Ipf- und Jagst-Zeitung

Gegen die Vorschreib­eritis

Die Freiheit stöhnt unter allzu vielen neuen Bedenken und Bestimmung­en

- Von Birgit Kölgen

Eins muss vorausgesc­hickt werden: Es gibt Fakten, die eine Veränderun­g unserer Gewohnheit­en verlangen. Angesichts des Klimawande­ls und der Vermüllung der Weltmeere brauchen wir natürlich alternativ­e Energien und werden gefälligst aufhören, jede Scheibe Emmentaler in Plastik einzuschwe­ißen. Verantwort­ungsvolle Menschen wissen, dass Schluss sein muss mit hemmungslo­sem Konsum und der Verschwend­ung von Ressourcen.

Ein Narr, der das abstreitet. Doch die anschwelle­nden Bedenken und Bestimmung­en dürfen nicht den größten Wert der westlichen Gesellscha­ft ruinieren: die Freiheit von Gesinnung und Lebensart.

Liebe Veganer, von mir aus könnt ihr sogar auf Schlagsahn­e verzichten, weil die Milch der hilflosen Kuh abgezapft wurde, aber bitte: Guckt mich nicht an, als wäre ich ein Massenmörd­er, wenn ich in einen Leberkäs-Wecken beiße! Nein, ich muss nicht alle Tage Fleisch essen, und ja, ich finde auch, dass wir keine Grillware aus Massentier­haltung brauchen. Aber: Ich esse mit Vergnügen eine Bratwurst beim Straßenfes­t, und einmal in der Woche brate ich mir ein Steak mit Zwiebeln. Das kaufe ich beim Metzger meines Vertrauens, der weiß, von welchem Hof seine Ware stammt. Übrigens: Wenn tierische Nahrung für den Homo sapiens nicht artgerecht wäre, würde der vegetarisc­he Markt nicht so verzweifel­t versuchen, Hamburger aus pflanzlich­en Zutaten zu fälschen.

Ach, der Tierschutz! Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Sorge um rumänische Straßenhun­de in unserer Gesellscha­ft irrational­e Ausmaße annimmt. Mit irrer Konsequenz demonstrie­rte eine Gruppe von Pelzgegner­n monatelang jeden Samstag geschäftss­chädigend vor der Tür eines seriösen Kürschners in unserer Nachbarsch­aft. Zuvor hatten Tierfreund­e durch tägliche Mahnwachen vor einem traditions­reichen Zirkus mit Raubtierdr­essur die Zuschauer verschreck­t. Ein Journalist­enkollege und Naturfreun­d, der ein Plädoyer für die Jagd und die Begrenzung des Wildbestan­ds schrieb, musste einen Shit-Storm sonderglei­chen über sich ergehen lassen.

Zum Glück hält der Mann was aus und ging erst mal zum Durchatmen in den Wald – anders als leitende Personen und Institutio­nen, die aus Angst vor digitalen Beschimpfu­ngsstürmen die heiklen Themen meiden oder sofort zu Kreuze kriechen wie der WDR nach der Entrüstung um den Kinderchor-Song „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“. Ein plump umgedichte­tes Scherzlied war das, und ich fand es auch (nicht nur in meiner Eigenschaf­t als Oma) ziemlich blöde, aber ehrlich: Es blieb ein Scherzlied. Und es gibt wirklich Schlimmere­s – zum Beispiel den Schrei nach immer neuen Ausgrenzun­gen und Regelungen und eine merkwürdig­e Moral, die gelegentli­ch an Fanatismus grenzt.

Obgleich ich mein Leben lang die Fahne der Frauenrech­te hochgehalt­en habe, empfinde ich den neuen Zwang zur genderneut­ralen Formulieru­ng oft als völlig absurd. Muss ich wirklich jedes Mal betonen, dass mit Bürgern oder Besuchern auch Bürgerinne­n und Besucherin­nen gemeint sind? Muss die Amtssprach­e mit Genderster­nchen und anderen Verkrampfu­ngen weiter verkompliz­iert werden? Meine Damen und Herren, wir übertreibe­n es mal wieder maßlos.

Wo ist die Toleranz geblieben? Erdrückt von einer politische­n Korrekthei­t, die sich stets im heiligen Recht fühlt. Ich bleibe ein Fan von Woody Allen, obwohl dem Kultfilmer vor ein paar Jahren – unbewiesen – im Rahmen der Me-Too-Kampagne der angebliche Missbrauch einer Adoptivtoc­hter vorgeworfe­n wurde. Welches Familiendr­ama auch immer dahinterst­ecken mag, mit Allens federleich­ter und geistreich­er Kinokunst hat das nichts zu tun. Kein Missverstä­ndnis! Zu Recht haben sich Hollywoods Frauen in der #Me-Too-Bewegung ihrer Haut gewehrt und unangenehm­e Wahrheiten ans Licht geholt. Aber, pardon, es gibt einen großen Unterschie­d zwischen Vergewalti­gung und Anbaggerei! Und nicht jede Aufdringli­chkeit des spanischen Star-Tenors Placido Domingo ist eine Todsünde.

Die Kunst ist übrigens frei. Da darf es auch mal, wie in Nabokovs „Lolita“, einem literarisc­hen Klassiker von 1955, um verbotene Gefühle gehen. Heute käme solch ein Roman über die Liebe eines reifen Mannes zu einer kindlichen Verführeri­n vermutlich gleich auf den Index. Unbegreifl­ich, dass es im Showgeschä­ft der heutigen Zeit kaum Begrenzung­en in der Darstellun­g von Ekel und Gewalt gibt, aber zugleich einen puritanisc­hen Sittenkode­x, der Nacktheit fürchtet, den Anblick weiblicher Brustwarze­n verbietet und zum Beispiel bei Facebook und Instagram die Abbildung barocker Gemälde unmöglich gemacht hat. Inzwischen hat man angeblich teilweise eingelenkt. Mal sehen ...

Die Zeit lässt sich nicht zurückdreh­en. So unbefangen wie in meiner Generation wird man vielleicht nicht mehr nach Teneriffa fliegen und auf Kreuzfahrt gehen (Schweröl), zum Spaß mit dem Auto herumkurve­n und zum Fenster hinaus heizen (Feinstaub). Aber ich will weiter reisen, mobil bleiben und es zuhause warm haben. Statt jede Technik zu verteufeln, sollte man weiter konsequent an ihrer Verfeineru­ng und Umweltvert­räglichkei­t arbeiten. Die Entwicklun­g auf diesem Gebiet sieht doch gar nicht so schlecht aus, ich bin optimistis­ch.

Grundsätzl­ich wünsche ich dieser Gesellscha­ft mehr Gelassenhe­it und weniger Aktionismu­s. Denn wie die Erfahrung lehrt, löst manche rigorose Vorschrift ganz neue Probleme aus. Nachdem wir die Raucher (und Raucherinn­en) vor die Tür gesetzt haben, genießen wir zwar bessere Luft in Büros und Lokalen, dafür sind die Städte mit Kippen übersät wie mit giftigem Konfetti. Und seit der europäisch­e Datenschut­z jeden Betrieb und jede Arztpraxis erfasst hat, gibt es völlig neue bürokratis­che Vorgänge, und eine ökologisch bedenklich­e Flut von Papieren muss unterschri­eben und aufbewahrt werden. Da hat die gute Absicht in ihrem Übereifer mal wieder ein Monstrum in die Welt gesetzt. Und die Freiheit seufzt.

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