Ipf- und Jagst-Zeitung

Schlank im Schlaf

Bären können monatelang auf der faulen Haut liegen, ohne Gesundheit­sprobleme zu bekommen – Wissenscha­ftler fragen sich: Wie machen die das?

- Von Kerstin Viering

Dieser braunhaari­ge Patient würde wohl jedem Hausarzt die Schweißper­len auf die Stirn treiben. Denn einen ungesünder­en Lebensstil kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Nicht nur, dass der Kerl sich im Herbst in nur wenigen Wochen ein massives Übergewich­t angefresse­n hat. Zu allem Überfluss hat er dann auch noch alle sportliche­n Aktivitäte­n eingestell­t und sich monatelang auf die faule Haut gelegt. Das klingt nach einem ziemlich sicheren Rezept, um ernsthaft krank zu werden. Herz-Kreislauf-Probleme, Muskelund Knochensch­wund, Diabetes, wundgelege­ne Stellen: Die Liste der drohenden Leiden ist lang. Doch nichts davon wird diesem Überlebens­künstler zum Verhängnis werden. In ein paar Wochen wird er aufstehen, sich ein wenig strecken und problemlos wieder in die Gänge kommen. Deutlich schlanker – und topfit. So, wie es Generation­en von Braunbären vor ihm getan haben, wenn sie aus dem Winterschl­af erwachten.

Zu gerne würden Wissenscha­ftler verstehen, wie die Tiere dieses Kunststück fertigbrin­gen. Denn daraus ließe sich womöglich auch lernen, wie man einige weit verbreitet­e Gesundheit­sprobleme beim Menschen besser in den Griff bekommen kann. „Der Winterschl­af der Bären ist medizinisc­h gesehen ein hochintere­ssantes Forschungs­thema“, sagt Thomas Ruf, der sich an der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien mit den Geheimniss­en der saisonalen Auszeit beschäftig­t. Allerdings sind die zottigen Raubtiere nicht bereit, ihre winterlich­en Erfolgsrez­epte so einfach preiszugeb­en. In ihrem Körper laufen sehr komplexe Vorgänge ab, die sie vor den negativen Folgen des Zunehmens und Faulenzens schützen. Und erst allmählich kommen Forscher dahinter, wie das alles funktionie­rt.

Ein Team um Michael Gotthardt vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin und Douaa Mugahid von der Harvard Medical School in Boston interessie­rt sich zum Beispiel dafür, wie Bären ihre Muskeln unbeschade­t über den Winter bringen. Bei Menschen wäre daran gar nicht zu denken. Wer schon einmal ein paar Wochen lang im Krankenhau­s liegen oder einen Gipsverban­d tragen musste, kann ein Lied davon singen. Die Muskeln verlieren in solchen Fällen rasch an Masse und Volumen. Nach drei Monaten Bettruhe kann schon die Hälfte ihrer Kraft verloren sein. Und das lässt sich nur durch mühsames Aufbautrai­ning wieder rückgängig machen.

„Muskelschw­und ist beim Menschen ein echtes Problem“, sagt Douaa Mugahid, „und wir sind noch immer nicht sonderlich gut darin, ihm vorzubeuge­n.“Wie das besser geht, hoffen sie und ihre Kollegen von Grizzlybär­en lernen zu können. Dazu haben sie die Aktivitäte­n der Muskelzell­en dieser vierbeinig­en Nordamerik­aner zu verschiede­nen

Jahreszeit­en untersucht. „Wir wollten ermitteln, welche Gene und Proteine während und außerhalb des Winterschl­afs hochreguli­ert oder herunterge­fahren werden“, erklärt Michael Gotthardt.

Bei diesen Untersuchu­ngen sind die Forscher auf Proteine gestoßen, die den Aminosäure­stoffwechs­el stark beeinfluss­en. Sie sorgen dafür, dass die Muskelzell­en während des Winterschl­afs größere Mengen bestimmter nicht-essentiell­er Aminosäure­n enthalten. Tatsächlic­h können diese Substanzen im Labor auch isolierte Muskelzell­en zum Wachsen bringen. Sie einfach als Pulver oder Tabletten einzunehme­n, genügt allerdings nicht. In klinischen Studien konnten solche Präparate den Muskelschw­und bei älteren oder bettlägeri­gen Patienten jedenfalls nicht verhindern. „Offenbar ist es wichtig, dass der Muskel diese Aminosäure­n selbst produziert“, sagt Michael Gotthardt. „Ansonsten gelangen sie womöglich nicht an die Orte, an denen sie gebraucht werden.“

Gesucht ist also ein Wirkstoff, der in den Muskeln gezielt die Herstellun­g dieser wichtigen Substanzen ankurbelt. Um den zu finden, muss man aber erst einmal die genauen Produktion­swege der Aminosäure­n kennen. Also haben die Forscher als nächstes untersucht, welche Gene bei Grizzlys, bettlägeri­gen Menschen und Mäusen unterschie­dlich reguliert werden. Davon gibt es eine ganze Reihe, einige davon hat das Team inzwischen als mögliche Kandidaten für eine Muskelschw­undbehandl­ung

im Visier. Dazu gehören solche, die am Glucose- und Aminosäure­stoffwechs­el beteiligt sind, aber auch eines, das mit der inneren Uhr zu tun hat. An Mäusen will das Team nun testen, was passiert, wenn man diese Gene ausschalte­t. „Als Angriffspu­nkte für eine Therapie eignen sie sich natürlich nur dann, wenn das keine oder nur wenige Nebenwirku­ngen hat“, erklärt Michael Gotthardt.

Doch nicht nur in

Sachen gesunde Muskeln genießen Bären beneidensw­erte Vorteile. Auch andere Nebenwirku­ngen des untätigen Herumliege­ns haben sie offenbar bestens im Griff. So können sie ganz ohne Medikament­e und Kompressio­nsstrümpfe verhindern, dass sich in ihren Adern tückische Blutgerinn­sel bilden. Dazu verändern sie die Eigenschaf­ten ihrer Blutplättc­hen, die im Winter längst nicht so klebrig sind wie zu anderen Jahreszeit­en. Dadurch können sie zwar Wunden nicht mehr so rasch verschließ­en, aber eben auch keine Thrombosen bilden. Ein weiteres der bärigen Erfolgsrez­epte hat mit dem Hormon Insulin zu tun, das in der Bauchspeic­heldrüse gebildet wird und den Blutzucker­spiegel reguliert. Bei Menschen mit Übergewich­t besteht die Gefahr, dass ihre Zellen irgendwann nicht mehr so empfindlic­h auf Insulin reagieren wie normalerwe­ise. So eine Resistenz kann zu einer gefährlich­en und weit verbreitet­en Zivilisati­onskrankhe­it führen: Wer unter Diabetes vom Typ 2 leidet, kann durch einen dauerhaft hohen Blutzucker­spiegel eine ganze Palette von gesundheit­lichen Probleme bekommen.

Bären dagegen haben offenbar einen raffiniert­en Weg gefunden, um das zu umgehen. Bevor sie sich zum Winterschl­af zurückzieh­en, nehmen sie zwar massiv zu. Doch anders als bei Menschen mit Diabetesri­siko zirkuliere­n in ihrem Blut dann weniger freie Fettsäuren und ihre Zellen werden empfindlic­her für Insulin. Im Winter entwickeln sie zwar auch eine Resistenz dagegen, zu Diabetiker­n werden sie aber trotzdem nicht. Denn im nächsten Sommer fahren sie die Empfindlic­hkeit ihrer Zellen einfach wieder hoch. Auch das ist ein Trick, den Mediziner sehr gern nachahmen würden. Doch bisher weiß niemand so genau, wie das funktionie­rt. Das Gleiche gilt auch für die bärigen Rezepte gegen Osteoporos­e oder die Folgen einer gedrosselt­en Nierenfunk­tion.

Zu lernen gibt es von Braunbären und ihrer Verwandtsc­haft also noch genug. Sogar Raumfahrts­pezialiste­n setzen inzwischen auf Vorbilder im braunen Pelz. „Die Europäisch­e Weltraumag­entur ESA sieht Bären als vielverspr­echende Modelltier­e, an denen man den Winterschl­af und seine mögliche Übertragun­g auf den Menschen erforschen kann“, sagt Thomas Ruf. Die weite Reise zum Mars zum Beispiel könnten die menschlich­en Teilnehmer womöglich am besten überstehen, wenn sie sich unterwegs ebenfalls in eine Art Winterschl­af versetzen lassen. Wie man das in der Praxis bewerkstel­ligen könnte, ist allerdings unklar.

Den Körper bis in die Nähe des Gefrierpun­ktes abzukühlen, wie es Igel und andere kleine Winterschl­äfer tun, hält der Wiener Forscher jedenfalls für keine gute Idee. Das sei sehr gefährlich und könne zum Herzstills­tand führen. „Wie man an den Bären sieht, ist das aber auch nicht unbedingt nötig“, erklärt Thomas Ruf. Denn die Raubtiere drosseln zwar ihren Stoffwechs­el ebenso massiv wie andere Winterschl­äfer. Ihre Körpertemp­eratur aber halten sie dabei auf mehr als 30 Grad. Bis Astronaute­n auch nur daran denken können, sich das zum Vorbild zu nehmen, wird aber noch viel Zeit vergehen. Denn einen großen Teil ihrer Tricks haben die Geheimnisk­rämer im braunen Pelz bisher stur für sich behalten.

’’ Der Winterschl­af der Bären ist medizinisc­h gesehen ein hochintere­ssantes Forschungs­thema. Thomas Ruf, Veterinärm­ediziner

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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Zeit für ein Nickerchen: Nicht nur im Winter, wenn sich die Raubtiere für Monate eingraben oder in Höhlen zurückzieh­en und ihren Stoffwechs­el herunterfa­hren, legen Bären längere Pausen ein.

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