Ipf- und Jagst-Zeitung

Gedankensp­iel mit Tempo 30

Sicherheit für Radfahrer soll erhöht werden

- Von Simon Sachseder

BERLIN (dpa) - Die Koalitions­fraktionen CDU/CSU und SPD wollen zusätzlich­e Maßnahmen für einen sichereren Radverkehr in Deutschlan­d. In einem am Freitag im Bundestag angenommen­en Antrag wird die Regierung zu Nachbesser­ungen aufgeforde­rt. Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) plant mit einer Reform der Straßenver­kehrsordnu­ng Verbesseru­ngen für Radfahrer. Den Fraktionen von Union und SPD gehen diese Vorschläge aber nicht weit genug. Nach ihrem Willen soll unter anderem getestet werden, wie der Verkehr aussehen würde, wenn innerorts generell nur Tempo 30 erlaubt wäre und Tempo 50 eigens angeordnet werden müsste.

Die AfD und die Grünen stimmten – aus unterschie­dlichen Gründen – gegen den Antrag. Die Linke und die FDP enthielten sich. „Autofahrer sind nicht das Feindbild der deutschen Verkehrspo­litik“, erklärte Christian Jung (FDP).

BERLIN (dpa) - Am Kottbusser Tor in Berlin stehen immer noch Kerzen, daneben liegen Blumen. Eine Radfahreri­n wollte an einem Nachmittag Anfang Januar die Kreuzung überqueren. Ein rechtsabbi­egender Lastwagen erfasst die 68-Jährige, überrollt sie. Die Frau stirbt. Am Freitag diskutiert­en nur wenige Kilometer von der Unfallstel­le entfernt die Abgeordnet­en des Bundestage­s über derartige Unfälle. Dabei setzten sich die Koalitions­fraktionen CDU/CSU und SPD mit einem Antrag durch, der die Regierung zu zusätzlich­en Maßnahmen für einen sichereren Radverkehr in Deutschlan­d auffordert.

Und das, obwohl Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer (CSU) bereits die Straßenver­kehrsordnu­ng ändern will. Nach seinen Vorstellun­gen soll zum Beispiel ein ausreichen­der Sicherheit­sabstand beim Überholen von Fahrradfah­rern durch Autofahrer festgeschr­ieben werden. Mindestens 1,5 Meter innerorts und zwei Meter außerorts würden dann im Gesetz stehen. Zudem könnte für Kraftfahrz­euge, die schwerer als 3,5 Tonnen sind, Abbiegen nur noch in Schrittges­chwindigke­it erlaubt sein. Das sei alles schon ganz gut, sagt SPD-Verkehrspo­litiker Mathias Stein. Aber: „Das geht noch besser.“

Der CSU-Verkehrspo­litiker Alois Rainer sagte: „Wir brauchen uns nichts vormachen – die Mobilität in unserem Land wird sich ändern.“In den Städten sei das Fahrrad meist das flotteste Fortbewegu­ngsmittel. Der CDU-Verkehrspo­litiker Christoph Ploß sagt, es könne nicht sein, dass schwächere Verkehrste­ilnehmer durch Rücksichts­losigkeit gefährdet würden. „Radfahrer, die sich an die Verkehrsre­geln halten, sollen deutliche Verbesseru­ngen erfahren.“

Nach dem Willen der Fraktionen soll unter anderem getestet werden, wie der Verkehr aussehen würde, wenn innerorts generell nur noch Tempo 30 erlaubt wäre und Tempo 50 auf Hauptverke­hrsstraßen eigens angeordnet werden müsste. Aus SPD-Sicht ließe sich durch die Absenkung des Tempolimit­s die Verkehrssi­cherheit erhöhen. „Bislang finden solche Absenkunge­n aber immer nur gezielt und in der Regel nicht in größeren Gebieten statt“, sagt die SPD-Verkehrspo­litikerin Kirsten Lühmann. Um valide Daten zu bekommen, benötige man mindestens zwei bis drei Jahre Testphase.

Die FDP will beim Schutz für Radler eher auf eine digitale Verkehrsle­nkung und Warnsystem­e setzen. Den Zwang zum Schritttem­po beim Abbiegen und ein generelles Tempo-30-Limit lehnt die Fraktion ab. „Autofahrer sind nicht das Feindbild der deutschen Verkehrspo­litik“, sagt der FDP-Verkehrspo­litiker Christian

Jung. Die AfD fürchtet die „ungehinder­te Reise in die ideologisc­he AntiAuto-Politik“. Tempo 30 in ganzen Städten würde die Verkehrsbe­ruhigung in den Nebenstraß­en zunichte machen, sagt der AfD-Verkehrspo­litiker Wolfgang Wiehle.

Der Mobilitäts­club ADAC äußert eine ähnliche Befürchtun­g: Auf vielen etwas kleineren Hauptstraß­en dürfte es schwierig sein, Tempo 50 anzuordnen. „Damit hätten diese Straßen eine wichtige Funktion eingebüßt: den Verkehr bündeln und Nebenstrec­ken und Wohngebiet­e von unerwünsch­tem Schleichve­rkehr zu verschonen.“

Dass Tempo 30 der große Wurf für Fahrradfah­rer wäre, bezweifelt der Leiter der Unfallfors­chung der Versichere­r, Siegfried Brockmann. Man könne davon ausgehen, dass Autofahrer dann mit etwa 40 unterwegs wären, aber: Schon heute seien nur bei elf Prozent der Fahrradunf­älle mit Personensc­haden Autos oder Lastwagen mehr als 40 Stundenkil­ometer schnell. Das liege unter anderem daran, dass die meisten Unfälle beim Abbiegen passierten. „Allerdings wäre es mal einen Großversuc­h wert – zum Beispiel in einer ganzen Kommune“, meint Brockmann.

Gerne mehr als einen Großversuc­h will der Fahrradver­band ADFC, der sich nach eigenen Angaben seit Längerem für ein allgemeine­s Tempo-30-Limit in Städten einsetzt.

„Grundsätzl­ich sollte gelten: Sicherheit für alle vor Tempo für einige“, heißt es vom Verband.

Den Grünen und den Linken gehen die Pläne der Regierung und der Koalitions­fraktionen nicht weit genug. „Sie machen nur das, was das Auto nicht einschränk­t“, sagt der Grünen-Radverkehr­spolitiker Stefan Gelbhaar mit Blick auf Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer. Geringere Geschwindi­gkeiten führten zu weniger schweren Unfällen.

Die Linken-Fraktionsv­orsitzende Amira Mohamed Ali sagte: „Wie gewohnt bleiben Union und SPD völlig hinter ihren Möglichkei­ten zurück.“Im Bundestag sprach sich die Partei für weitergehe­nde Maßnahmen wie die verpflicht­ende Ausstattun­g von Lkw mit Abbiegeass­istenzsyst­emen und Fahrradpar­khäusern an jedem größeren Bahnhof aus.

Zuspruch für den Antrag der Koalitions­fraktionen kam vom Deutschen Städtetag. Den Kommunen werde ein verbessert­er Spielraum gegeben, um den Radverkehr stärken zu können, sagte Hauptgesch­äftsführer Helmut Dedy. „Etwa dadurch, dass Städte und Gemeinden Tempo 30 km/h für ganze Straßen unabhängig von besonderen Gefahrensi­tuationen anordnen könnten.“Klar sei aber auch, dass die Städte den Ausbau der Radinfrast­ruktur nicht alleine stemmen könnten. Hier sei eine Radwegeoff­ensive von Bund, Ländern und Kommunen nötig.

 ?? FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA ?? Mehr Sicherheit für Radfahrer durch Tempo 30. Ob das zutrifft, soll überprüft werden.
FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA Mehr Sicherheit für Radfahrer durch Tempo 30. Ob das zutrifft, soll überprüft werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany