Schlank im Schlaf
Bären können monatelang auf der faulen Haut liegen, ohne Gesundheitsprobleme zu bekommen – Wissenschaftler fragen sich: Wie machen die das?
Dieser braunhaarige Patient würde wohl jedem Hausarzt die Schweißperlen auf die Stirn treiben. Denn einen ungesünderen Lebensstil kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Nicht nur, dass der Kerl sich im Herbst in nur wenigen Wochen ein massives Übergewicht angefressen hat. Zu allem Überfluss hat er dann auch noch alle sportlichen Aktivitäten eingestellt und sich monatelang auf die faule Haut gelegt. Das klingt nach einem ziemlich sicheren Rezept, um ernsthaft krank zu werden. Herz-Kreislauf-Probleme, Muskelund Knochenschwund, Diabetes, wundgelegene Stellen: Die Liste der drohenden Leiden ist lang. Doch nichts davon wird diesem Überlebenskünstler zum Verhängnis werden. In ein paar Wochen wird er aufstehen, sich ein wenig strecken und problemlos wieder in die Gänge kommen. Deutlich schlanker – und topfit. So, wie es Generationen von Braunbären vor ihm getan haben, wenn sie aus dem Winterschlaf erwachten.
Zu gerne würden Wissenschaftler verstehen, wie die Tiere dieses Kunststück fertigbringen. Denn daraus ließe sich womöglich auch lernen, wie man einige weit verbreitete Gesundheitsprobleme beim Menschen besser in den Griff bekommen kann. „Der Winterschlaf der Bären ist medizinisch gesehen ein hochinteressantes Forschungsthema“, sagt Thomas Ruf, der sich an der Veterinärmedizinischen Universität Wien mit den Geheimnissen der saisonalen Auszeit beschäftigt. Allerdings sind die zottigen Raubtiere nicht bereit, ihre winterlichen Erfolgsrezepte so einfach preiszugeben. In ihrem Körper laufen sehr komplexe Vorgänge ab, die sie vor den negativen Folgen des Zunehmens und Faulenzens schützen. Und erst allmählich kommen Forscher dahinter, wie das alles funktioniert.
Ein Team um Michael Gotthardt vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin und Douaa Mugahid von der Harvard Medical School in Boston interessiert sich zum Beispiel dafür, wie Bären ihre Muskeln unbeschadet über den Winter bringen. Bei Menschen wäre daran gar nicht zu denken. Wer schon einmal ein paar Wochen lang im Krankenhaus liegen oder einen Gipsverband tragen musste, kann ein Lied davon singen. Die Muskeln verlieren in solchen Fällen rasch an Masse und Volumen. Nach drei Monaten Bettruhe kann schon die Hälfte ihrer Kraft verloren sein. Und das lässt sich nur durch mühsames Aufbautraining wieder rückgängig machen.
„Muskelschwund ist beim Menschen ein echtes Problem“, sagt Douaa Mugahid, „und wir sind noch immer nicht sonderlich gut darin, ihm vorzubeugen.“Wie das besser geht, hoffen sie und ihre Kollegen von Grizzlybären lernen zu können. Dazu haben sie die Aktivitäten der Muskelzellen dieser vierbeinigen Nordamerikaner zu verschiedenen
Jahreszeiten untersucht. „Wir wollten ermitteln, welche Gene und Proteine während und außerhalb des Winterschlafs hochreguliert oder heruntergefahren werden“, erklärt Michael Gotthardt.
Bei diesen Untersuchungen sind die Forscher auf Proteine gestoßen, die den Aminosäurestoffwechsel stark beeinflussen. Sie sorgen dafür, dass die Muskelzellen während des Winterschlafs größere Mengen bestimmter nicht-essentieller Aminosäuren enthalten. Tatsächlich können diese Substanzen im Labor auch isolierte Muskelzellen zum Wachsen bringen. Sie einfach als Pulver oder Tabletten einzunehmen, genügt allerdings nicht. In klinischen Studien konnten solche Präparate den Muskelschwund bei älteren oder bettlägerigen Patienten jedenfalls nicht verhindern. „Offenbar ist es wichtig, dass der Muskel diese Aminosäuren selbst produziert“, sagt Michael Gotthardt. „Ansonsten gelangen sie womöglich nicht an die Orte, an denen sie gebraucht werden.“
Gesucht ist also ein Wirkstoff, der in den Muskeln gezielt die Herstellung dieser wichtigen Substanzen ankurbelt. Um den zu finden, muss man aber erst einmal die genauen Produktionswege der Aminosäuren kennen. Also haben die Forscher als nächstes untersucht, welche Gene bei Grizzlys, bettlägerigen Menschen und Mäusen unterschiedlich reguliert werden. Davon gibt es eine ganze Reihe, einige davon hat das Team inzwischen als mögliche Kandidaten für eine Muskelschwundbehandlung
im Visier. Dazu gehören solche, die am Glucose- und Aminosäurestoffwechsel beteiligt sind, aber auch eines, das mit der inneren Uhr zu tun hat. An Mäusen will das Team nun testen, was passiert, wenn man diese Gene ausschaltet. „Als Angriffspunkte für eine Therapie eignen sie sich natürlich nur dann, wenn das keine oder nur wenige Nebenwirkungen hat“, erklärt Michael Gotthardt.
Doch nicht nur in
Sachen gesunde Muskeln genießen Bären beneidenswerte Vorteile. Auch andere Nebenwirkungen des untätigen Herumliegens haben sie offenbar bestens im Griff. So können sie ganz ohne Medikamente und Kompressionsstrümpfe verhindern, dass sich in ihren Adern tückische Blutgerinnsel bilden. Dazu verändern sie die Eigenschaften ihrer Blutplättchen, die im Winter längst nicht so klebrig sind wie zu anderen Jahreszeiten. Dadurch können sie zwar Wunden nicht mehr so rasch verschließen, aber eben auch keine Thrombosen bilden. Ein weiteres der bärigen Erfolgsrezepte hat mit dem Hormon Insulin zu tun, das in der Bauchspeicheldrüse gebildet wird und den Blutzuckerspiegel reguliert. Bei Menschen mit Übergewicht besteht die Gefahr, dass ihre Zellen irgendwann nicht mehr so empfindlich auf Insulin reagieren wie normalerweise. So eine Resistenz kann zu einer gefährlichen und weit verbreiteten Zivilisationskrankheit führen: Wer unter Diabetes vom Typ 2 leidet, kann durch einen dauerhaft hohen Blutzuckerspiegel eine ganze Palette von gesundheitlichen Probleme bekommen.
Bären dagegen haben offenbar einen raffinierten Weg gefunden, um das zu umgehen. Bevor sie sich zum Winterschlaf zurückziehen, nehmen sie zwar massiv zu. Doch anders als bei Menschen mit Diabetesrisiko zirkulieren in ihrem Blut dann weniger freie Fettsäuren und ihre Zellen werden empfindlicher für Insulin. Im Winter entwickeln sie zwar auch eine Resistenz dagegen, zu Diabetikern werden sie aber trotzdem nicht. Denn im nächsten Sommer fahren sie die Empfindlichkeit ihrer Zellen einfach wieder hoch. Auch das ist ein Trick, den Mediziner sehr gern nachahmen würden. Doch bisher weiß niemand so genau, wie das funktioniert. Das Gleiche gilt auch für die bärigen Rezepte gegen Osteoporose oder die Folgen einer gedrosselten Nierenfunktion.
Zu lernen gibt es von Braunbären und ihrer Verwandtschaft also noch genug. Sogar Raumfahrtspezialisten setzen inzwischen auf Vorbilder im braunen Pelz. „Die Europäische Weltraumagentur ESA sieht Bären als vielversprechende Modelltiere, an denen man den Winterschlaf und seine mögliche Übertragung auf den Menschen erforschen kann“, sagt Thomas Ruf. Die weite Reise zum Mars zum Beispiel könnten die menschlichen Teilnehmer womöglich am besten überstehen, wenn sie sich unterwegs ebenfalls in eine Art Winterschlaf versetzen lassen. Wie man das in der Praxis bewerkstelligen könnte, ist allerdings unklar.
Den Körper bis in die Nähe des Gefrierpunktes abzukühlen, wie es Igel und andere kleine Winterschläfer tun, hält der Wiener Forscher jedenfalls für keine gute Idee. Das sei sehr gefährlich und könne zum Herzstillstand führen. „Wie man an den Bären sieht, ist das aber auch nicht unbedingt nötig“, erklärt Thomas Ruf. Denn die Raubtiere drosseln zwar ihren Stoffwechsel ebenso massiv wie andere Winterschläfer. Ihre Körpertemperatur aber halten sie dabei auf mehr als 30 Grad. Bis Astronauten auch nur daran denken können, sich das zum Vorbild zu nehmen, wird aber noch viel Zeit vergehen. Denn einen großen Teil ihrer Tricks haben die Geheimniskrämer im braunen Pelz bisher stur für sich behalten.
’’ Der Winterschlaf der Bären ist medizinisch gesehen ein hochinteressantes Forschungsthema. Thomas Ruf, Veterinärmediziner