Gegen die Vorschreiberitis
Die Freiheit stöhnt unter allzu vielen neuen Bedenken und Bestimmungen
Eins muss vorausgeschickt werden: Es gibt Fakten, die eine Veränderung unserer Gewohnheiten verlangen. Angesichts des Klimawandels und der Vermüllung der Weltmeere brauchen wir natürlich alternative Energien und werden gefälligst aufhören, jede Scheibe Emmentaler in Plastik einzuschweißen. Verantwortungsvolle Menschen wissen, dass Schluss sein muss mit hemmungslosem Konsum und der Verschwendung von Ressourcen.
Ein Narr, der das abstreitet. Doch die anschwellenden Bedenken und Bestimmungen dürfen nicht den größten Wert der westlichen Gesellschaft ruinieren: die Freiheit von Gesinnung und Lebensart.
Liebe Veganer, von mir aus könnt ihr sogar auf Schlagsahne verzichten, weil die Milch der hilflosen Kuh abgezapft wurde, aber bitte: Guckt mich nicht an, als wäre ich ein Massenmörder, wenn ich in einen Leberkäs-Wecken beiße! Nein, ich muss nicht alle Tage Fleisch essen, und ja, ich finde auch, dass wir keine Grillware aus Massentierhaltung brauchen. Aber: Ich esse mit Vergnügen eine Bratwurst beim Straßenfest, und einmal in der Woche brate ich mir ein Steak mit Zwiebeln. Das kaufe ich beim Metzger meines Vertrauens, der weiß, von welchem Hof seine Ware stammt. Übrigens: Wenn tierische Nahrung für den Homo sapiens nicht artgerecht wäre, würde der vegetarische Markt nicht so verzweifelt versuchen, Hamburger aus pflanzlichen Zutaten zu fälschen.
Ach, der Tierschutz! Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Sorge um rumänische Straßenhunde in unserer Gesellschaft irrationale Ausmaße annimmt. Mit irrer Konsequenz demonstrierte eine Gruppe von Pelzgegnern monatelang jeden Samstag geschäftsschädigend vor der Tür eines seriösen Kürschners in unserer Nachbarschaft. Zuvor hatten Tierfreunde durch tägliche Mahnwachen vor einem traditionsreichen Zirkus mit Raubtierdressur die Zuschauer verschreckt. Ein Journalistenkollege und Naturfreund, der ein Plädoyer für die Jagd und die Begrenzung des Wildbestands schrieb, musste einen Shit-Storm sondergleichen über sich ergehen lassen.
Zum Glück hält der Mann was aus und ging erst mal zum Durchatmen in den Wald – anders als leitende Personen und Institutionen, die aus Angst vor digitalen Beschimpfungsstürmen die heiklen Themen meiden oder sofort zu Kreuze kriechen wie der WDR nach der Entrüstung um den Kinderchor-Song „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“. Ein plump umgedichtetes Scherzlied war das, und ich fand es auch (nicht nur in meiner Eigenschaft als Oma) ziemlich blöde, aber ehrlich: Es blieb ein Scherzlied. Und es gibt wirklich Schlimmeres – zum Beispiel den Schrei nach immer neuen Ausgrenzungen und Regelungen und eine merkwürdige Moral, die gelegentlich an Fanatismus grenzt.
Obgleich ich mein Leben lang die Fahne der Frauenrechte hochgehalten habe, empfinde ich den neuen Zwang zur genderneutralen Formulierung oft als völlig absurd. Muss ich wirklich jedes Mal betonen, dass mit Bürgern oder Besuchern auch Bürgerinnen und Besucherinnen gemeint sind? Muss die Amtssprache mit Gendersternchen und anderen Verkrampfungen weiter verkompliziert werden? Meine Damen und Herren, wir übertreiben es mal wieder maßlos.
Wo ist die Toleranz geblieben? Erdrückt von einer politischen Korrektheit, die sich stets im heiligen Recht fühlt. Ich bleibe ein Fan von Woody Allen, obwohl dem Kultfilmer vor ein paar Jahren – unbewiesen – im Rahmen der Me-Too-Kampagne der angebliche Missbrauch einer Adoptivtochter vorgeworfen wurde. Welches Familiendrama auch immer dahinterstecken mag, mit Allens federleichter und geistreicher Kinokunst hat das nichts zu tun. Kein Missverständnis! Zu Recht haben sich Hollywoods Frauen in der #Me-Too-Bewegung ihrer Haut gewehrt und unangenehme Wahrheiten ans Licht geholt. Aber, pardon, es gibt einen großen Unterschied zwischen Vergewaltigung und Anbaggerei! Und nicht jede Aufdringlichkeit des spanischen Star-Tenors Placido Domingo ist eine Todsünde.
Die Kunst ist übrigens frei. Da darf es auch mal, wie in Nabokovs „Lolita“, einem literarischen Klassiker von 1955, um verbotene Gefühle gehen. Heute käme solch ein Roman über die Liebe eines reifen Mannes zu einer kindlichen Verführerin vermutlich gleich auf den Index. Unbegreiflich, dass es im Showgeschäft der heutigen Zeit kaum Begrenzungen in der Darstellung von Ekel und Gewalt gibt, aber zugleich einen puritanischen Sittenkodex, der Nacktheit fürchtet, den Anblick weiblicher Brustwarzen verbietet und zum Beispiel bei Facebook und Instagram die Abbildung barocker Gemälde unmöglich gemacht hat. Inzwischen hat man angeblich teilweise eingelenkt. Mal sehen ...
Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. So unbefangen wie in meiner Generation wird man vielleicht nicht mehr nach Teneriffa fliegen und auf Kreuzfahrt gehen (Schweröl), zum Spaß mit dem Auto herumkurven und zum Fenster hinaus heizen (Feinstaub). Aber ich will weiter reisen, mobil bleiben und es zuhause warm haben. Statt jede Technik zu verteufeln, sollte man weiter konsequent an ihrer Verfeinerung und Umweltverträglichkeit arbeiten. Die Entwicklung auf diesem Gebiet sieht doch gar nicht so schlecht aus, ich bin optimistisch.
Grundsätzlich wünsche ich dieser Gesellschaft mehr Gelassenheit und weniger Aktionismus. Denn wie die Erfahrung lehrt, löst manche rigorose Vorschrift ganz neue Probleme aus. Nachdem wir die Raucher (und Raucherinnen) vor die Tür gesetzt haben, genießen wir zwar bessere Luft in Büros und Lokalen, dafür sind die Städte mit Kippen übersät wie mit giftigem Konfetti. Und seit der europäische Datenschutz jeden Betrieb und jede Arztpraxis erfasst hat, gibt es völlig neue bürokratische Vorgänge, und eine ökologisch bedenkliche Flut von Papieren muss unterschrieben und aufbewahrt werden. Da hat die gute Absicht in ihrem Übereifer mal wieder ein Monstrum in die Welt gesetzt. Und die Freiheit seufzt.