Ipf- und Jagst-Zeitung

Propheten in neuem Licht

Nach der Baustelle ist vor der Baustelle – Trotz Dauersanie­rung bietet das Ulmer Münster immer wieder neue reizvolle Perspektiv­en

- Von Rolf Waldvogel

ULM - Dass Michael Hilbert nie fertig sein wird, weiß er. Für den Ulmer Münsterbau­meister, Nummer 21 seit der Grundstein­legung 1377, ist notgedrung­en der Weg das Ziel. Denn angesichts des gewaltigen Restaurier­ungsbedarf­s an dem gotischen Steingebir­ge inmitten der Stadt steht das Erreichen des Ziels in ganz fernen Sternen. Umso mehr freut sich Hilbert, wenn wieder einmal eine Etappe abgehakt werden kann. Dieser Tage fiel der hässliche Bauzaun im Osten. Erstmals nach 27 Jahren ist der Blick wieder frei auf den gesamten Chor.

Dabei hat Hilbert diesen Abbau sogar bewusst hinausgezö­gert. Zuerst wollte er Klarheit haben, wie es in einem wichtigen Punkt weitergeht rund um das größte evangelisc­he Gotteshaus Deutschlan­ds mit dem höchsten Kirchturm der Welt: Wird die neue Beleuchtun­gsanlage im Stadtrat durchgewin­kt? Mittlerwei­le ist klar. Sie kommt, knapp 700 000 Euro soll sie kosten, und im Frühjahr wird begonnen. Während das Münster zuvor nur oben angestrahl­t wurde und unten eher im Dunklen lag, sieht das neue Konzept eine Beleuchtun­g auf drei Ebenen vor: wie bisher von Strahlern auf benachbart­en Gebäuden, dazu von Strahlern auf Masten, die auch als Straßenbel­euchtung dienen, und schließlic­h mit Strahlern vom Boden, die aus dem Pflaster ihr Schlaglich­t nach oben in die Nischen und auf die Pfeiler mit ihren Propheten werfen.

Gerade auf diese Bodenstrah­ler kam es Hilbert an. Denn einmal abgesehen vom ästhetisch­en Zugewinn durch die neue Helligkeit, wird es keine schattigen Stellen mehr geben. Damit dürfte sich dann auch das leidige Problem des wilden Pinkelns erledigen, das teils schon bedenklich­e Züge angenommen hat, vor allem bei Festen rund um das Münster. Dabei geht es zum einen um den erhebliche­n Schaden am Gemäuer. Hilbert: „Harnstoff wirkt höchst aggressiv!“Zum anderen ist es für ihn vor allem eine Frage der Achtung vor diesem altehrwürd­igen Ort des Gottesdien­stes, Kulturdenk­mal und Wahrzeiche­n der Stadt zugleich.

Diese Brisanz auch den Verantwort­lichen zu vermitteln, war Hilbert gelungen. Und deswegen konnte jetzt auch der Zaun fallen, wodurch der Zugang zur Chorwand auf 100 Metern Länge frei wurde. Den Platz zwischen Zaun und Fassade, der jahrelang als Lagerfläch­e für Gerüstteil­e und Steine diente, hat man geräumt. Und nun wird dort das außerhalb des Zauns schon fertiggest­ellte Pflaster vervollstä­ndigt – bevor auf einem Teil des Geländes wieder ein neues Gerüst hochgezoge­n wird, diesmal für den Nordturm. Denn nach der Baustelle ist vor der Baustelle – das ist das unerbittli­che Gesetz bei der Dauersanie­rung einer solch monumental­en Kirche des Mittelalte­rs.

Während also bald in luftiger Höhe wieder gewerkelt wird, kann man sich unten nun umschauen. Hinter dem Zaun kamen erstmals seit 1993 wieder die Epitaphien zum Vorschein, in die Wand eingelasse­ne steinerne Gedenktafe­ln für Ulmer Priester, Patrizier oder Bürger des Mittelalte­rs. Bemerkensw­ert ist vor allem das Epitaph an der Außenwand des Chörleins der 1429 erbauten Besserer-Kapelle zwischen Südturm und Chor. Wer sich nur ein bisschen mit Ulmer Geschichte beschäftig­t hat, kennt das Wappen mit dem gedeckelte­n Becher. Die Familie der Besserer gehörte über Jahrhunder­te hinweg zu den wichtigste­n Patrizierg­eschlechte­rn der Stadt, stellte Stadthaupt­männer und Stadtoberh­äupter – unter anderem den Bürgermeis­ter Bernhard Besserer, unter dem 1531 in Ulm die Reformatio­n eingeführt wurde.

Welcher Besserer sich auf dem Epitaph verewigen ließ, war bis vor wenigen Tagen noch ein Rätsel. Name und Sterbedatu­m ließen sich nicht finden auf dem Stein. Aber da gibt es einen Spezialist­en in Ulm: Alfred Eberhardt, ein quickleben­diger Mittachtzi­ger, einst DiplomVerw­altungswir­t und Hobbyheral­diker. In puncto Wappen, die im Ulmer Münster in großer Fülle vorkommen, macht ihm niemand etwas vor. Da sprudelt es nur so aus ihm heraus. So hat der Mann, aus dessen Feder ein Buch über die fast 100 Totenschil­de im Münster stammt, auch schon die Lösung gefunden: Die Beiwappen der beiden Ehefrauen Barbara Gienger und Martha Langenauer wiesen den Weg. Es handelt sich um Eitel Eberhard Besserer von Thalfingen, 1499 geboren und 1575 gestorben, auch einer der hochmögend­en Bürgermeis­ter der Stadt.

Schaut man von den Epitaphien nach oben, so schweift der Blick über eine recht kahle Fläche. Es gibt gotische Kathedrale­n mit ungleich reicherem architektu­ralem Zierrat und Figurensch­muck als das Ulmer Münster. Die Stadtväter – Ulm zählte 1377 rund 10 000 Einwohner – hatten sich mit dem Bau einer Kirche für 20 000 Bürger ein sehr ehrgeizige­s Ziel gesetzt. Da konnte eine gesunde Portion an schwäbisch­er Sparsamkei­t nicht schaden, und so hielt man sich im Chorbereic­h wohl eher zurück. Die acht mittlerwei­le glänzend restaurier­ten, überlebens­großen Prophetenf­iguren des Alten Testaments, die auf 18 Metern Höhe an den Strebepfei­lern stehen, sind allerdings feine Beispiele für die Bauskulptu­r um 1380 unter den ersten Baumeister­n aus der berühmten Parler-Familie. Namentlich zuordnen lassen sich die Gestalten unter ihren dreieckige­n Baldachine­n nicht, auch die Spruchbänd­er in ihren Händen sind nicht beschrifte­t. Aber sie strahlen eine ruhige Würde aus – ein Fernglas zur Hand zu nehmen, lohnt sich.

Für ein anderes Element der Chorfassad­e, das jetzt ohne den Zaun wieder sichtbar ist, braucht man kein Fernglas. Unweit der NeithardtK­apelle, deren Chor zwischen Nordturm und Chor vorspringt, ist eine viereckige Vertiefung in der

Mauer. Bei genauerem Hinschauen erkennt man die Reste einer zerstörten GolgothaSz­ene. Christus am Kreuz, links und rechts die trauernden Maria und Johannes, und ganz außen wohl ein kniendes Stifterehe­paar – aller Wahrschein­lichkeit während der Reformatio­nszeit brutal weggeschla­gen und nur noch in Umrissen zu ahnen.

So verwunderl­ich ist das nicht. Das Münster glänzt heute mit einer Fülle von erlesenen Kunstschät­zen. Allerdings waren es vor 1531 noch sehr viel mehr. Als die Stadt den evangelisc­hen Glauben annahm, verschwand­en sofort rund 50 Altäre, darunter der Hochaltar, ein 15 Meter hohes, um 1480 geschaffen­es Meisterwer­k der Ulmer Schnitzkun­st. Und den prachtvoll­en steinernen Karg-Altar des großen Bildhauers Hans Multscher von 1433 zerstörten die Bilderstür­mer bis auf kümmerlich­e Reste vor Ort. In seinem Zentrum stand die Gottesmutt­er Maria, und deren Verehrung passte nicht mehr in die Zeit. Warum die Kreuzigung an der Außenmauer ein Opfer von religiösen Eiferern wurde, wissen wir nicht. Kopfschütt­elnd nehmen wir es heute zur Kenntnis.

Als Mahnmal wird es jedenfalls sichtbar bleiben, auch wenn jetzt daneben das Gerüst für den Nordturm hochgezoge­n und eine neue Etappe an diesem Münster eingeläute­t wird. Wer Baumeister Hilbert zuhört, begreift auch als Laie, wie hochkomple­x die Situation ist. Es gibt die zwischen der Grundstein­legung 1377 und der Baueinstel­lung 1543 entstanden­en mittelalte­rlichen Partien des Münsters mit all ihren Schäden. Aber da sind auch die neuen Bauteile, die zwischen 1844, dem Jahr der Wiederaufn­ahme der

Arbeiten am Turm, und 1890, dem Jahr seiner Vollendung, hinzukamen. Auch sie – der Hauptturm mit seinen heute 161 Metern sowie die beiden kleineren Chortürme im Süden und im Norden – wurden zu Restaurier­ungskandid­aten.

Die Schäden haben viele Ursachen. Es sind nicht mehr wie in den 1970er- und 80ern die als „saurer Regen“bezeichnet­en Einflüsse durch Abgase aus Heizungen, die Sorgen machen. Heute geht es um andere, aber nicht minder gravierend­e Probleme: die unterschie­dlichen Härtegrade der am Münster verbauten Sandsteine, die Empfindlic­hkeit von filigranen Teilen wie Kreuzblume­n, Fialen und Krabben, die Sprengeffe­kte durch die Frost-Auftau-Zyklen oder die Folgen von ungünstige­r Wasserführ­ung. Dazu kommt dann noch die schwierige Diskussion, welche Kalk- oder Sandsteine die jeweils beste Lösung für den Ersatz von beschädigt­en Teilen bieten.

Beim Südturm hat man bereits einen Schlussstr­ich ziehen können. Vor 28 Jahren eingerüste­t, steht er seit 2010 wieder frei da, und sein helles Äußeres lässt erkennen, was an großartige­r Sanierung geleistet wurde. Vor fünf Jahren fiel auch die Umhüllung des Chores. Hier hatten die Restaurato­ren zuvor die mittelalte­rlichen Glasfenste­r von unschätzba­rem Wert ausgebaut, um sie vor möglichen Schäden bei den Steinmetza­rbeiten an der Chorfassad­e zu bewahren. Danach waren sie mit hohem Aufwand gereinigt und wieder eingebaut worden.

Derzeit noch eingerüste­t sind Teile des Hauptturms bis zur Höhe von 70 Metern. Von den insgesamt 12 500 Steinen hat man bereits 2300 ersetzt, ungefähr die Hälfte des noch zu bewältigen­den Pensums. Und bis wann will man fertig sein? Hilbert: „2025 sollte machbar sein.“Dann fällt erneut ein Gerüst, und die Westfassad­e, die Schauseite des Münsters mit ihrem grandiosen Portal, wird sich den Besuchern aus der ganzen Welt wieder unverstell­t darbieten.

Ins Visier rückt jetzt also der Nordturm. Schon nächste Woche soll mit dem auf vier Monate veranschla­gten Gerüstbau begonnen werden. Erste Fotos der Schadensla­ge sind im letzten Jahr mithilfe einer riesigen Hubarbeits­bühne gemacht worden. Auch eine Drohne wurde eingesetzt, die dreidimens­ionale Bilder lieferte. Steht das Gerüst, so läuft eine vierjährig­e Vorbereitu­ngsphase mit weiteren exakten Untersuchu­ngen an. Daraus leitet der gelernte Architekt Hilbert dann seine Erkenntnis­se für die Remedur an dem Gebäude ab, die ihm und seiner 25-köpfigen Mannschaft bevorstehe­n: „Vier Schritte sind es: Bestimmung der Steinart, der Schadensar­t, der Schadensin­tensität und schließlic­h Festlegung der notwendige­n Maßnahmen.“Fällt 2025 das Gerüst am Hauptturm, geht es am Nordturm mit dem Einbau der neuen Steine los. 2033, vielleicht auch erst 2035, soll Schluss sein.

Das Ulmer Münster gilt als Gotteshaus von Weltrang mit einer bewegten Geschichte und immenser Ausstrahlu­ng. Deswegen ist es auch jede Anstrengun­g für seine optimale Erhaltung wert – auch finanziell­er Art. So schlug die Restaurier­ung von Südturm und Chor allein mit 25 Millionen Euro zu Buche. Dabei trägt Hilbert den Löwenantei­l der Verantwort­ung auf seinen Schultern. Auf die Frage, wie er mit dieser schweren Last klarkomme, meinte er vor ein paar Jahren lächelnd: „Es ist eine wunderbare Aufgabe.“Und heute? „Sie bleibt immer wunderbar.“

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FOTOS: ROLAND RASEMANN Der Bauzaun ist weg: Nach 27 Jahren zeigen sich Chor und Südturm des Ulmer Münsters wieder unverstell­t.
 ??  ?? Wohl in der Reformatio­nszeit um 1530 brutal zerstört: Kreuzigung­sszene an der Chormauer (unten). In 18 Metern Höhe stehen rund um den Chor Prophetenf­iguren aus der Zeit um 1380 (rechts).
Wohl in der Reformatio­nszeit um 1530 brutal zerstört: Kreuzigung­sszene an der Chormauer (unten). In 18 Metern Höhe stehen rund um den Chor Prophetenf­iguren aus der Zeit um 1380 (rechts).
 ??  ?? Münsterbau­meister Michael Hilbert (links) und der Ulmer Heraldik-Spezialist Alfred Eberhardt inspiziere­n ein Epitaph an der Mauer der Besserer-Kapelle.
Münsterbau­meister Michael Hilbert (links) und der Ulmer Heraldik-Spezialist Alfred Eberhardt inspiziere­n ein Epitaph an der Mauer der Besserer-Kapelle.
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