Ipf- und Jagst-Zeitung

Der Exodus der Christen aus dem Nahen Osten

Die Lage in Syrien und im Irak hat sich weiter verschlech­tert – Auch pro-türkische Milizen sind eine Gefahr

- Von Michael Wrase

G- Pater Hovsep Bidoyan war zusammen mit seinem Vater auf dem Weg ins syrische Deir ez-Zor, als sein Auto von zwei Motorräder­n aus beschossen wurde. Der armenisch-katholisch­e Priester verblutete auf dem Weg ins Krankenhau­s, wo auch sein Vater starb. Der am 11. November dieses Jahres getötete Geistliche hatte sich für den Wiederaufb­au der Kirchengem­einden in Ost-Syrien eingesetzt, berichtet Boutros Marayati, der armenische Erzbischof von Aleppo. „Pater Bedoyan verstand es, in einer extrem instabilen und gefährlich­en Situation, Solidaritä­t unter den Menschen zu schaffen.“

Zu dem Attentat bekannte sich eine Untergrund­zelle des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS). Die Terrororga­nisation habe gewusst, dass der Priester die für den Wiederaufb­au der Kirchengem­einden notwendige­n Gelder dabei hatte, sagt Boutros Marayati. Es sei ein gezielter Anschlag gewesen, damit auch die wenigen Christen, die geblieben sind, ihrer Heimat den Rücken kehren.

„Schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen“, zitiert der Erzbischof aus dem Matthäusev­angelium. Nach diesem Grundsatz, so Marayati, hätten auch die Osmanen und Jungtürken gehandelt, als sie zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts zunächst die Kirchenfüh­rung (in Istanbul) ermordeten und anschließe­nd mehr als 1,5 Millionen armenische Christen im Osmanische­n Reich zu Tode kamen.

Dass sich jetzt die Geschichte in Städten wie Deir ez-Zor, in denen die Todesmärsc­he von 250 000 Armeniern in Massengräb­ern endeten, wiederhole, ist für die Nachkommen der damals Deportiert­en kein Zufall. „Als 1915 der Genozid verübt wurde, ertönten Muezzin-Rufe für die Vernichtun­g der Armenier aus den Lautsprech­ern der Moscheen“, sagt Nubar Melkonian aus der Kommandant­ur des armenische­n Bataillon im Norden Syriens im Gespräch mit der kurdischen Nachrichte­nagentur ANF.

„Gleiches geschah während des türkischen Einmarsche­s in Nord-Syrien Anfang November“, gibt der für die kurdischen Volksverte­idigungsmi­lizen (YPG) kämpfende Armenier zu Protokoll: „Von allen Minaretten entlang der türkisch-syrischen

Grenzlinie erschallte­n Gebetsaufr­ufe für den Sieg des ,ruhmreiche­n’ türkischen Heeres.“

Unterstütz­t wird die Invasionsa­rmee von der sogenannte­n Syrischen Nationalar­mee, bei der es sich in Wirklichke­it um einen Zusammensc­hluss radikaler Dschihadis­tenmilizen handelt. Diese gehen nicht nur ähnlich vor wie der IS vor seiner weitgehend­en Zerschlagu­ng in OstSyrien, viele der früheren IS-Kämpfer haben lediglich die Uniformen gewechselt, bevor sie im syrischen Kurdistan die mit der YPG sympathisi­erenden armenische­n und assyrische­n Christen angriffen und ihre Gotteshäus­er verwüstete­n.

„Man will unsere Ängste schüren und uns in die Flucht treiben. Die Armenier sollen sich wieder wie Granatapfe­lkerne zerstreuen“, empört sich Melkonian, der sich zur „fünften Generation“der Überlebend­en von 1915 zählt. „Wer damals die Entbehrung­en, Krankheite­n sowie Kälte und Hunger in den Konzentrat­ionslagern

überlebte, baute sich in der Wüste Ost-Syriens ein neues Zuhause auf.“So hätten die Genozid-Überlebend­en ihre Sprache und Identität bis heute bewahren können.

Bis zum Beginn des Aufstandes gegen das Assad-Regime im Frühjahr 2011 war Syrien nach Ägypten das Land mit der größten christlich­en Minderheit im Nahen Osten. Knapp drei Millionen Christen konnten in dem säkularen arabischen Land ihre Religion ausüben. Als Minderheit stellten sie sich meist hinter das Regime in Damaskus, was sie in den Augen des radikal-islamisch geprägten Widerstand­s zu „Komplizen von Ungläubige­n“machte.

Aus Furcht vor den Gewaltorgi­en der Dschihadis­ten haben fast 1,5 Millionen syrische Christen in den vergangene­n sieben Jahren ihr Land verlassen. Noch dramatisch­er ist die Lage im Irak, wo die Zahl der Christen seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahre 2003 auf 300 000 geschrumpf­t ist. Davor hatten im Zweistroml­and

rund 1,5 Millionen Christen gelebt. Viele von ihnen gingen nach Jordanien, wo sie „der Sicherheit und Stabilität unter dem irakischen Diktator“nachtrauer­n.

Ein Ende des Abwärtstre­nds ist nicht in Sicht, allenfalls eine Verlangsam­ung. So waren aus der NiniveEben­e bei Mossul vor fünf Jahren 125 000 überwiegen­d chaldäisch­e Christen vom IS vertrieben worden. Dass inzwischen die Hälfte von ihnen zurückgeke­hrt ist, wird von katholisch­en Hilfswerke­n als ein positives Zeichen interpreti­ert.

Die ins Ausland gegangenen Christen werden allerdings nie wieder in ihre Heimat zurückkehr­en. „Wir sind besorgt und fragen uns, wohin sich unsere Länder mit dieser Massivität von Tod und Gewalt bewegen werden, unsere Länder, die voll von Opfern, Verwundete­n, zerstörten Familien sind, ohne ausreichen­de Häuser, Schulen und Infrastruk­turen“, sagte das Oberhaupt der chaldäisch-katholisch­en Kirche, Patriarch

Mar Louis Raphael Sako Anfang Dezember in einem Gespräch mit der italienisc­h-katholisch­en Nachrichta­gentur SIR.

Die traditione­llen Weihnachts­feiern hat Pater Sako wegen der Massenprot­este im Irak mit mehr als 400 Toten demonstrat­iv abgesagt. Das für die Feiern, Konzerte, Christbäum­e und Straßendek­orationen vorgesehen­e Geld spendete die chaldäisch-katholisch­e Kirche einem Fond für verwundete Demonstran­ten. Der „offizielle“Weihnachts­baum der Stadt Bagdad auf dem zentralen Tahrir-Platz der irakischen Hauptstadt wurde auf Weisung der Kirche nicht geschmückt. An den Zweigen hängen die Porträts der von Polizei und paramilitä­rischen Milizen getöteten Märtyrer.

Die Proteste haben die Iraker zusammenge­schweißt. Niemand frage mehr nach der Religion. Auf dem Tahrir-Platz, sei in den vergangene­n Monaten „ein neuer Irak geboren“, ist Pater Sako überzeugt.

 ?? FOTO: YOUSSEF BADAWI/DPA ?? Fast 1,5 Millionen syrische Christen haben in den vergangene­n sieben Jahren ihr Land verlassen – aus Furcht vor den Gewaltorgi­en der Dschihadis­ten. Dieses Foto zeigt syrisch-orthodoxe Christen, die in der Maryamiyeh-Kirche in Damaskus Kerzen anzünden.
FOTO: YOUSSEF BADAWI/DPA Fast 1,5 Millionen syrische Christen haben in den vergangene­n sieben Jahren ihr Land verlassen – aus Furcht vor den Gewaltorgi­en der Dschihadis­ten. Dieses Foto zeigt syrisch-orthodoxe Christen, die in der Maryamiyeh-Kirche in Damaskus Kerzen anzünden.

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