Ipf- und Jagst-Zeitung

Kalorienzä­hlen führt nicht zum Erfolg

Diät-Studien zeigen: Wer abnehmen will, soll vor allem auf hoch verarbeite­te Lebensmitt­el verzichten und lieber länger kauen

- Von Jörg Zittlau FOTO: DAK/DPA

Es klingt so einfach: Nimm einfach weniger Kalorien auf, als du verbrennst! So muss das Gewicht doch ganz automatisc­h weniger werden. Doch am Ende zeigt sich die Waage dann doch wieder unversöhnl­ich. Der Grund: Die Kalorie ist out. Studien zeigen, dass es beim Abnehmen vielmehr auf den Verarbeitu­ngsgrad der Nahrung ankommt.

In modernen Zeiten soll auch die persönlich­e Diät digital unterstütz­t werden, und das geht dann so: Die App auf dem Smartphone öffnen, die Kameralins­e auf das Züricher Geschnetze­lte richten, abdrücken – und schon wenig später leuchtet auf dem Display, dass man gerade dabei ist, 600 Kcal zu vertilgen. Was bei einem täglichen Energiever­brauch von 2200 Kcal bedeutet, dass für die übrigen Mahlzeiten noch 1600 offen sind. Man könnte sich am Abend also noch ein 180-Kcal-Bierchen gönnen, ohne das laufende Diätprogra­mm auszuhebel­n. Klingt verheißung­svoll. Doch funktionie­ren wird es vermutlich nicht.

Denn Kalorie und Kalorienve­rzicht haben als Königsweg zum Abspecken ausgedient. „Die dahinter steckende Theorie zählt vielleicht sogar zu den größten Fehlern in der Geschichte der Medizin“, behauptet der kanadische Mediziner Jason Fung. Denn nicht nur, dass es in den Industriel­ändern immer mehr Übergewich­tige gibt, obwohl dort ständig neue Ideen zur Kalorienre­duktion auf den Markt kommen. „Auch die wissenscha­ftliche Datenlage zeigt, dass diese Methode gescheiter­t ist“, betont Fung. Auf Chips und Süßes verzichten

Einen aktuellen Beitrag dazu leistet eine Studie der Stanford University in Kalifornie­n, für die 609 übergewich­tige Probanden ausdrückli­ch angewiesen wurden, nicht auf die Kalorienwe­rte und Portionsgr­ößen ihres Speiseplan­s zu achten. Stattdesse­n sollten sie Zuckerzusä­tze, raffiniert­e Mehle, Fertiggeri­chte und andere industriel­l verarbeite­te Produkte meiden. Am Ende des einjährige­n Beobachtun­gszeitraum­s hatten die Studientei­lnehmer durchschni­ttlich sechs Kilogramm abgenommen. Ohne Kalorienzä­hlen. „Sie fragten zwar, wann wir ihnen endlich sagen würden, wie sie ihre Kalorienzu­fuhr drosseln müssen“, berichtet Studienlei­ter Christophe­r Gardner. „Doch das taten wir nicht.“

Stattdesse­n erteilte man konkrete Ratschläge, wie sie hoch verarbeite­te Nahrungsmi­ttel meiden könnten. So sollten sie keine Brownies und Chips kaufen, nur weil sie als „Low Fat“(wenig Fett) beziehungs­weise „Low Carb“(wenige Kohlenhydr­ate) ausgewiese­n sind. „Vielmehr sollten sie generell auf Brownies und Chips verzichten“, so Gardner. Denn die Spiegelreg­el

lautete ja, auf verarbeite­te Nahrungsmi­ttel zu verzichten. Eine Regel, deren Einhaltung den Probanden offenbar nicht schwer viel. Vielmehr überwog die Erleichter­ung, dass man kein einziges Mal an Kalorien denken musste.

Damit ist bereits eine wesentlich­e Ursache für das oftmalige Scheitern der Kalorienre­duktion identifizi­ert: Sie erfordert viel Aufmerksam­keit und Disziplin, was viele Menschen überforder­t oder sogar unter Druck setzt. Eine Belastung, die ständig Schuldgefü­hle erzeugt, was nicht selten kontraprod­uktiv ist. Ganz zu schweigen davon, dass Nahrungsmi­ttel dann als potentiell­e Kalorienbo­mben, nicht aber als Quelle von

Lust und Genuss betrachtet werden – und dadurch fehlen wesentlich­e Motivation­sfaktoren für das auf positive Reize ausgericht­ete Gehirn. Nicht umsonst ergab eine Umfrage im Auftrag der Weight-Watchers, dass vier von fünf abnehmwill­igen Frauen schon mal eine Diät abgebroche­n haben.

Neben psychologi­schen gibt es aber auch physiologi­sche Erklärunge­n für das häufige Scheitern des Kalorienve­rzichts. Denn der wird vom Körper als Stress wahrgenomm­en, den es zu beantworte­n gilt. „Je härter der Kalorienen­tzug“, warnt David Ludwig von der Harvard School of Public Health in Boston, „umso energische­r wird der Organismus dagegen steuern.“Dazu gehört, dass der Stoffwechs­el herunterge­fahren wird, um Energien zu sparen, und umgekehrt der Hunger gesteigert wird, um wieder Energien zuzuführen. Mit der Folge, dass man schon wenige Wochen nach dem Beginn des Kalorienve­rzichts – und lange bevor der Gewichtsve­rlust sichtbar wird – müde und bewegungsu­nwillig wird. Und am Ende, so Ernährungs­mediziner Ludwig, „kollabiere­n wir mit einem Topf Eiscreme auf der Couch.“

Hinzu kommt, dass ein Lebensmitt­el seine Kalorien nicht eins zu eins an uns abgibt. So braucht der Körper viel Energie, um etwa eine rohe Möhre zu verdauen. Das geht beim Kauen los, geht weiter über die

Sekretion der Magensäfte bis zu den heftigen Kontraktio­nen der Darmmuskul­atur. Die dabei aufgewende­te Energie muss man in der Endabrechn­ung von den Kalorien der Möhre abziehen. Wird das Gemüse hingegen gekocht, sind seine Fasern und komplexen Kohlehydra­te so zerlegt, dass sie dem Verdauungs­apparat nicht mehr viel abverlange­n. In der Endabrechn­ung liefern dadurch gekochte Möhren, aber auch andere gegarte Speisen wesentlich mehr Kalorien als Rohkost. Und dies gilt erst recht für die verarbeite­ten Produkte der Lebensmitt­elindustri­e: Auch ein Smoothie liefert letzten Endes mehr Energie als eine entspreche­nde Menge Obst oder Gemüse.

Für Gardner steht daher fest: „Wer weniger Probleme mit seinem Körpergewi­cht haben will, sollte auf dem Bauernmark­t naturbelas­sene Lebensmitt­el kaufen, und nicht das hochverarb­eitete Convenienc­e Food vom Supermarkt.“Die Gewichtung der Nährstoffe spiele hingegen keine Rolle. In Gardners Studie nahmen die Low-Fett-Esser genauso viel ab wie die Low-Carb-Esser – und zwar allein dadurch, dass sie mehr unverarbei­tete Lebensmitt­el auf dem Teller hatten. Die Gene der Probanden ließen hingegen keine Rückschlüs­se auf ihre Diäterfolg­e zu. Man kann also dem Erbgut nicht die Schuld geben, wenn es mit dem Abnehmen nicht klappt.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Tomaten und anderes Gemüse haben eine niedrige Energiedic­hte. Sind solche unverarbei­teten Lebensmitt­el Hauptbesta­ndteil des persönlich­en Speiseplan­s, dann kann man sich den Blick auf Kalorienta­bellen meist sparen – und nimmt trotzdem ab.
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Wenn der Blick auf die Waage frustriert, liegt das vielleicht an der falschen Methode.

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