Mord aus „Mildtätigkeit“
Mit der „Euthanasie“begann die NS-Diktatur vor 80 Jahren in Grafeneck mit der Massenvernichtung von Menschen – Das Geschehen auf der Schwäbischen Alb wirkt bis in die Gegenwart
Helene Krötz, so steht es in ihrer Krankenakte, war ein lebhaftes Mädchen, das gerne Ball und Fangen spielte. Die Tochter eines Metzgers aus Oberurbach bei Schorndorf erkrankte als Kind an Gehirnhautentzündung, das Lernen fiel ihr nun schwer, auch sprach sie nur wenige Worte. Sie sei geistig behindert, befand der Arzt. Daher lebte sie in der Diakonie Stetten, wo sie oft spazieren ging und sich mit anderen Bewohnern unterhielt. In der Krankenakte steht über Helene Krötz aber auch: Sie könne nicht arbeiten. Das war ihr Todesurteil.
Es ist ein malerischer Ort, an dem der Holocaust seinen Anfang nahm. Schloss Grafeneck, rund 40 Kilometer südöstlich von Reutlingen, liegt auf der Anhöhe eines Tals mit bewaldeten Hängen und einem Bachlauf. Über Jahrhunderte diente die Burg dem Adel als Sommerresidenz und Jagdschloss. Zu dem Gemäuer schlängelt sich eine Straße, gesäumt von Bäumen, deren knorrige und von Moos bewachsenen Äste sich biegen. Ab dem 18. Januar 1940 fuhren hier jedoch keine Kutschen oder Limousinen der besseren Gesellschaft hinauf, sondern graue Busse. Sie brachten ausgewählte Insassen aus Behinderteneinrichtungen und Kliniken des Landes wie Stetten, Zwiefalten, Weißenau oder Schussenried an diesen abgelegenen Ort. Unter ihnen waren Menschen wie Helene Krötz, die nach ihrer Ankunft von Schwestern ausgezogen, gemessen, gewogen und fotografiert wurden. Die auf Brust und Rücken einen Stempel erhielten. Die zum Schein erst untersucht und dann in einem „Duschraum“vergast wurden. Deren Leichen die Pfleger zu einem Haufen stapelten und dann in Öfen verbrannten.
Zwischen 10 000 und 11 000 Menschen kamen innerhalb nur eines Jahres um in Grafeneck, der ersten Vernichtungsanstalt überhaupt. „Grafeneck steht an einem Scheideweg, wo der NS-Staat übergeht von der Verfolgung und Entrechtung bestimmter Gruppen zum systematischen Massenmord“, sagt Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Hier wurde“, so der Historiker weiter, „die Schwelle überschritten zum staatlichen, zum beinahe industriellen Massenmord.“Südwestdeutschland mit Württemberg, Hohenzollern und Baden war damit nicht nur die erste Region Deutschlands, die von der sogenannten NS-Euthanasie-Aktion T4 betroffen war. Grafeneck auf der Schwäbischen Alb diente auch als Vorstufe und Übungsfeld für den Holocaust.
Die Idee zur „Vernichtung unwerten Lebens“gab es schon vor dem Nationalsozialismus, der daraus jedoch Programm und Propaganda machte. In „Mein Kampf“hatte Hitler bereits geschrieben: „Der Kampf um das tägliche Brot läßt alles Schwache und Kränkelnde, weniger Entschlossene unterliegen.“Später war die Rede von „leeren Menschenhülsen“, „Volksschädlingen“, von der „Beseitigung nutzloser Esser“. An die Stelle des einzelnen Menschen trat der Staat, die Nation, das Volk, die Rasse. Und statt Mitgefühl und Hilfsbereitschaft dominierten nun ökonomische und politische Dogmen.
„Hier trägst du mit: Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50 000 RM“, heißt es auf einem Plakat aus dem Jahr 1936, das einen Mann zeigt, der zwei geistig Behinderte auf den Schultern trägt. Der Kranke als Kostenfaktor, die „Euthanasie“, der „schöne Tod“, die den Mord als mildtätigen Akt maskiert. Was noch fehlte, war der erste Schritt. Und eine Tötungsbürokratie.
Der NS-Staat beschlagnahmte Grafeneck von der Samariterstiftung
Stuttgart, die dort seit 1928 ein sogenanntes Krüppelheim unterhielt. Das die Nazis innerhalb kurzer Zeit in eine Tötungsanstalt verwandelten mit Holzbaracke, einem Stellplatz für Busse, Krematorium und Vergasungsanlage. Gesteuert wurde die Aktion von der Tiergartenstraße 4 aus, der „Zentraldienststelle T4“, eifrig umgesetzt von den Behörden in Stuttgart und Karlsruhe, unter Mitwirkung von Polizisten, Krankenschwestern, Pflegern, Sekretärinnen, Busfahrern, von Ärzten, Anstaltsdirektoren und Beamten, die auf Meldebögen arbeitsfähige Insassen mit einem blauen Minus für „Leben“markierten und andere mit einem roten Plus für „Tod“. Der Rechtswissenschaftler Herbert Jäger schreibt von einem „arbeitsteiligen staatlichen Großverbrechen“. Bei dem vor allem die oberen Entscheidungsträger, wie Ärzte und Befehlshaber, freiwillig mitwirkten.
„Man hätte Nein sagen können, ohne Konsequenzen zu fürchten“, betont Stöckle. Das tat aber kaum jemand, im Gegenteil. Ausgestattet mit mörderischer Kompetenz, war Grafeneck für sie ein „Karrieresprungbrett“. Horst Schumann, Leiter von Grafeneck, wird Lagerarzt in Auschwitz und steht an der Rampe von Birkenau. Büroleiter Christian Wirth agiert später als Inspektor in den Vernichtungslagern Belzec, Treblinka und Sobibor, wo insgesamt 1,75 Millionen Menschen ermordet werden. Beim Grafeneckprozess 1949 steht aber vor allem die zweite und dritte Reihe vor dem Schwurgericht Tübingen, wo sie vergleichsweise milde Strafen erhält.
Widersprüchlich wirkt zunächst, dass trotz Rassenlehre und Propaganda das „Ausmerzen unwerten Lebens“mit hohem Aufwand zu vertuschen versucht wird. Zwar erfassen die Schreibkräfte jeden Vorgang penibel, um mit den Kostenträgern abzurechnen, Todesursache und Todesort werden jedoch gefälscht, Dokumente umdatiert. Eine, zynisch genug, Trostbriefabteilung im Schloss verfasst sogar Beileidsbriefe für die Angehörigen, die auch eine Urne und die Kleidung des Verstorbenen erhalten. Für Stöckle nur auf den ersten Blick ein unstimmiges Verhalten, denn:
„Auch unter den Bedingungen der
Diktatur war Mord gesetzwidrig.“
Der NS-Staat fürchtete Widerstand, wartete daher auch mit der Massenvernichtung bis zum Krieg, der über allem stand. Die Geheimhaltung gelang trotzdem nur leidlich, die Taten auf der Alb sprachen sich herum, nicht zuletzt durch Angehörige. So schrieb der Vater eines Opfers an die Heil- und Pflegeanstalt Weissenau: „Es ist ja eine ungeheure Zumutung, etwas davon zu glauben, was einem in dieser Sache vorgemacht wird, denn landauf und -ab wird mit Grauen und Entsetzen davon gesprochen, was in Grafeneck vor sich geht.“Ein Ehemann zeigte SS-Leiter Heinrich Himmler sogar wegen Mordes an, verbunden mit der Frage: Wo ist meine Frau geblieben?
Die Errichtung fünf weiterer „Euthanasie“-Lager im Reich, in denen mit Grafeneck insgesamt 70 000 Menschen starben, konnte der Widerstand aber nicht verhindern. Weil er immer nur aufflackerte, auch von Seiten der Kirche. Zwar protestierten die Bischöfe Wurm in Stuttgart und Galen in Münster gegen die „Euthanasie“, „nichtsdestotrotz waren sie, überspitzt gesagt, Befürworter des NSStaates“, so Stöckle.
Nach dem Krieg dauerte es nicht nur innerhalb der Kirche lange, bis die traumatischen Ereignisse, die im Südwesten ihren Anfang nahmen, aufgearbeitet wurden. Nach dem Grafeneckprozess herrschten in den 1950er- und 60er-Jahren Verdrängen und Schweigen vor. Die Samariterstiftung, die in Grafeneck wieder Wohngruppen unterhält, begann im Laufe der Jahrzehnte eine Gedenkkultur zu pflegen. Dynamik nahm diese im Jahr 1990 auf mit der Errichtung der Gedenkstätte, 2005 folgte das Dokumentationszentrum, das sich der Forschung genauso widmet wie der Wissensvermittlung – und heute enormen Zulauf hat. „Als ich hier Ende der 1990erJahre anfing, gab es pro Jahr zirka 40 angemeldete Besuchergruppen“, sagt Stöckle. „Heute sind es 400 plus 150 unangemeldete.“
Darunter sind junge wie ältere Menschen, Verwandte von Opfern wie auch von Tätern, Menschen aus der Region, die damals Kinder waren, aber sich noch mit Schaudern an die grauen Busse erinnern, die durch die Dörfer fuhren, und von denen die Leute wussten, warum und mit welchem Ziel. Aus 49 Heimen und Kliniken wurden die kranken Menschen damals zum Schloss gebracht, sie und die jeweiligen Stadt- und Kreisarchive beteiligen sich heute genauso wie private Ahnenforscher an einer Erinnerungskultur. Die auch der Gegenwehr bestimmter politischer Strömungen trotzt. Wenn etwa Björn Höcke (AfD) eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“für Deutschland forderte, davon spricht, deutsche Geschichte werde „mies und lächerlich gemacht“, und das Holocaust-Mahnmal in Berlin sei ein „Denkmal der Schande“.
„Bei einem Diktum wie von Höcke“, sagt dazu Stöckle, „wird ausgeblendet, dass eine Gedenkstätte nicht bei dem Verbrechen, bei dem Negativereignis stehen bleibt.“Vielmehr gehe es darum, zu reflektieren: Wie kann so etwas Schreckliches passieren? Was geschieht, wenn Demokratie zusammenbricht? „Und wenn wir dann überlegen, dass Menschen in ,wert’ und ,unwert’ eingeteilt wurden, haben wir einen sehr, sehr aktuellen Gedanken.“So wirkt Grafeneck auf seine Weise bis tief in die Gegenwart hinein. Was nur möglich ist, weil heute fast alle Opfer ein Gesicht und einen Namen haben. Deshalb kennen wir auch die Geschichte von Theodor Kynast, der mit 36 Jahren in Grafeneck ermordet wurde. Kynast wuchs in seinem Elternhaus in Göppingen auf, bis bei ihm Schizophrenie diagnostiziert wurde und er in die Psychiatrie kam. Nach seinem Tod erhielten die Eltern einen Brief, in dem stand, Theodor sei an einer Krankheit gestorben und das Ableben besser für ihn. Auch die Kleidung ihres Sohnes erhielten die Eltern. Darin entdeckten sie einen Keks. Auf den hatte Theodor, sein Schicksal ahnend, geschrieben: „Alle Mörder“.
„Hier wurde die Schwelle überschritten zum staatlichen, beinahe industriellen Massenmord.“Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck