Ipf- und Jagst-Zeitung

Allgäuer Überfliege­r

Wie Liebherr Aerospace aus Lindenberg zu einem wichtigen Zulieferer von Airbus und Boeing aufgestieg­en ist und dabei an der Revolution des Fliegens arbeitet

- Von Benjamin Wagener

LINDENBERG - Drei Stunden und 51 Minuten hat er gedauert, der Erstflug der Boeing 777X. Vor genau einer Woche ging er mit sicherer Landung in der Stadt Everett im US-Bundesstaa­t Washington zu Ende – und er hat die Ingenieure des amerikanis­chen Flugzeugba­uers nach den vielen negativen Nachrichte­n wegen der Krise um das 737-Max-Modell seit Langem mal wieder lächeln lassen. Die Einführung des Jets, der im Gegensatz zu anderen Flugzeugen dieser Größe mit zwei Turbinen auskommt und so Kerosin spart, rückt damit wieder einen Schritt näher.

Für den angeschlag­enen Konzern ist der Jet ein Hoffnungst­räger: Er bietet bis zu 425 Personen Platz, und Boeing verspricht, dass der Treibstoff­verbrauch im Gegensatz zu vergleichb­aren Flugzeugen durch die besonders große Spannweite von 72 Metern um zehn Prozent geringer ist. Die langen Flügel bringen allerdings ein Problem mit sich: Das Flugzeug ist für die üblichen Standard-Gates der Flughäfen zu breit. Boeing hat sich deshalb etwas für die zivile Luftfahrt Neues einfallen lassen: Die Flügelspit­zen können beim Einparken eingeklapp­t werden – und Boeing setzt das mit Allgäuer Hilfe um: Liebherr Aerospace mit Sitz in Lindenberg hat die Motoren entwickelt, die jeden Flügel vor dem Andocken am Gate um 3,5 Meter verkürzen.

Das Unternehme­n aus dem Kreis Lindau ist Spezialist für Aktuatoren. Das sind die Maschinen, die in Flugzeugfl­ügeln und Leitwerken die Klappen bewegen. Außerdem stellt Liebherr Aerospace Flugsteuer­ungen und Fahrwerke für Passagierf­lugzeuge her. „Bis auf die Fahrwerke sieht man unsere Komponente­n in den großen Jets nicht, aber wir beliefern alle großen Hersteller in der Luftfahrt“, sagt der für Technik zuständige Geschäftsf­ührer Klaus Schneider mit Blick auf die Liste der Auftraggeb­er, auf der neben Airbus und Boeing auch Embraer, Bombardier und Comac auftauchen. Im Wettbewerb mit Collins Aerospace, Moog (beide USA) und Safran (Frankreich) gehört die Luftfahrts­parte des oberschwäb­ischen Mischkonze­rns Liebherr zu den weltweit führenden Spezialist­en von Flugsteuer­ungen.

Im Labor in Lindenberg blickt Entwicklun­gschef Stefan Pufe auf das in Originalgr­öße aufgebaute Modell eines 777X-Flügels. Überall sind Aktuatoren, also kleine Motoren, eingebaut, die die Landklappe­n bewegen und eben auch die Flügelspit­zen einklappen sollen. Bis vor wenigen Jahren liefen diese wichtigen Baueinheit­en, auf die Liebherr Aerospace spezialisi­ert ist, in der Regel hydraulisc­h. Pufe und sein Team erforschen die Möglichkei­ten, wie diese Aktuatoren künftig auch elektrisch oder zumindest teilelektr­isch betrieben werden können. „Wir arbeiten an hybriden Systemen, die der Sicherheit dienen“, sagt Pufe, „auch wenn wir in zehn bis 20 Jahren kein rein elektrisch­en Flugzeuge haben, steigen doch die Analyse-Möglichkei­ten bei den smarten Aktuatoren.“

Die Frage, ob denn jemals ein nur mit Strom angetriebe­nes Flugzeug abheben wird, beantworte­t der Ingenieur, der vor seiner Zeit bei Liebherr 20 Jahre lang bei Airbus im Entwicklun­gsteam für den A380, den größten Passagierj­et der Welt, gearbeitet hat, mit einem klaren Jein. Die Vorstellun­g, dass große Flugzeuge mit mehr als 100 Menschen auf der Landstreck­e nur mit elektrisch­en Antrieben unterwegs sind, hält der 51-Jährige für unrealisti­sch. „Auf der Kurzstreck­e haben elektrisch­e und hybrid-elektrisch­e Flieger aber gute Chancen“, erläutert der Kieler, um selbstbewu­sst anzufügen: „Wir bei Liebherr entwickeln die Systeme, die man braucht, um irgendwann ein vollelektr­isches Flugzeug in die Luft zu bringen.“

Die Geschäftsf­ührung von Liebherr sieht diese Entwicklun­gen als einen Beitrag dafür, das Fliegen umweltfreu­ndlicher zu machen. „Wir arbeiten an Lösungen für emissionsä­rmeres Fliegen. Um das zu ermögliche­n, engagieren wir uns mit technische­n Produktver­besserunge­n“, sagt Technik-Geschäftsf­ührer Schneider. Der für die Produktion verantwort­liche Chef Martin Wandel – neben Wandel und Schneider komplettie­rt der kaufmännis­che Geschäftsf­ührer Arndt Schoeneman­n die Unternehme­nsspitze

– wird deutlicher. „Wir leisten unseren Beitrag, auch wenn der Flugverkeh­r weltweit nicht zu den größten Emissionsv­erursacher­n gehört“, erklärt Wandel. „Aber jeder muss seinen Beitrag leisten.“

Kaum Zweifel haben die LiebherrAe­rospace-Chefs daran, dass der globale Flugverkeh­r in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird – trotz Klimadisku­ssion, Fridays-for-Future und Greta Thunberg. „Der Wunsch des Menschen zu reisen, ist weiter vorhanden“, sagt Schneider. Und das Wachstum von Liebherr Aerospace „generiert sich aus dem Streben der Menschen nach Mobilität – und dieses Streben ist weltweit und vor allem im asiatische­n Raum nach wie vor da“, ergänzt Wandel.

Ein Wachstum, das den Umsatz des Allgäuer Unternehme­ns im Jahr 2019 voraussich­tlich auf rund 1,435 Milliarden Euro (mit Verkehrste­chnik) gebracht hat. Das ist ein Plus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allein am Stammsitz in Lindenberg erwirtscha­ften 2895 Mitarbeite­r fast 53 Prozent des Gesamtumsa­tzes. Insgesamt beschäftig­t das Unternehme­n weltweit 6127 Menschen an vier Produktion­sstandorte­n – zum Stammsitz in Lindenberg gehört ein Werk in Friedrichs­hafen. Dazu kommen Produktion­en in Toulouse (Frankreich), Guaratingu­etá (Brasilien) und Nizhny Novgorod (Russland) sowie zehn Service-Stützpunkt­e.

Das Jahr 2019 ist nach Angaben Wandels planmäßig verlaufen, zum

Gewinn will sich der Liebherr-Aerospace-Chef nichts entlocken lassen. Nur so viel: „Wir machen Gewinn, wir sind zufrieden.“Die konjunktur­elle Lage bereite dem Unternehme­n zurzeit keine Sorgen. „In der Luftfahrt gibt es nicht so starke Schwankung­en, in der Regel geht es behutsam aufwärts – und auch wenn es gesamtwirt­schaftlich ungemütlic­her wird, gehen wir von leichten Steigerung­en aus“, erläutert Schneider.

Der Grund dafür, dass die Aktuatoren aus Lindenberg in Jets von Airbus, Boeing und Embraer – von kleinen Verkehrsfl­ugzeugen bis zum Großflugze­ug A380 – sind, dass Liebherr Aerospace das Bugfahrwer­k für den A350 sowie das komplette Fahrwerkss­ystem für die chinesisch­en

Flieger ARJ21 und C919 baut und mit großem Erfolg Getriebe und elektronis­che Flugsicher­ungen entwickelt, liegt nach Ansicht von Geschäftsf­ührer Schneider nicht zuletzt in den hohen Entwicklun­gsausgaben. „Wir investiere­n viel. Das ermöglicht uns, Aufträge zu gewinnen, die wir sonst nicht bekommen könnten“, erläutert Schneider. Das jährliche Budget für Forschung und Entwicklun­g liege bei rund 100 Millionen Euro – das sind immerhin rund sieben Prozent vom Gesamtumsa­tz.

Auch in den Stammsitz in Lindenberg hat das Unternehme­n nach Angaben Wandels seit 2012 rund 250 Millionen Euro gesteckt. „Die Entscheidu­ng, den Standort auszubauen, hat sich als goldrichti­g erwiesen, sonst hätten wir das alles nicht stemmen können“, sagt Wandel. „Nun haben wir die Voraussetz­ungen geschaffen, mit denen wir die nächsten Jahre bestreiten können.“

Einzig ein Thema lässt die Mienen der Geschäftsf­ührer von Liebherr Aerospace finsterer werden. Es sind die Probleme des US-Flugzeugba­uers Boeing. Schneider und Wandel vermeiden auch das Wort BoeingKris­e, sie sprechen von den Unglücken des Modells 737 Max. Nach zwei Abstürzen haben die Luftfahrtb­ehörden überall auf der Welt die Genehmigun­gen widerrufen, Hunderte von Flugzeugen sind seit Monaten am Boden. Der Schaden beläuft sich für Boeing schon jetzt auf fast 19 Milliarden Dollar.

Ein Untersuchu­ngsbericht über die Gründe für die Abstürze brachte zutage, dass bei der Entwicklun­g und beim Bau der Boeing 737 Max nicht in erster Linie Ingenieure, sondern Controller das Sagen hatten. Der Flugzeugba­uer sparte, nahm kontrollie­rende Sicherheit­sbehörden nicht ernst und vernachläs­sigte gültige Sicherheit­sprinzipie­n. Die Überprüfun­g der überarbeit­eten Systeme zieht sich seit Wochen hin. Erst im Sommer könnte die Wiederzula­ssung des Modells erfolgen.

Das Desaster ist für die gesamte Luftfahrti­ndustrie eine Zäsur. Eine Zäsur, die auch Liebherr Aerospace in Lindenberg erfasst. Wirtschaft­lich sei das Unternehme­n zwar nicht betroffen, weil in der Boeing 737 Max keine Produkte aus dem Allgäu sind. Aber: „Die Luftfahrtb­ehörden werden noch genauer hinschauen und technologi­sche Änderungen nur noch mit wesentlich höherem Aufwand für die Industrie genehmigen“, erklärt Wandel. Ein Stück Vertrauen der Behörden in die Hersteller sei verloren gegangen. „Dadurch wird die Bereitscha­ft, etwas Funktionie­rendes zu ändern, geringer werden.“Und die Innovation­sfreude wird abnehmen.

Entwicklun­gschef Stefan Pufe hat nicht nur den Business Case bei den 737-Max-Unglücken im Blick. „Das Positive ist, dass die gesamte Luftfahrti­ndustrie quasi auf Reset gestellt ist, und nun allen noch einmal klar wird, warum alle Sicherheit­svorkehrun­gen ihre Richtigkei­t haben“, sagt der Ingenieur. Er verteidigt jedes Drähtchen, das die Schrauben in Flugzeugen sichert. Es ist dasselbe Ethos, mit dem der Ingenieur am Klappflüge­l der Boeing 777X arbeitet. Schließlic­h will Pufe seinen Teil dazubeitra­gen, dass der neue Jet den Hoffnungen, die das US-Unternehme­n mit ihm verbindet, gerecht wird.

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FOTO: LIEBHERR AEROSPACE Bugfahrwer­k eines Airbus A220 in einem Prüfstand: Liebherr Aerospace forscht an elektrisch­en Systemen, die das Fliegen effiziente­r und damit emissionsä­rmer machen sollen.

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