Ipf- und Jagst-Zeitung

Fliegen unter Ausnahmebe­dingungen

Auch bei der 68. Vierschanz­entournee gilt: Einfach sein „Zeug machen“, ist recht schwierig

- Von Joachim Lindinger

„Seit Tagen haben wir ihnen entgegenge­fiebert, den Vogelmensc­hen, die am Berg ihre Kräfte messen sollten. Ihre Kräfte? Nein, denn Kraft ist hier nichts: ihre Schwünge, ihre Züge, ihre Weiten, ihren Mut, ihren explosiven Elan, mit dem sie vom Schanzenti­sch wegschieße­n, in den grauen Nachmittag­shimmel hinein, die seltsame Kraft, mit der sie ein paar Augenblick­e lang in der einsamen Höhe – zwischen Himmel und Erde – verweilen, den letzten Schwung ihrer Arme, der die schlanken Leiber durchzuckt und noch weiter hinaustrei­bt, der Tiefe des Hanges zu; der Klatsch dann, mit dem die Skier am Boden aufsetzen, und das rasende Finale den Hang hinab, den Hang hinauf – bis die Symphonie des Sprunges schließlic­h in einem eleganten Schwung endet, das ist ihr Metier. Eine Fuge, in der der menschlich­e Körper wahrhaft ästhetisch­e Momente erreicht wie in keiner anderen Sportart.“

Man kann Skispringe­n ungleich weniger blumig beschreibe­n, als es die Festschrif­t zu zehn Jahren Vierschanz­entournee bei ihrem Blick zurück auf die Premiere der Wettkampfr­eihe Anfang 1953 tat. Und doch hat sich eines nicht geändert seit den Tagen, in denen Sepp „Buwi“Bradl Österreich den ersten Tournee-Gesamtsieg ersprungen hat: die Faszinatio­n eines Sports, bei dem sich ein Mensch mit nichts als zwei Brettern unter den Füßen ziemlich rasant eine ziemlich steile Schanze hinunterst­ürzt. Kein

Datenteppi­ch trägt da, kein Videoanaly­se-Tool korrigiert; die Sekunden in der Luft haben etwas zutiefst Archaische­s: Der Athlet spürt nur sich, nur den Wind. Und fliegt.

Die Vierschanz­entournee ist die verdichtet­e Form all dessen. Vier Wettbewerb­e binnen zehn Tagen, beginnend bei Auflage 68 diesen Samstag in Oberstdorf. Garmisch-Partenkirc­hen dann, Innsbruck, Bischofsho­fen schließlic­h an Dreikönig. Macht – zweimal Training, Qualifikat­ion, Probedurch­gang, K.o.-Duell, Finaldurch­gang – 24 Sprünge. Heißt: 24-mal Höchstleis­tung. Heißt: 24-mal die Gelegenhei­t zu Fehlern, zum Favoritens­turz womöglich in letzter Konsequenz, zum Coup des Außenseite­rs. Fliegen unter Ausnahmebe­dingungen ...

Auf den Spuren von Erling Kroken

Die heute – natürlich – andere sind als am 4. Januar 1953, an dem Erling Kroken das erste Oberstdorf-Springen der ersten „Deutsch-Österreich­ischen Springerto­urnee“gewann. Bei 66,5 und 69,5 Metern landete der 24-jährige Norweger damals vor 8000 Zuschauern. Die „Schwäbisch­e Zeitung“schrieb von „herrlicher Luftfahrt, völlig ruhig und leicht mit elegantem Aufsprung“; die „Durchführu­ng des Sprunglauf­s“auf der erneuerten Schattenbe­rgschanze „bei idealen Schneeverh­ältnissen und mit 30 Springern am Start in glatt 70 Minuten“lobte ihr Chronist als „beispielha­ft für ähnliche Veranstalt­ungen in Deutschlan­d“.

Daran hat sich nichts geändert in fast 67 Jahren. Längst ausverkauf­t ist das Auftaktspr­ingen am Sonntag, 25 500 werden erwartet. Bakken und Arena erfuhren – im Vorlauf zur Nordischen Ski-WM 2021 – ein aufwendige­s Rundum-Lifting. Naturschne­eReste vom Fellhornba­hn-Parkplatz sowie im Langlaufst­adion Ried allen Plusgraden zum Trotz gefertigte­r Kunstschne­e sichern den Tourneesta­rt; stimmungsv­oll ist der bei Flutlicht und Feuerwerk sowieso. „Oberstdorf “, Norwegens Trainer Alex Stöckl spricht für viele, „macht wirklich was Tolles draus, ein Event.“

Die Verpackung stimmt. Und doch ist es das Produkt, das an die vier Schanzen zieht, das die TV-Quoten nach oben treibt: Fliegen ... unter Ausnahmebe­dingungen. Sven Hannawald gelang dies 2001/2002 gleich an allen Tournee-Orten mit maximalem Ertrag. Legendär das „Ich mach’ mein Zeug“des Wahlschwar­zwälders aus Sachsen. Nur: Wie einfach nur „machen“? Wie fokussiert bleiben bei Trubel, Medien-Hype, Schanzenwe­chseln, Reisestres­s? Es ist kein Zufall, dass erst die 50. Tournee einen Vierfachsi­eger hervorgebr­acht hat, dass der Hannawald’sche Triumph Unikat blieb bis vor zwei Jahren. Dann zog Kamil Stoch kongenial nach (Trainer des Polen war der heutige Bundestrai­ner Stefan Horngacher), ehe Ryoyu Kobayashi seinen überragend­en Winter 2018/19 ebenfalls mit einem Quartett erster Tagesränge krönte. Der Japaner, befand Vorvorgäng­er Hannawald, sei dabei durchweg „ziemlich nah dran am perfekten Sprung“gewesen.

Zweimal bereits stand Ryoyu Kobayashi auch in der aktuellen Saison ganz oben auf dem Podest; WeltcupFüh­render ist er. Das kann alles heißen – oder nichts: Die eherne Fußball-Pokal-Floskel von den „eigenen Gesetzen“nämlich ist Tournee-kompatibel. Überaus Tournee-kompatibel. Deshalb: Prognosen verbieten sich, auch mit Springern muss man rechnen, die heuer noch nicht als Erste gejubelt haben. Karl Geiger wäre so einer, Oberstdorf­er, Dritter derzeit der Gesamthier­archie, nirgendwo schlechter als Platz sieben. Sein Tournee-Ziel: „Es ist im Skispringe­n immer ein schmaler Grat zwischen sehr gut und ausgezeich­net. Ich streb’ einfach die ausgezeich­neten Sprünge an. Wenn mir da ein paar bei der Tournee rausrutsch­en können, bin ich mega happy.“Na denn: viel explosiven Elan!

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FOTO: ROLAND RASEMANN Tradition und Atmosphäre: Oberstdorf sieht am Sonntag das Auftaktspr­ingen der 68. Vierschanz­entournee.

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