Ein Job, zwei Welten
Besonders in kleinen Orten wird es immer schwieriger, Bürgermeister zu finden – Doch ist das Amt dort so viel unattraktiver als in der Stadt? Wir haben zwei Rathauschefs begleitet
- Norbert Zeidler und Raphael OsmakowskiMiller haben so manches gemeinsam. Beide sind im gleichen Alter. Beide haben zwei Kinder. Beide sind Bürgermeister. Und: Beide lieben ihren Job. Trotzdem könnte ihr Alltag kaum verschiedener sein. Als Oberbürgermeister der Stadt Biberach hat Norbert Zeidler 464 Mitarbeiter – alleine in der Verwaltung. Die kleine Gemeinde Beuron muss hingegen mit einem ehrenamtlichen Bürgermeister und einer weiteren Mitarbeiterin im Rathaus auskommen. Beide Bürgermeister kennen die Sonnen- und Schattenseite ihres Berufs. Die „Schwäbische Zeitung“hat sie einen Tag lang begleitet.
Es ist eine Studie des Politikwissenschaftlers Vincenz Huzel, die Anfang Dezember für großes Aufsehen sorgte. Huzel hatte die Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg zwischen 2008 und 2015 untersucht und rund 530 Bürgermeister im Südwesten befragt. Das alarmierende Ergebnis: Steigender Stress und ein immer rauer werdender Umgangston machen den Beruf zunehmend unattraktiv. Hinzu kommt, dass sich der Beruf nicht gut mit dem Familienleben vereinbaren lasse. Vor allem für kleine Gemeinden werde es aufgrund dieser Rahmenbedingungen immer schwerer, Bürgermeisterkandidaten zu finden. Immer häufiger sind unter den Kandidaten Quereinsteiger.
So auch Raphael OsmakowskiMiller. Hauptberuflich ist Beurons ehrenamtlicher Bürgermeister Polizist. Doch an zwei Tagen pro Woche – immer montags und mittwochs – ist der 49-Jährige in seinem Büro im Rathaus anzutreffen. Beigefarbene Aktenschränke, Spitzenvorhänge und ein großer, massiver Holzschreibtisch verströmen dort den Charme der 1950er-Jahre. Vor dem Fenster: grüne Wiesen, Bahngleise, Wald. Mit gerade einmal 650 Einwohnern ist Beuron die kleinste Gemeinde im Landkreis Sigmaringen. Idyllisch im Donautal gelegen erstrecken sich die fünf Teilorte auf einer Länge von 25 Kilometern.
Norbert Zeidler hingegen hat eine ganz klassische Laufbahn hinter sich: Studium zum DiplomVerwaltungswirt, Referent des Oberbürgermeisters in Ellwangen, Pressereferent der Landesvertretung Baden-Württemberg. 1999 wird Zeidler zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt – damals noch in der Gemeinde Remshalden im Rems-Murr-Kreis. 2013 folgt der Wechsel nach Biberach an der Riß. Dort führt eine massive Holztreppe in den zweiten Stock des historischen Rathauses. Zeidlers Büro ist groß und luftig. Weiße Wände, helle Vorhänge, grauer Teppichboden. Neben einem großen Schreibtisch steht ein Rednerpult, am Konferenztisch gegenüber ist Platz für acht Personen. Vor den Fenstern herrscht reges Treiben – denn es ist Weihnachtsmarkt in Biberach. „Heute haben wir einen ganz typischen Bürotag“, sagt der Oberbürgermeister. Sein Referent hat ihm bereits den Tagesablauf ausgedruckt.
Dass immer weniger Verwaltungsfachleute Bürgermeister werden wollen, beobachtet auch Rafael Bauschke, Professor an der Verwaltungshochschule Ludwigsburg. „Es ist nach wie vor ein attraktiver Karriereweg. Und unsere Studenten wollen auch Karriere machen. Viele streben aber erst einmal eine Amtsleitung an und wollen Erfahrung sammeln, bevor sie sich um eine Bürgermeisterstelle bewerben“, sagt Bauschke. Dabei liege der Vorteil von Bewerbern aus der Verwaltungshochschule auf der Hand: Sie beherrschen die Verwaltung aus dem Effeff. „Von Quereinsteigern verlangt der Job eine steile Lernkurve“, so Bauschke. OsmakowskiMiller sei die Umstellung nicht schwergefallen – als Polizist sei er es gewohnt, Gesetzestexte zu lesen und die Abläufe in der Verwaltung lernte er als Stadtrat in Bad Saulgau kennen. Er ist überzeugt: „Wenn man eine positive Einstellung hat und Menschen mag, dann kann es nicht schlecht werden.“
Alle 30 bis 60 Minuten steht für Oberbürgermeister Norbert Zeidler etwas anderes auf dem Programm: Er bespricht eine Präsentation mit der Geschäftsführerin der WielandStiftung, lernt den neuen Leiter des Polizeireviers kennen, befördert eine Mitarbeiterin, verabschiedet eine Mitarbeiterin, schreibt Weihnachtspost und trifft sich zum Mittagessen mit dem Pfarrer. All das alleine am Vormittag. „Der Tag geht wie im Flug vorüber“, sagt der 52-Jährige. Gerade vor Weihnachten gebe es noch jede Menge abzuarbeiten. 60- bis 70-Stunden-Wochen und häufig auch Termine am Wochenende seien keine Seltenheit.
Für Raphael Osmakowski-Miller beginnt der Tag an einem Schreibtisch im Notariat in Pfullendorf. Mit dabei ist auch ein älteres Ehepaar, ihnen gegenüber sitzt die Notarin. Die Gemeinde will ein Grundstück kaufen. Absatz für Absatz liest die Notarin mit ruhiger Stimme den Kaufvertrag vor. Die beiden Eheleute und der Bürgermeister unterschreiben. Osmakowski-Miller ist zufrieden, bedankt sich freundlich im Namen der Gemeinde. Und auch das Ehepaar scheint erleichtert – denn mit dem Verkauf des Grundstücks bleibt ihnen auch der künftige Ärger mit dem Pächter erspart. „Auf dem Grundstück ist ein Missstand, den ich beseitigen möchte“, erklärt Osmakowski-Miller. Der aktuelle Pächter lagert mehrere alte Autos und Schrott auf der Fläche. „Das ist die unangenehme Seite. Manchen Bürgern muss man auf die Füße treten“, so der Bürgermeister.
Dass der Bürgermeister selbst den Termin beim Notariat wahrnimmt, sei in größeren Gemeinden eher unüblich, sagt OsmakowskiMiller, während er sein Auto durch die kurvige Felsenlandschaft in Richtung Beuron steuert. Je kleiner die Gemeinde und je kleiner die Verwaltung, desto mehr Aufgaben würden vom Bürgermeister selbst übernommen. So komme es durchaus vor, dass Osmakowski-Miller etwa die Post an Falschparker verschickt, beim Aufstellen neuer Schilder dabei ist oder den Wohnmobilstellplatz der Gemeinde entwirft. Nicht immer sei es einfach, all diese Aufgaben an zwei Tagen pro Woche zu bewältigen. „Wenn man die Kraft auf das Wesentliche konzentriert, klappt es auch. Man kann sich um jeden Gartenzaun kümmern – oder eben um die Gesamtgemeinde. Das Gesamtwohl steht deshalb immer an erster Stelle“, sagt Osmakowski-Miller.
In einer Stadt mit 35 000 Einwohnern ist es hingegen kaum denkbar, dass sich der Bürgermeister mit einem Strafzettel beschäftigt. Deshalb ist die Stadtverwaltung in Biberach in vier Dezernate unterteilt. In jedem Dezernat gibt es wiederum die einzelnen Ämter, die sich mit ihren jeweiligen Themen befassen. Ist eine Entscheidung zu treffen, gibt der Amtsleiter eine Vorlage an die Dezernatsleitung und diese an den Oberbürgermeister. „Es ist schwierig einzugreifen, weil die Unterlagen erst gegen Ende des Prozesses beim Oberbürgermeister landen“, sagt Zeidler. „Ich bin in großem Maße darauf angewiesen, dass die Teams gut funktionieren.“
Doch aller Mühe zum Trotz gelingt es weder Zeidler noch Osmakowski-Miller jeden einzelnen Bürger zufriedenzustellen. „Man hat in jeder Gemeinde den notorischen Stänkerer“, sagt OsmakowskiMiller. Für seinen Dauer-Querulanten hat er sogar ein eigenes Ablagefach. Mit Hass sei er bislang nicht konfrontiert worden, doch: „Das Amt des Bürgermeisters ist sicher nicht bequem.“Das hat auch sein Biberacher Kollege zu spüren bekommen. Erst vor Kurzem hat ein Unbekannter Zeidlers Auto zerkratzt. Auch in sozialen Netzwerken erlebe er einen respektlosen Umgangston. „Es gibt immer wieder Mails oder Schreiben, bei denen man nur den Kopf schütteln kann – stilistisch, grammatikalisch und inhaltlich. Die Anonymität hat dem nochmal einen Schub verliehen“, sagt Zeidler. Es habe allerdings keinen Sinn, gegen solche Windmühlen zu kämpfen.
Während Osmakowski-Miller und Zeidler dieses Problem recht gelassen hinnehmen, scheinen die zunehmenden Anfeindungen viele potenzielle Bewerber abzuschrecken. „Das ist eine Entwicklung, mit der Bürgermeister und Politiker zunehmend konfrontiert sind. Und das macht zusätzlich Stress“, sagt Michael Makurath, Präsident des Verbands baden-württembergischer Bürgermeister. Anfeindungen im Netz haben laut Makurath „in unglaublichem Maße zugenommen“. Gleichzeitig ist das Ansehen der Bürgermeister in der Gesellschaft nach wie vor hoch. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die im vergangenen Mai veröffentlicht wurde, gaben 63,8 Prozent der Befragten an, ihrem Bürgermeister großes oder sehr großes Vertrauen entgegenzubringen. Damit stehen Bürgermeister deutlich besser da als etwa Europapolitiker (31,8 Prozent) oder Bundespolitiker (28,3 Prozent). Osmakowski-Miller sieht darin aber auch ein Problem: „Wenn Bundespolitiker heute so und morgen so reden, dann sorgen sie dafür, dass Politiker nicht mehr glaubhaft sind.“Viele scheuten sich davor, Verantwortung zu übernehmen – das zeichne sich nun auch bei den Bürgermeisterwahlen ab.
Am Nachmittag sitzt Norbert Zeidler am Konferenztisch in seinem Büro und lauscht aufmerksam den Anliegen der Biberacher. Für die Bürgersprechstunde, die er einmal im Monat anbietet, haben sich dieses Mal acht Personen angemeldet. Sie haben jeweils 20 Minuten Zeit, um ihre Probleme und Wünsche zu schildern. Ein Mann beschwert sich über Raser in der Spielstraße, ein Ehepaar über Lärmbelästigung. Eine ältere Dame mit Rollator wünscht sich bessere Wege auf dem Friedhof. Und ein Mann aus Afghanistan informiert sich über seine Aufenthaltsgenehmigung – denn er hat Arbeit und möchte bleiben. Zeidler hört aufmerksam zu, macht Notizen und sagt den Bürgern dann klar und bestimmt, welche Themen er noch einmal angehen will und wo er keinen Handlungsbedarf sieht. „Es ist schön, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und dass sich etwas entwickelt“, sagt Zeidler. In seinem Beruf habe er seine Lebensrolle gefunden.
In Beuron widmet sich Osmakowski-Miller derweil der Weihnachtspost. „Gegen Weihnachten geht es hier meistens etwas ruhiger zu“, sagt er. Am Abend wird er die letzte Gemeinderatssitzung des Jahres leiten – auf der Agenda steht der Haushaltsentwurf für 2020. Er sieht der Sitzung entspannt entgegen, im Gemeinderat herrsche eine familiäre Atmosphäre. Im Nebenzimmer bereitet Rathausmitarbeiterin
Elvira Kutz die Geschenke für die anschließende Weihnachtsfeier vor. Seit 38 Jahren arbeitet sie für die Gemeinde Beuron. Weil sie die einzige Verwaltungsmitarbeiterin ist, bleibt das Rathaus geschlossen, wenn sie einmal Urlaub hat. „Es ist schon manchmal schwierig“, sagt sie lächelnd. „Beuron hat zwar nur 650 Einwohner, der Verwaltungsaufwand ist aber trotzdem sehr groß.“Auch Oberbürgermeister Norbert Zeidler kennt den Ärger mit der Bürokratie: „Das nervt mich im Alltag am meisten.“
Osmakowski-Miller ist klar, dass er auf die Arbeit seiner Mitarbeiterin angewiesen ist: „Wenn die Verwaltung nicht gut zusammenarbeitet, kann man auch nichts bewegen.“Und bewegen will der ehrenamtliche Bürgermeister viel: Als erste Flächengemeinde in BadenWürttemberg soll Beuron bis 2021 komplett mit Glasfaser ausgestattet sein. Auch der Ausbau des Nahwärmenetzes und eine neue Kläranlage stehen derzeit auf der Agenda – hohe Investitionen für eine Gemeinde in dieser Größenordnung, die ohne Fördermittel nicht möglich wären. Für Osmakowski-Miller ist das Amt ein Traumberuf. „Ich habe schon in der vierten Klasse gesagt, ich werde Bürgermeister“, erzählt er und lacht. „Den Stress sehe ich dann gar nicht, weil es immer mein Ziel war.“
Damit sich auch in Zukunft noch genügend Bewerber finden, will der Verband baden-württembergischer Bürgermeister einiges ändern. Makurath fordert etwa eine bessere Bezahlung – insbesondere in kleineren Gemeinden. Denn bei den Gehältern gibt es je nach Einwohnerzahl deutliche Unterschiede. Bei hauptamtlichen Bürgermeistern in kleinen Orten bis 1000 Einwohnern liegt das Einkommen bei rund 4000 Euro brutto im Monat. In großen Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern verdient der Oberbürgermeister gut 14 000 Euro. Bei Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern kann der Bürgermeister auch ehrenamtlich sein – dann erhält er lediglich eine Aufwandsentschädigung, die zwischen 900 und knapp 4000 Euro liegt. „Finanziell konkurrieren wir mit anderen Arbeitgebern. Dort steht man als Mitarbeiter auch nicht andauernd am Pranger“, sagt Michael Makurath.
Auch über die Bezahlung hinaus sieht der Verbandspräsident Handlungsbedarf: etwa bei der steigenden Zahl an Spaßbewerbern, die vielen Bürgermeistern ein Dorn im Auge sind. „Dem muss man einen Riegel vorschieben. Es kann nicht sein, dass Bürgermeisterwahlen zum Kasperletheater verkommen“, ärgert sich Norbert Zeidler. Der Verband baden-württembergischer Bürgermeister schlägt daher mehr Regularien für die Bewerbung vor – zum Beispiel Unterstützungsunterschriften. Rafael Bauschke von der Verwaltungshochschule Ludwigsburg sieht zudem die Kommunen in der Pflicht: „Man sollte auch über unkonventionelle Lösungen nachdenken. Zum Beispiel darüber, ob eine Verwaltung auch im Team geleitet werden könnte.“
Fest steht für alle: Trotz aller Miesmacher ist die Arbeit des Bürgermeisters für die Kommunen äußerst wichtig. „Es ist ein verantwortungsvoller Beruf, der von einer qualifizierten Auswahl lebt“, sagt etwa Makurath. Und auch Osmakowski-Miller hofft, dass sich in Zukunft genügend geeignete Bewerber finden werden: „Ich fände es schade, wenn das Amt von Menschen ausgeführt wird, die hauptsächlich sich selbst und ihre Karriere sehen.“
Gegen 19 Uhr nimmt Norbert Zeidler seine Krawatte ab. Nicht etwa, weil er sich in den Feierabend verabschiedet. Nach der Vereidigung des neuen Jugendparlaments steht für den Biberacher Oberbürgermeister noch ein letzter Termin an: die deutsche Tennismeisterschaft, die seit einigen Jahren in Biberach stattfindet. „Die große Bandbreite an diesem Beruf ist einfach toll“, sagt er. „Kultur, Sport, Polizei – und das alles an nur einem Tag.“Auch für Raphael Osmakowski-Miller neigt sich der Tag langsam dem Ende entgegen. Zufrieden bedankt er sich auf der Weihnachtsfeier bei den Gemeinderäten und den Partnern der Stadt. Die letzte Sitzung des Jahres ist abgeschlossen. Er stimmt ein Weihnachtslied an.
„Man kann sich um jeden Gartenzaun kümmern – oder um die Gesamtgemeinde.“ Raphael Osmakowski-Miller, ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Beuron
„Ich bin in großem Maße darauf angewiesen, dass die Teams funktionieren.“ Norbert Zeidler, Oberbürgermeister der Stadt Biberach