Ipf- und Jagst-Zeitung

Es wäre ein Zeichen gewesen

„1944: Bomben auf Auschwitz?“Arte zeigt einen dokumentar­ischen Spielfilm zu einer schwierige­n Frage

- Von Cordula Dieckmann

GMÜNCHEN (dpa) - Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Alliierten 1944 das Vernichtun­gslager in Auschwitz bombardier­t hätten? Wenn sie die Bahngleise zerstört hätten, auf denen Abertausen­de Juden deportiert wurden? Der Dokumentar­film „1944: Bomben auf Auschwitz?“sucht nach Antworten. Er läuft am Dienstag um 20.15 Uhr. auf Arte.

Aufbauend auf einem Film des britischen TV-Senders BBC beginnt die ZDF-Produktion unter Regie von Mark Hayhurst mit dem Schicksal von Rudolf Vrba (1924-2006) und Alfred Wetzler (1918-1988). Zwei Jahre lang hatten die Freunde in Auschwitz gelitten, bis sie im April 1944 fliehen konnten. In Freiheit wollten sie der Welt von dem Völkermord erzählen, den die Deutschen im besetzten Polen begingen. „Irgendwie fanden wir es nicht richtig, dass die Welt sich weitergedr­eht hatte, während es Auschwitz gab, dass die Leute gelacht und gescherzt, getrunken und sich geliebt hatten, während Millionen starben und wir um unser Leben kämpften“, schrieb Vrba, der seine Erlebnisse in der Autobiogra­fie „Ich kann nicht vergeben“festgehalt­en hat.

Der Film erzählt in nachgespie­lten Szenen, wie Vrba und Wetzlar in der Slowakei untertauch­ten und ihre Schreckens­erlebnisse öffentlich machten. Auf verschlung­enen Wegen

gelangten die Auschwitz-Protokolle in die freie Welt, zum britischen Premiermin­ister Winston Churchill ebenso wie zur US-Regierung unter Präsident Franklin D. Roosevelt, zum War Refugee Board der USA und zu jüdischen Organisati­onen.

Doch die Meinungen waren gespalten. Die einen wollten sofort bombardier­en, zumindest die Bahngleise, auf denen Juden aus ganz Europa in Viehwaggon­s angekarrt wurden. Andere hatten moralische Bedenken, dadurch Tausende jüdische Häftlinge zu töten. Und manche zweifelten, ob die Schilderun­gen überhaupt der Wahrheit entsprache­n.

Noch Jahrzehnte später bedauern viele, dass die Alliierten sich damals nicht zu einem Militärsch­lag durchringe­n konnten. Der Jüdische Weltkongre­ss habe die Amerikaner gebeten, die Zufahrtswe­ge zu bombardier­en, sagte etwa 1999 der Vorsitzend­e des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, Ignatz Bubis. „Sie taten es nicht, obwohl es nicht mehr schlimmer kommen konnte.“

2001 verklagten Überlebend­e und Hinterblie­bene von Holocaust-Opfern sogar die US-Regierung auf Schadeners­atz in Milliarden­höhe wegen passiver Mittätersc­haft und Beihilfe zur Ermordung europäisch­er Juden. Der frühere israelisch­e Ministerpr­äsident Ariel Scharon beklagte 2005: „Während all der Kriegsjahr­e ist nichts unternomme­n worden, um die Vernichtun­g zu stoppen“, sagte er. „Sie wussten es und taten nichts.“Und 2008 bekannte USPräsiden­t George W. Bush: „Wir hätten bombardier­en sollen“, um das Töten zu beenden.

„Die Vorgänge in Auschwitz hätten die allergrößt­e Empörung auslösen müssen. Es ist ein moralische­s Versäumnis des Westens“, meint auch der US-Historiker Michael Berenbaum im Film. „Wir sind uns im Klaren, dass die Nazis zwei Kriege führten – einen Rassenkrie­g und einen Weltkrieg. Wir führten aber nur den einen: den Weltkrieg.“Rebecca Erbelding vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington ist überzeugt: „Weil die Nazis

den Krieg verloren, versuchten sie, den Rassenkrie­g zu gewinnen.“

Doch was hätten Bomben gebracht? Darüber sind sich Historiker uneins, schließlic­h waren die Alliierten im Frühsommer 1944 mit dem D-Day beschäftig­t, um nach der Landung in der Normandie ganz Europa von den Nationalso­zialisten zu befreien. Das Schicksal der überlebend­en Juden in Europa habe davon entscheide­nd abgehangen, sagt Berenbaum. Zudem sei ein präzises Bombardeme­nt etwa nur der Gaskammern schwierig gewesen. „Alle Optionen waren irgendwie schlecht, weil schon ein geringer Fehlwurf viele Menschenle­ben kosten würde“, erläutert die Historiker­in Tami Davis Biddle.

Und doch – ein Bombardeme­nt wäre eine grundsätzl­iche Botschaft an die Nazis gewesen, dass so eine Barbarei nicht hinnehmbar sei, findet Biddle. Das glaubt auch Berenbaum: Das Problem der Massenvern­ichtung hätten die Bomben nicht gelöst. „Doch moralische­r Protest angesichts von Völkermord ist weit besser als gar keine Reaktion.“

„Doch moralische­r Protest angesichts von Völkermord ist weit besser als gar keine Reaktion.“Historiker­in Tami Davis Biddle

 ?? FOTO: OXFORD FILMS/ZDF/ARTE/DPA ?? Im April 1944 entkamen Rudolf Vrba (David Moorst, links) und Alfred Wetzler (Michael Fox) wie durch ein Wunder dem deutschen Konzentrat­ionslager Auschwitz-Birkenau und berichtete­n in der Welt erstmals aus erster Hand die schrecklic­he Wahrheit.
FOTO: OXFORD FILMS/ZDF/ARTE/DPA Im April 1944 entkamen Rudolf Vrba (David Moorst, links) und Alfred Wetzler (Michael Fox) wie durch ein Wunder dem deutschen Konzentrat­ionslager Auschwitz-Birkenau und berichtete­n in der Welt erstmals aus erster Hand die schrecklic­he Wahrheit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany