Der Exodus der Christen aus dem Nahen Osten
Die Lage in Syrien und im Irak hat sich weiter verschlechtert – Auch pro-türkische Milizen sind eine Gefahr
G- Pater Hovsep Bidoyan war zusammen mit seinem Vater auf dem Weg ins syrische Deir ez-Zor, als sein Auto von zwei Motorrädern aus beschossen wurde. Der armenisch-katholische Priester verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus, wo auch sein Vater starb. Der am 11. November dieses Jahres getötete Geistliche hatte sich für den Wiederaufbau der Kirchengemeinden in Ost-Syrien eingesetzt, berichtet Boutros Marayati, der armenische Erzbischof von Aleppo. „Pater Bedoyan verstand es, in einer extrem instabilen und gefährlichen Situation, Solidarität unter den Menschen zu schaffen.“
Zu dem Attentat bekannte sich eine Untergrundzelle des sogenannten Islamischen Staates (IS). Die Terrororganisation habe gewusst, dass der Priester die für den Wiederaufbau der Kirchengemeinden notwendigen Gelder dabei hatte, sagt Boutros Marayati. Es sei ein gezielter Anschlag gewesen, damit auch die wenigen Christen, die geblieben sind, ihrer Heimat den Rücken kehren.
„Schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen“, zitiert der Erzbischof aus dem Matthäusevangelium. Nach diesem Grundsatz, so Marayati, hätten auch die Osmanen und Jungtürken gehandelt, als sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst die Kirchenführung (in Istanbul) ermordeten und anschließend mehr als 1,5 Millionen armenische Christen im Osmanischen Reich zu Tode kamen.
Dass sich jetzt die Geschichte in Städten wie Deir ez-Zor, in denen die Todesmärsche von 250 000 Armeniern in Massengräbern endeten, wiederhole, ist für die Nachkommen der damals Deportierten kein Zufall. „Als 1915 der Genozid verübt wurde, ertönten Muezzin-Rufe für die Vernichtung der Armenier aus den Lautsprechern der Moscheen“, sagt Nubar Melkonian aus der Kommandantur des armenischen Bataillon im Norden Syriens im Gespräch mit der kurdischen Nachrichtenagentur ANF.
„Gleiches geschah während des türkischen Einmarsches in Nord-Syrien Anfang November“, gibt der für die kurdischen Volksverteidigungsmilizen (YPG) kämpfende Armenier zu Protokoll: „Von allen Minaretten entlang der türkisch-syrischen
Grenzlinie erschallten Gebetsaufrufe für den Sieg des ,ruhmreichen’ türkischen Heeres.“
Unterstützt wird die Invasionsarmee von der sogenannten Syrischen Nationalarmee, bei der es sich in Wirklichkeit um einen Zusammenschluss radikaler Dschihadistenmilizen handelt. Diese gehen nicht nur ähnlich vor wie der IS vor seiner weitgehenden Zerschlagung in OstSyrien, viele der früheren IS-Kämpfer haben lediglich die Uniformen gewechselt, bevor sie im syrischen Kurdistan die mit der YPG sympathisierenden armenischen und assyrischen Christen angriffen und ihre Gotteshäuser verwüsteten.
„Man will unsere Ängste schüren und uns in die Flucht treiben. Die Armenier sollen sich wieder wie Granatapfelkerne zerstreuen“, empört sich Melkonian, der sich zur „fünften Generation“der Überlebenden von 1915 zählt. „Wer damals die Entbehrungen, Krankheiten sowie Kälte und Hunger in den Konzentrationslagern
überlebte, baute sich in der Wüste Ost-Syriens ein neues Zuhause auf.“So hätten die Genozid-Überlebenden ihre Sprache und Identität bis heute bewahren können.
Bis zum Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime im Frühjahr 2011 war Syrien nach Ägypten das Land mit der größten christlichen Minderheit im Nahen Osten. Knapp drei Millionen Christen konnten in dem säkularen arabischen Land ihre Religion ausüben. Als Minderheit stellten sie sich meist hinter das Regime in Damaskus, was sie in den Augen des radikal-islamisch geprägten Widerstands zu „Komplizen von Ungläubigen“machte.
Aus Furcht vor den Gewaltorgien der Dschihadisten haben fast 1,5 Millionen syrische Christen in den vergangenen sieben Jahren ihr Land verlassen. Noch dramatischer ist die Lage im Irak, wo die Zahl der Christen seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahre 2003 auf 300 000 geschrumpft ist. Davor hatten im Zweistromland
rund 1,5 Millionen Christen gelebt. Viele von ihnen gingen nach Jordanien, wo sie „der Sicherheit und Stabilität unter dem irakischen Diktator“nachtrauern.
Ein Ende des Abwärtstrends ist nicht in Sicht, allenfalls eine Verlangsamung. So waren aus der NiniveEbene bei Mossul vor fünf Jahren 125 000 überwiegend chaldäische Christen vom IS vertrieben worden. Dass inzwischen die Hälfte von ihnen zurückgekehrt ist, wird von katholischen Hilfswerken als ein positives Zeichen interpretiert.
Die ins Ausland gegangenen Christen werden allerdings nie wieder in ihre Heimat zurückkehren. „Wir sind besorgt und fragen uns, wohin sich unsere Länder mit dieser Massivität von Tod und Gewalt bewegen werden, unsere Länder, die voll von Opfern, Verwundeten, zerstörten Familien sind, ohne ausreichende Häuser, Schulen und Infrastrukturen“, sagte das Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, Patriarch
Mar Louis Raphael Sako Anfang Dezember in einem Gespräch mit der italienisch-katholischen Nachrichtagentur SIR.
Die traditionellen Weihnachtsfeiern hat Pater Sako wegen der Massenproteste im Irak mit mehr als 400 Toten demonstrativ abgesagt. Das für die Feiern, Konzerte, Christbäume und Straßendekorationen vorgesehene Geld spendete die chaldäisch-katholische Kirche einem Fond für verwundete Demonstranten. Der „offizielle“Weihnachtsbaum der Stadt Bagdad auf dem zentralen Tahrir-Platz der irakischen Hauptstadt wurde auf Weisung der Kirche nicht geschmückt. An den Zweigen hängen die Porträts der von Polizei und paramilitärischen Milizen getöteten Märtyrer.
Die Proteste haben die Iraker zusammengeschweißt. Niemand frage mehr nach der Religion. Auf dem Tahrir-Platz, sei in den vergangenen Monaten „ein neuer Irak geboren“, ist Pater Sako überzeugt.