Engagierter Streit um Europa
Sechs Wahlkämpfer standen Lesern der „Schwäbischen Zeitung“bei der „Langen Nacht der Kandidaten“Rede und Antwort
RAVENSBURG - Das Interesse an der Europawahl, so legen es Umfragen nahe, ist in diesem Jahr so hoch wie nie zuvor. Laut „Politbarometer“gaben 56 Prozent der Deutschen an, der Urnengang am 26. Mai interessiere sie stark oder sehr stark.
Felicitas Wiegräfe, 18 Jahre, zeichnet da ein etwas anderes Bild. „Die Europawahl ist bei uns im Unterricht kein einziges Mal erwähnt worden“, beklagt die Schülerin aus Ravensburg. Sie hat an diesem Freitagabend das erste Wort. Gemeinsam mit Luan Elin, 17, und Lena Ahlfänger, 19, eröffnet sie die „Lange Nacht der Kandidaten“im Ravensburger Medienhaus mit einem Poetry Slam – die drei Oberschwäbinnen haben ihre Gedanken zu Europa zu Papier gebracht und tragen sie nun auf Einladung der „Schwäbischen Zeitung“vor. „Ja, wir sind verschieden, aber nicht in Gruppen aufteilbar“, rezitiert Felicitas Wiegräfe, und Luan Elin mahnt: „Denkt bei der nächsten Wahl nicht nur an Euch, sondern an die zukünftigen Generationen.“Als 17-Jährige könne sie zwar noch mitmachen bei der Europawahl, sagt Luan Elin anschließend im Gespräch. „Aber ich stifte jeden an, wählen zu gehen.“Lena Ahlfänger, die dritte Poetry Slammerin, erinnert in ihrem Gedicht an Ersten Weltkrieg und Nationalsozialismus – als Kontrast zu dem Frieden, der mit dem Einigungsprozess nach Europa gekommen ist.
Die zwei Frauen und vier Männer, die anschließend an Stehtischen im Foyer des Medienhauses bereitstehen, um Fragen zu beantworten, wollen dieses Europa mitgestalten. Von Europa als großem Friedensprojekt ist dabei nur hin und wieder die Rede – oft geht es um die Richtung, die der Kontinent einschlagen soll, nicht selten auch um das Klein-Klein der Sachpolitik.
Einer wie Norbert Lins kennt sich mit diesem Klein-Klein im Detail aus, schließlich vertritt er Oberschwaben schon seit 2014 im Europaparlament. Dem CDU-Mann liegt Europa am Herzen, das spüren seine Zuhörer, als Markus Braig, erster Vorsitzender der Ravensburger Sektion des Deutschen Alpenvereins, den Europapolitiker auf die Folgen der seit fast einem Jahr geltenden Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für Vereine anspricht. Der 41-Jährige kann der Kritik an der überbordenden Bürokratisierung nur zustimmen. „Die DSGVO ist ein schlimmes Beispiel, wie wir in Deutschland diskutieren und Europa dabei kaputt machen“, sagt Lins. Und er ärgert sich, dass seine Entschuldigung an den Vereinsfunktionär lahm klingt. „Wir hätten die Vereine gerne aus der Verordnung herausgenommen, aber den Grünen, Gelben und Roten war die Selbstbestimmung des Einzelnen wichtiger“, erklärt Lins – um aber gleich kämpferisch hinzuzufügen: „Deshalb geht es am 26. Mai auch um die Entbürokratisierung, und wir als bürgerliche Kraft stehen bei diesen Fragen den Vereinen zur Seite, im Gegensatz zu den Kräften links der Mitte.“
Auch bei der Verkehrspolitik und in Umweltfragen stellt Lins die Unterschiede zwischen seiner CDU und linken Kräften heraus. „Wir halten Fahrverbote nicht für das richtige Mittel bei der Luftreinhaltung, und auch eine Kohlendioxidsteuer sehe ich sehr kritisch“, sagt der gebürtige Oberschwabe. Vor allem beim Kohlendioxid brauche man einen europäischen Ansatz. „Ich möchte einen Emissionshandel haben, bei dem wir die Emissionen über Zertifikate steuern und marktwirtschaftliche Anreize setzen.“
Den oberschwäbischen Bauern, die immer wieder an dem Stehtisch des Christdemokraten vorbeischauten, verspricht Lins, sich für die für Baden-Württemberg so typischen bäuerlichen und kleinteiligen Betriebe einzusetzen. „Ich will eine bodengebundende Landwirtschaft, das heißt, jeder Hof darf nur so viele Tiere halten, wie sein Land verträgt und wie sein Land ernähren kann“, erläutert Lins, der auf einem Hof in Horgenzell-Danketsweiler (Kreis Ravensburg) aufgewachsen ist. Bei der Frage nach der angemessenen Unterstützung von Biobetrieben wendet sich Lins gegen eine übertriebene Unterstützung der Ökowirtschaft, da das „letztlich zu marktunkonformen Überreizungen führe“.
„Wofür steht die SPD eigentlich noch?“, fragt der Mann im karierten Hemd. „Für mich steht die soziale Gerechtigkeit an erster Stelle“, antwortet Matthias Lamprecht, 31 Jahre alt, promovierter Physiker aus Ulm. In die Politik gegangen ist er 2012 – nach einem halbjährigen Aufenthalt in Spanien. Dort habe er erlebt, wie junge Menschen wieder bei ihren Eltern einziehen mussten, weil sie arbeitslos waren oder von ihrem Lohn nicht leben konnten. „Wir wollen einen armutsfesten Mindestlohn in ganz Europa“, sagt Lamprecht. Dieser müsse für jeden Mitgliedstaat definiert werden, aber in jedem Fall 60 Prozent des Durchschnittslohns betragen. „In Deutschland wären das zwölf Euro.“Außerdem kämpfe die SPD für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung. „Diese soll greifen, wenn die eigentliche Versicherung nicht mehr in der Lage ist, Arbeitslosengeld auszuzahlen.“
Auf das Thema Lobbyismus angesprochen, erzählt Lamprecht: „Ich habe drei Lobbybriefe von Unternehmen aus der Region bekommen.“Dies habe ihn bei seinem Listenplatz erstaunt. „Wo beginnt Manipulation?“, fragt sein Gegenüber. Das sei schwierig zu sagen, erklärt der Politiker. Der Übergang zwischen Information und Manipulation sei seiner Meinung nach fließend. Grundsätzlich gebe es in der EU strengere Vorgaben in Sachen Transparenz als in Deutschland, das dürfe man nicht vergessen. Klar sei aber auch, dass noch mehr getan werden müsse. Lamprecht steht auf Listenplatz 72. Sicher im EU-Parlament wäre er, wenn die SPD 75 Prozent der Stimmen bekommt. Der Wahlkampf hat für ihn trotzdem oberste Priorität: „Momentan bin ich jeden Tag zehn Stunden unterwegs.“
Am Tisch von Michael Bloss herrscht lange Zeit geradezu harmonische Atmosphäre. Der 32-jährige Stuttgarter, der für die Grünen recht sicher ins neue EU-Parlament einziehen wird, wenn die Partei ein Wahlergebnis von mindestens 14 Prozent der Stimmen erzielt, beantwortet ruhig Fragen nach dem Klimawandel, der Freizügigkeit in Europa oder auch zur Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Bloss macht auch klar, dass er eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik für dringend geboten hält – insbesondere, damit in strukturschwache Regionen wie Griechenland oder Süditalien mehr öffentliche Investitionen fließen können.
Doch plötzlich geht es hoch her, Emotionen kochen hoch, die Diskussion wird scharf und kontrovers. Es geht um die Rolle von Deutschland in Europa und um die Asylpolitik. „Dass Menschen im Mittelmeer sterben, ist eine Schande“, zürnt Bloss. „Jeder Achte der Flüchtlinge ertrinkt beim Versuch, das Meer zu überqueren. Das macht doch niemand, der nicht wirklich verzweifelt ist.“Bloss ist ein wenig überrascht, denn die Debatte verlagert sich dann vom direkten Gespräch mit dem Kandidaten zu einer Diskussion unter Politikinteressierten. AfD-Sympathisanten prallen auf Linksliberale, die mal den Grünen, mal der FDP zustimmen. Und auch Mitglieder der Linken mischen auf einmal mit. Höhnisches Lachen trifft auf verzweifeltes Kopfschütteln. Es wird miteinander gestritten, die einen suchen den Schwachpunkt in der Argumentation des Gegenübers und andersherum. „Das ist hier besser als RTL 2“lacht Jan Werner aus Leutkirch, der offensichtlich nicht bereut, sich als Mitglied der Linken mit den AfD-Vertretern zu messen.
Rebecca Weißbrodt
hat wahrlich keinen leichten Start. Gerade noch haben die drei jungen Poetry-Slammerinnen vor nationalen Alleingängen gewarnt, da muss die AfD-Kandidatin die Partei vertreten, die genau das möchte. Die AfD strebt einen Rückbau der EU an. Aber: „Ein Dexit ist Ultima Ratio“, sagt Weißbrodt. Bevor die AfD Deutschland also in den EU-Austritt führen möchte, möchte sie den Staatenbund lieber grundlegend reformieren. „Das Europäische Parlament hat ein Demokratiedefizit“, erklärt sie. „Der Apparat kann so, wie er jetzt ist, nicht bleiben.“Die Stimme eines Spaniers solle so viel zählen wie die eines Maltesers. Tatsächlich sind die Vertreter kleiner EU-Staaten im Straßburger Parlament überrepräsentiert – die sogenannte „degressive Stimmverteilung“soll auch den Vertretern kleinerer Staaten die Mitarbeit im Parlament ermöglichen.
Trotz aller EU-Skepsis gibt es nach Ansicht der 35-jährigen Steuerfachangestellten aus Biberach durchaus Fragen, die nur im Staatenverbund gelöst werden können – beispielsweise den Umgang mit dem Klimawandel. Weißbrodts Partei zweifelt an, dass dieser menschengemacht ist. Ungeachtet dessen wirbt Weißbrodt für eine Förderung der Forschung für alternative Kraftstoffe. Von Dieselfahrverboten wie in Stuttgart hält die AfD nichts. „In Polen und Rumänien fahren Diesel dennoch weiter“, argumentiert Weißbrodt.
An ihrem Tisch geht es in diesen hitzigen Stunden nur zeitweise um die Migration, nach wie vor eines der Hauptthemen der AfD. Man sei sehr wohl für Seenotrettung im Mittelmeer, legt Weißbrodt die Position ihrer Partei dar. Die Geretteten müsse man dann aber „an ihren Ausgangspunkt zurückführen“. Dort – beziehungsweise im Falle von Menschen aus Kriegsgebieten im nächst sicheren Nachbarstaat – sollten die Menschen dann Asyl beantragen können.
Viele von Weißbrodts Gesprächspartnern warnen indes vor einem Rückfall in die Kleinstaatlichkeit. Mehr Europa oder weniger: Das wird an diesem Tisch emotional diskutiert.
„Wir wollen, dass sich in Europa etwas grundsätzlich ändert.“Mit diesem Satz macht Heidi Scharf von den Linken gleich zu Beginn des Kandidatenabends klar: Nach ihrer Ansicht kann es so nicht bleiben. Dem ersten Frager schreibt sie ins Stammbuch: „Wir wollen weg von der neoliberalen Wirtschaftspolitik.“Scharf fordert in diesem Zusammenhang: „Wir brauchen europaweit Mindeststandards im Bereich der sozialen Sicherheit.“
Später wird das Thema Soziales spezifiziert: Vor allem Wohnungspolitik beschäftigt einige Interessenten an Scharfs Tisch. „Jeder Mensch muss einen Wohnraum bekommen, den er bezahlen kann“, fordert die Linken-Politikerin. Das gehört für sie zur Daseinsfürsorge. „Es kann nicht sein, das mit Wohnungen nur Spekulationsgewinne gemacht werden.“
In der Wirtschaftspolitik spricht sich Scharf dafür aus, dass „Unternehmen besteuert werden, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften“. Also nicht in Steueroasen. Auch die Rüstungspolitik kommt zur Sprache. Scharf sieht eine Militarisierung Europas. Eine gemeinsame europäische Armee lehnt sie ab. „Wir sind zudem die einzige Partei, die gegen Kriegseinsätze und Rüstungsexporte ist“, betont sie.
Am Stand von Andreas Glück wird es gleich zu Beginn grundsätzlich. Wie die FDP denn zu ihrer Haltung komme, die Wirtschaft richte alles von alleine, will ein Besucher wissen. Glück geht gleich ein paar Schritte zurück von seinem Pult, fängt an zu gestikulieren – und erklärt, dass es den Liberalen um Eigenverantwortung gehe, darum, dass nicht ein „Nanny-Staat“alles reguliere. Dass er, Glück, sich aber sehr wohl einen starken Staat wünsche bei Daseinsvorsorge, Bildung, innerer und äußerer Sicherheit. „Ich will nicht nur dem Daimler und dem Bosch was Gutes“sagt der FDPMann – und gleitet dann vom Hochdeutschen ins Schwäbische. Der 44Jährige aus Münsingen im Landkreis Reutlingen bleibt dann weitgehend im Heimatdialekt, erzählt von seiner Idee von Leistungsgerechtigkeit und beantwortet Fragen zur GlyphosatZulassung durch die EU („Es ist schwierig, wenn die Wissenschaft sich streitet“). Und er, der heute im Landtag für Klima- und Energiepolitik zuständig ist, spricht über die liberale Klimaschutzstrategie: internationaler Zertifikatehandel statt CO2-Steuer.
Europa, kritisiert Glück, sei in Deutschland nicht mehr Chefsache. Als Beleg führt er die deutsche Reaktion auf Macrons europapolitische Rede an. „Macron macht Vorschläge, die Kanzlerin reagiert gar nicht, und nach zwei Wochen antwortet dann die CDU-Parteivorsitzende.“Auf den Einspruch, dass Macron eine Vergemeinschaftung von Schulden zum Ziel habe, entgegnet Glück: „Sie haben ja recht, das heißt ja nicht, dass man mit allem einverstanden sein muss.“Aber dem französischen Präsidenten eine Antwort geben, das hätte die Kanzlerin schon tun müssen, findet Glück.
Was das Wichtigste für ihn ist an Europa, das betont der FDP-Mann von der Alb an diesem Abend gleich zweimal: „Dass meine Kinder keinen Krieg erleben.“
„Ich möchte einen Emissionshandel haben, bei dem wir die Emissionen über Zertifikate steuern.“
Norbert Lins (CDU)
„Wir wollen einen armutsfesten Mindestlohn in ganz Europa.“
Matthias Lamprecht (SPD)
„Wir brauchen endlich eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik.“
Michael Bloss (Grüne)
„Seenotrettung ja. Aber wir wollen die Menschen an ihren Ausgangspunkt zurückführen.“
Rebecca Weißbrodt (AfD)
„Jeder Mensch muss einen Wohnraum bekommen, den er bezahlen kann.“
Heidi Scharf (Linke)
Nach zweieinhalb Stunden lebhafter Debatten leeren sich die Tische im Foyer des Medienhauses. Die Besucher ziehen ein überwiegend positives Fazit. Er habe von einigen Kandidaten einen sehr guten Eindruck bekommen, resümiert Günter Förstner aus Berg bei Ravensburg. Und Rainer Fischer lobt die Möglichkeit, die Kandidaten im direkten Gespräch zu befragen. Der Kontakt ist unmittelbarer, man spricht nicht so über die Köpfe hinweg“, sagt der Weingartener. „So lernt man die Kandidaten besser kennen.“Und Wolfgang Blumenschein aus Bad Schussenried im Landkreis Biberach ist zu dem Schluss gekommen, „dass auch die Kandidaten der Parteien, die ich nicht wählen werde, ganz schön wach sind.“ „Wäre Europa ein Tier, es wäre ein ...“: So haben die Kandidaten auf diese Frage geantwortet: www.schwäbische.de/ langerabend
„Es kann nicht sein, dass Macron zur Erneuerung Europas aufruft, und aus Deutschland kommt nichts.“
Andreas Glück (FDP)