Allgäuer Überflieger
Wie Liebherr Aerospace aus Lindenberg zu einem wichtigen Zulieferer von Airbus und Boeing aufgestiegen ist und dabei an der Revolution des Fliegens arbeitet
LINDENBERG - Drei Stunden und 51 Minuten hat er gedauert, der Erstflug der Boeing 777X. Vor genau einer Woche ging er mit sicherer Landung in der Stadt Everett im US-Bundesstaat Washington zu Ende – und er hat die Ingenieure des amerikanischen Flugzeugbauers nach den vielen negativen Nachrichten wegen der Krise um das 737-Max-Modell seit Langem mal wieder lächeln lassen. Die Einführung des Jets, der im Gegensatz zu anderen Flugzeugen dieser Größe mit zwei Turbinen auskommt und so Kerosin spart, rückt damit wieder einen Schritt näher.
Für den angeschlagenen Konzern ist der Jet ein Hoffnungsträger: Er bietet bis zu 425 Personen Platz, und Boeing verspricht, dass der Treibstoffverbrauch im Gegensatz zu vergleichbaren Flugzeugen durch die besonders große Spannweite von 72 Metern um zehn Prozent geringer ist. Die langen Flügel bringen allerdings ein Problem mit sich: Das Flugzeug ist für die üblichen Standard-Gates der Flughäfen zu breit. Boeing hat sich deshalb etwas für die zivile Luftfahrt Neues einfallen lassen: Die Flügelspitzen können beim Einparken eingeklappt werden – und Boeing setzt das mit Allgäuer Hilfe um: Liebherr Aerospace mit Sitz in Lindenberg hat die Motoren entwickelt, die jeden Flügel vor dem Andocken am Gate um 3,5 Meter verkürzen.
Das Unternehmen aus dem Kreis Lindau ist Spezialist für Aktuatoren. Das sind die Maschinen, die in Flugzeugflügeln und Leitwerken die Klappen bewegen. Außerdem stellt Liebherr Aerospace Flugsteuerungen und Fahrwerke für Passagierflugzeuge her. „Bis auf die Fahrwerke sieht man unsere Komponenten in den großen Jets nicht, aber wir beliefern alle großen Hersteller in der Luftfahrt“, sagt der für Technik zuständige Geschäftsführer Klaus Schneider mit Blick auf die Liste der Auftraggeber, auf der neben Airbus und Boeing auch Embraer, Bombardier und Comac auftauchen. Im Wettbewerb mit Collins Aerospace, Moog (beide USA) und Safran (Frankreich) gehört die Luftfahrtsparte des oberschwäbischen Mischkonzerns Liebherr zu den weltweit führenden Spezialisten von Flugsteuerungen.
Im Labor in Lindenberg blickt Entwicklungschef Stefan Pufe auf das in Originalgröße aufgebaute Modell eines 777X-Flügels. Überall sind Aktuatoren, also kleine Motoren, eingebaut, die die Landklappen bewegen und eben auch die Flügelspitzen einklappen sollen. Bis vor wenigen Jahren liefen diese wichtigen Baueinheiten, auf die Liebherr Aerospace spezialisiert ist, in der Regel hydraulisch. Pufe und sein Team erforschen die Möglichkeiten, wie diese Aktuatoren künftig auch elektrisch oder zumindest teilelektrisch betrieben werden können. „Wir arbeiten an hybriden Systemen, die der Sicherheit dienen“, sagt Pufe, „auch wenn wir in zehn bis 20 Jahren kein rein elektrischen Flugzeuge haben, steigen doch die Analyse-Möglichkeiten bei den smarten Aktuatoren.“
Die Frage, ob denn jemals ein nur mit Strom angetriebenes Flugzeug abheben wird, beantwortet der Ingenieur, der vor seiner Zeit bei Liebherr 20 Jahre lang bei Airbus im Entwicklungsteam für den A380, den größten Passagierjet der Welt, gearbeitet hat, mit einem klaren Jein. Die Vorstellung, dass große Flugzeuge mit mehr als 100 Menschen auf der Landstrecke nur mit elektrischen Antrieben unterwegs sind, hält der 51-Jährige für unrealistisch. „Auf der Kurzstrecke haben elektrische und hybrid-elektrische Flieger aber gute Chancen“, erläutert der Kieler, um selbstbewusst anzufügen: „Wir bei Liebherr entwickeln die Systeme, die man braucht, um irgendwann ein vollelektrisches Flugzeug in die Luft zu bringen.“
Die Geschäftsführung von Liebherr sieht diese Entwicklungen als einen Beitrag dafür, das Fliegen umweltfreundlicher zu machen. „Wir arbeiten an Lösungen für emissionsärmeres Fliegen. Um das zu ermöglichen, engagieren wir uns mit technischen Produktverbesserungen“, sagt Technik-Geschäftsführer Schneider. Der für die Produktion verantwortliche Chef Martin Wandel – neben Wandel und Schneider komplettiert der kaufmännische Geschäftsführer Arndt Schoenemann die Unternehmensspitze
– wird deutlicher. „Wir leisten unseren Beitrag, auch wenn der Flugverkehr weltweit nicht zu den größten Emissionsverursachern gehört“, erklärt Wandel. „Aber jeder muss seinen Beitrag leisten.“
Kaum Zweifel haben die LiebherrAerospace-Chefs daran, dass der globale Flugverkehr in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird – trotz Klimadiskussion, Fridays-for-Future und Greta Thunberg. „Der Wunsch des Menschen zu reisen, ist weiter vorhanden“, sagt Schneider. Und das Wachstum von Liebherr Aerospace „generiert sich aus dem Streben der Menschen nach Mobilität – und dieses Streben ist weltweit und vor allem im asiatischen Raum nach wie vor da“, ergänzt Wandel.
Ein Wachstum, das den Umsatz des Allgäuer Unternehmens im Jahr 2019 voraussichtlich auf rund 1,435 Milliarden Euro (mit Verkehrstechnik) gebracht hat. Das ist ein Plus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allein am Stammsitz in Lindenberg erwirtschaften 2895 Mitarbeiter fast 53 Prozent des Gesamtumsatzes. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen weltweit 6127 Menschen an vier Produktionsstandorten – zum Stammsitz in Lindenberg gehört ein Werk in Friedrichshafen. Dazu kommen Produktionen in Toulouse (Frankreich), Guaratinguetá (Brasilien) und Nizhny Novgorod (Russland) sowie zehn Service-Stützpunkte.
Das Jahr 2019 ist nach Angaben Wandels planmäßig verlaufen, zum
Gewinn will sich der Liebherr-Aerospace-Chef nichts entlocken lassen. Nur so viel: „Wir machen Gewinn, wir sind zufrieden.“Die konjunkturelle Lage bereite dem Unternehmen zurzeit keine Sorgen. „In der Luftfahrt gibt es nicht so starke Schwankungen, in der Regel geht es behutsam aufwärts – und auch wenn es gesamtwirtschaftlich ungemütlicher wird, gehen wir von leichten Steigerungen aus“, erläutert Schneider.
Der Grund dafür, dass die Aktuatoren aus Lindenberg in Jets von Airbus, Boeing und Embraer – von kleinen Verkehrsflugzeugen bis zum Großflugzeug A380 – sind, dass Liebherr Aerospace das Bugfahrwerk für den A350 sowie das komplette Fahrwerkssystem für die chinesischen
Flieger ARJ21 und C919 baut und mit großem Erfolg Getriebe und elektronische Flugsicherungen entwickelt, liegt nach Ansicht von Geschäftsführer Schneider nicht zuletzt in den hohen Entwicklungsausgaben. „Wir investieren viel. Das ermöglicht uns, Aufträge zu gewinnen, die wir sonst nicht bekommen könnten“, erläutert Schneider. Das jährliche Budget für Forschung und Entwicklung liege bei rund 100 Millionen Euro – das sind immerhin rund sieben Prozent vom Gesamtumsatz.
Auch in den Stammsitz in Lindenberg hat das Unternehmen nach Angaben Wandels seit 2012 rund 250 Millionen Euro gesteckt. „Die Entscheidung, den Standort auszubauen, hat sich als goldrichtig erwiesen, sonst hätten wir das alles nicht stemmen können“, sagt Wandel. „Nun haben wir die Voraussetzungen geschaffen, mit denen wir die nächsten Jahre bestreiten können.“
Einzig ein Thema lässt die Mienen der Geschäftsführer von Liebherr Aerospace finsterer werden. Es sind die Probleme des US-Flugzeugbauers Boeing. Schneider und Wandel vermeiden auch das Wort BoeingKrise, sie sprechen von den Unglücken des Modells 737 Max. Nach zwei Abstürzen haben die Luftfahrtbehörden überall auf der Welt die Genehmigungen widerrufen, Hunderte von Flugzeugen sind seit Monaten am Boden. Der Schaden beläuft sich für Boeing schon jetzt auf fast 19 Milliarden Dollar.
Ein Untersuchungsbericht über die Gründe für die Abstürze brachte zutage, dass bei der Entwicklung und beim Bau der Boeing 737 Max nicht in erster Linie Ingenieure, sondern Controller das Sagen hatten. Der Flugzeugbauer sparte, nahm kontrollierende Sicherheitsbehörden nicht ernst und vernachlässigte gültige Sicherheitsprinzipien. Die Überprüfung der überarbeiteten Systeme zieht sich seit Wochen hin. Erst im Sommer könnte die Wiederzulassung des Modells erfolgen.
Das Desaster ist für die gesamte Luftfahrtindustrie eine Zäsur. Eine Zäsur, die auch Liebherr Aerospace in Lindenberg erfasst. Wirtschaftlich sei das Unternehmen zwar nicht betroffen, weil in der Boeing 737 Max keine Produkte aus dem Allgäu sind. Aber: „Die Luftfahrtbehörden werden noch genauer hinschauen und technologische Änderungen nur noch mit wesentlich höherem Aufwand für die Industrie genehmigen“, erklärt Wandel. Ein Stück Vertrauen der Behörden in die Hersteller sei verloren gegangen. „Dadurch wird die Bereitschaft, etwas Funktionierendes zu ändern, geringer werden.“Und die Innovationsfreude wird abnehmen.
Entwicklungschef Stefan Pufe hat nicht nur den Business Case bei den 737-Max-Unglücken im Blick. „Das Positive ist, dass die gesamte Luftfahrtindustrie quasi auf Reset gestellt ist, und nun allen noch einmal klar wird, warum alle Sicherheitsvorkehrungen ihre Richtigkeit haben“, sagt der Ingenieur. Er verteidigt jedes Drähtchen, das die Schrauben in Flugzeugen sichert. Es ist dasselbe Ethos, mit dem der Ingenieur am Klappflügel der Boeing 777X arbeitet. Schließlich will Pufe seinen Teil dazubeitragen, dass der neue Jet den Hoffnungen, die das US-Unternehmen mit ihm verbindet, gerecht wird.