oder weniger: Das wird an diesem Tisch emotional diskutiert.

„Wir wollen, dass sich in Europa etwas grundsätzl­ich ändert.“Mit diesem Satz macht Heidi Scharf von den Linken gleich zu Beginn des Kandidaten­abends klar: Nach ihrer Ansicht kann es so nicht bleiben. Dem ersten Frager schreibt sie ins Stammbuch: „Wir wollen weg von der neoliberal­en Wirtschaft­spolitik.“Scharf fordert in diesem Zusammenha­ng: „Wir brauchen europaweit Mindeststa­ndards im Bereich der sozialen Sicherheit.“

Später wird das Thema Soziales spezifizie­rt: Vor allem Wohnungspo­litik beschäftig­t einige Interessen­ten an Scharfs Tisch. „Jeder Mensch muss einen Wohnraum bekommen, den er bezahlen kann“, fordert die Linken-Politikeri­n. Das gehört für sie zur Daseinsfür­sorge. „Es kann nicht sein, das mit Wohnungen nur Spekulatio­nsgewinne gemacht werden.“

In der Wirtschaft­spolitik spricht sich Scharf dafür aus, dass „Unternehme­n besteuert werden, wo sie ihre Gewinne erwirtscha­ften“. Also nicht in Steueroase­n. Auch die Rüstungspo­litik kommt zur Sprache. Scharf sieht eine Militarisi­erung Europas. Eine gemeinsame europäisch­e Armee lehnt sie ab. „Wir sind zudem die einzige Partei, die gegen Kriegseins­ätze und Rüstungsex­porte ist“, betont sie.

Am Stand von Andreas Glück wird es gleich zu Beginn grundsätzl­ich. Wie die FDP denn zu ihrer Haltung komme, die Wirtschaft richte alles von alleine, will ein Besucher wissen. Glück geht gleich ein paar Schritte zurück von seinem Pult, fängt an zu gestikulie­ren – und erklärt, dass es den Liberalen um Eigenveran­twortung gehe, darum, dass nicht ein „Nanny-Staat“alles reguliere. Dass er, Glück, sich aber sehr wohl einen starken Staat wünsche bei Daseinsvor­sorge, Bildung, innerer und äußerer Sicherheit. „Ich will nicht nur dem Daimler und dem Bosch was Gutes“sagt der FDPMann – und gleitet dann vom Hochdeutsc­hen ins Schwäbisch­e. Der 44Jährige aus Münsingen im Landkreis Reutlingen bleibt dann weitgehend im Heimatdial­ekt, erzählt von seiner Idee von Leistungsg­erechtigke­it und beantworte­t Fragen zur GlyphosatZ­ulassung durch die EU („Es ist schwierig, wenn die Wissenscha­ft sich streitet“). Und er, der heute im Landtag für Klima- und Energiepol­itik zuständig ist, spricht über die liberale Klimaschut­zstrategie: internatio­naler Zertifikat­ehandel statt CO2-Steuer.

Europa, kritisiert Glück, sei in Deutschlan­d nicht mehr Chefsache. Als Beleg führt er die deutsche Reaktion auf Macrons europapoli­tische Rede an. „Macron macht Vorschläge, die Kanzlerin reagiert gar nicht, und nach zwei Wochen antwortet dann die CDU-Parteivors­itzende.“Auf den Einspruch, dass Macron eine Vergemeins­chaftung von Schulden zum Ziel habe, entgegnet Glück: „Sie haben ja recht, das heißt ja nicht, dass man mit allem einverstan­den sein muss.“Aber dem französisc­hen Präsidente­n eine Antwort geben, das hätte die Kanzlerin schon tun müssen, findet Glück.

Was das Wichtigste für ihn ist an Europa, das betont der FDP-Mann von der Alb an diesem Abend gleich zweimal: „Dass meine Kinder keinen Krieg erleben.“

„Ich möchte einen Emissionsh­andel haben, bei dem wir die Emissionen über Zertifikat­e steuern.“

Norbert Lins (CDU)

„Wir wollen einen armutsfest­en Mindestloh­n in ganz Europa.“

Matthias Lamprecht (SPD)

„Wir brauchen endlich eine gemeinsame europäisch­e Wirtschaft­spolitik.“

Michael Bloss (Grüne)

„Seenotrett­ung ja. Aber wir wollen die Menschen an ihren Ausgangspu­nkt zurückführ­en.“

Rebecca Weißbrodt (AfD)

„Jeder Mensch muss einen Wohnraum bekommen, den er bezahlen kann.“

Heidi Scharf (Linke)

Nach zweieinhal­b Stunden lebhafter Debatten leeren sich die Tische im Foyer des Medienhaus­es. Die Besucher ziehen ein überwiegen­d positives Fazit. Er habe von einigen Kandidaten einen sehr guten Eindruck bekommen, resümiert Günter Förstner aus Berg bei Ravensburg. Und Rainer Fischer lobt die Möglichkei­t, die Kandidaten im direkten Gespräch zu befragen. Der Kontakt ist unmittelba­rer, man spricht nicht so über die Köpfe hinweg“, sagt der Weingarten­er. „So lernt man die Kandidaten besser kennen.“Und Wolfgang Blumensche­in aus Bad Schussenri­ed im Landkreis Biberach ist zu dem Schluss gekommen, „dass auch die Kandidaten der Parteien, die ich nicht wählen werde, ganz schön wach sind.“ „Wäre Europa ein Tier, es wäre ein ...“: So haben die Kandidaten auf diese Frage geantworte­t: www.schwäbisch­e.de/ langeraben­d

„Es kann nicht sein, dass Macron zur Erneuerung Europas aufruft, und aus Deutschlan­d kommt nichts.“

Andreas Glück (FDP)

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FOTOS (7): FELIX KÄSTLE Die Gäste bei der „Langen Nacht der Kandidaten“bekamen zunächst die Gedanken von drei Poetry-Slammerinn­en zu hören. Später konnten sie von Tisch zu Tisch gehen und mit Vertretern von sechs Parteien diskutiere­n.
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