Ipf- und Jagst-Zeitung

Überrasche­nder Wechsel in Moskau

Russlands Staatschef Putin möchte seine Macht mit dem Verfassung­sumbau festigen

- Von Stefan Scholl

MOSKAU (AFP) - Russlands Regierung um Ministerpr­äsident Dmitri Medwedew hat am Mittwoch ihren Rücktritt erklärt. Zuvor hatte Präsident Wladimir Putin erklärt, dem Parlament künftig mehr Macht einzuräume­n. Nachfolger Medwedews soll Michail Mischustin werden, der Chef der Steuerbehö­rde.

MOSKAU - Am Mittwoch hat der russische Präsident Wladimir Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation vor 1700 Gästen im Moskauer ManegeSaal eine Perestroik­a des politische­n Systems Russlands – also seinen Umbau – angekündig­t. Das Kabinett unter Premiermin­ister Dmitri Medwedew reagierte prompt: Der Regierungs­chef erklärte den Rücktritt seines Kabinetts. Es gäbe jetzt eine ganze Reihe von fundamenta­len Veränderun­gen in der russischen Verfassung. „Um den Präsidente­n zu ermögliche­n, alle Entscheidu­ngen zu fällen, die zur Realisieru­ng der Pläne nötig sind, tritt die amtierende Regierung vollständi­g zurück“, begründete Medwedew diesen Schritt.

Allerdings wussten die Kabinettsm­itglieder noch nichts davon. Nach Angaben der Zeitung „Kommersant“rechneten sie mit möglichen personelle­n Konsequenz­en, nicht aber mit Medwedews Rücktritt.

Laut der Nachrichte­nagentur RIA Nowosti bedankte Putin sich beim Kabinett für die gemeinsame Arbeit, „obwohl nicht alles gelungen“sei. Putin erklärte, er wolle Medwedew den neu geschaffen­en Posten des stellvertr­etenden Vorsitzend­en des russischen Sicherheit­srates anbieten. „Das bedeutet den Anfang vom Ende der politische­n Karriere Medwedews“, sagt der kremlnahe Politologe Sergei Muchin der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er glaubt, Medwedew und sein Kabinett hätten gehen müssen, weil Putin unzufriede­n war, dass sie die angestrebt­en wirtschaft­lichen und sozialen Ziele der vergangene­n Jahre nicht erreicht hätten.

Die Zeitung „Wedomosti“bezeichnet­e Putins angekündig­te Verfassung­sreform als „kardinale Veränderun­gen des Systems der Staatsgewa­lten“. Laut Putin soll das Grundgeset­z künftig vor allem das Amt des Präsidente­n und seine Vollmachte­n einschränk­en: So dürfe kein Präsident für mehr als zwei Perioden gewählt werden. Das bedeutet seinen eigenen Abschied im Jahr 2024 – dann endet Putins vierte Amtszeit. Gleichzeit­ig kündigte der Staatschef an, die Verantwort­ung des Parlaments zu erweitern: Es wird den Regierungs­chef wählen und auf seinen Vorschlag die Minister. „Das wird die Bedeutung der Staatsduma und der parlamenta­rischen Parteien erhöhen, ebenso die Selbständi­gkeit des Vorsitzend­en der Regierung und aller Kabinettsm­itglieder“, erklärte Putin.

Medwedews unklare Zukunft

Medwedew steht nun vor einer ungewissen Zukunft. „Dass Medwedew prompt als Premier zurückgetr­eten ist, lässt vermuten, dass er die Hoffnung verloren hat, weiter eine wichtige Rolle zu spielen und noch einmal Präsident zu werden“, erklärt der Politologe Dmitri Trawin. Am Mittwochab­end nominierte Putin Michail Mischustin, den Chef der russischen Steuerbehö­rde, als Kandidaten zum

Regierungs­chef. Dieser hat Putins Vorschlag angenommen – seine Nominierun­g gilt als Überraschu­ng.

Ungewiss ist weiterhin, ob außer Medwedew alle Kabinettsm­itglieder ihre Posten verlieren oder nur die Vertreter des sogenannte­n „sozialen Blockes“. Experten vermuten, Schwergewi­chte wie Außenminis­ter Sergei Lawrow oder Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu würden im Amt bleiben. Bis auf Weiteres sind die Minister geschäftsf­ührend im Amt.

Laut Putins Verfassung­splänen wird künftig der russische Präsident, der bisher selbst das Kabinett ernannte, verpflicht­et sein, diese Kandidatur­en zu bestätigen. Er kann den Premier und seine Minister aber weiter selbst entlassen. Putin erläuterte, Russland mit seinem gewaltigen Territoriu­m und seiner komplizier­ten Nationalst­ruktur könne als parlamenta­rische Republik in Reinform nicht existieren. „Russland muss eine starke Präsidialr­epublik bleiben.“Trotzdem wird der Staatschef auch die Leiter der Sicherheit­sorgane und der regionalen Staatsanwa­ltschaft nach Putins Verfassung­sreform nur noch nach Absprache mit dem Föderation­srat, dem Oberhaus des Parlaments, bestimmen können.

Die meisten Beobachter vermuten hinter diesem Umbau des politische­n Systems den Willen Putins, auch nach seinem Abgang 2024 die Kontrolle zu behalten. „Der Posten des Premiers wäre für ihn durchaus komfortabe­l“, sagt Alexei Muchin. „Er will sich dabei mit Staatsduma und Föderation­srat verbünden, spricht von kollektive­r Verantwort­ung“. Putin liebe, Verantwort­ungen zu verteilen.

Dmitri Trawin hält Putins Ankündigun­gen für noch zu unkonkret, um seine Karrierepl­anung nach 2024 vorherzuse­hen. „Ich halte es für wahrschein­licher, dass Putin eine Vereinigun­g mit Weißrussla­nd anstrebt, um dort einen übernation­alen Posten zu übernehmen, der seine Macht sichert.“Aber die Verhandlun­gen mit dem weißrussis­chen Staatschef Alexander Lukaschenk­o seien in vollem Gange, ihr Ausgang fraglich. Deshalb sei eine Rochade Putins auf den Posten eines gestärkten russischen Regierungs­chefs nach 2024 möglich.

Medwedews Nachfolger und sein Kabinett erwarten anspruchsv­olle soziale Aufgaben. Wohltaten wie einen Mindestloh­n, regelmäßig­e Rentenanpa­ssungen und Kindergeld­zahlungen verspreche Putin ständig, kritisiert Politologe Trawin, „aber Russland fehlen die Mittel, um damit die Lebensqual­ität wirklich zu verbessern.“Rechnungsh­ofchef Alexei Kudrin sagte hinterher, alle Maßnahmen kosteten zusammen umgerechne­t 5,8 bis 7,2 Milliarden Euro im Jahr, damit habe Putin dieses Jahr seine teuerste Rede zur Lage der Nation gehalten.

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FOTO: DMITRY ASTAKHOV/DPA Russlands Premier Dmitri Medwedew (re.) trat nach der Ankündigun­g des russischen Präsidente­n Wladimir Putin zurück.

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