Ausbeutung und Emanzipation
Die beiden Näherinnen Taslima und Antora arbeiten in Bangladesch unter harten Bedingungen – Doch der Beruf verhilft zu einem selbstbestimmten Leben
Tausend Hemdärmel. Tausend Hemdärmel, so viele wie gestern. So viele wie vorgestern. So viele wie jeden Tag seit Freitag vor zwei Wochen, als sie mit dem neuen Auftrag begannen. Taslima fährt mit der Zungenspitze über die Lippen, schiebt den blau-weiß gestreiften Stoff behutsam und zügig unter dem Nähkopf durch. Die Maschine surrt, die Nadel sticht eine saubere Naht. Taslima legt den Ärmel in einen Korb links neben ihrem Tisch, greift in einen Korb rechts neben dem Tisch, näht den nächsten Ärmel, eine halbe Minute braucht sie dafür.
Linie 3, in der Taslima arbeitet, zieht sich längs durch die Fabriketage, genau wie Linie 2, in der Antora arbeitet, Taslimas Cousine und beste Freundin. In sieben Reihen sitzen Frauen an Nähmaschinen, sieben Reihen, in denen ein hellblau-weißes Herrenoberhemd entsteht. 375 Köpfe beugen sich über gestreiften Stoff, Köpfe mit schwarz glänzenden Zöpfen oder locker geschlungenen Tüchern, vom ersten und vom letzten Platz einer Reihe sieht die Arbeiterin am anderen Ende aus wie ein dunkler oder wie ein bunter Punkt.
Middle Badda, 1212 Dhaka, Bangladesch, ist der Sitz von Moon Garments, eine von Hunderten Textilfabriken in dieser Ecke der Stadt. Hinterhofverschläge mit einer Handvoll Näherinnen, Werkstätten in Wohnhäusern, mittelgroße Hersteller wie Moon, gut 750 Mitarbeiter in der Produktion, 20 im Büro. Die Fabrik steht in einer schmalen Seitenstraße, Wand an Wand mit den Nachbarhäusern, die Fenster sind vergittert, ein Wachmann schließt von innen eine schwere Metalltür auf.
In den Produktionshallen hängen Tafeln mit Tabellen, die Produktionsziele pro Woche, pro Tag, pro Stunde, daneben die Produktionszahlen. Um die 150 000 Teile stellen sie bei Moon jeden Monat her, etwa 5000 jeden Tag, gut 200 pro Stunde. Hemden, Blusen, Hosen, Kleider, Modelle für Frauen, Männer, Kinder. Zwei Tage noch, dann müssen die Näherinnen mit den blau-weißen Herrenhemden fertig sein. Rumpf. Ärmel. Manschetten. Knopfleisten. Knopflöcher. Kragen. Brusttasche. Nähte. Säume. Knöpfe. Oberhemden sind komplexe Kleidungsstücke. Zwei Stunden dauert es, bis ein Hemd fertig ist, 42 Näherinnen arbeiten daran. In den Gesichtern der Frauen glitzern goldene Nasenstecker und Schweißtröpfchen, Deckenventilatoren rühren durch stickige, schwülwarme Luft. Es riecht nach einem langen Arbeitstag, nach Dampfbügeleisen und der Chemie neuer Kleidung. Neonröhrenlicht brennt in den Augen. Das Geräusch der Nähmaschinen erinnert an Insekten.
Die Geschichte der Textilarbeiterinnen in Bangladesch hat zwei Dimensionen. Es ist die Geschichte einer Branche, die Menschen wie billiges Rohmaterial behandelt, mit 35, spätestens Anfang 40, hören Näherinnen mit der Fabrikarbeit auf, ihre Körper sind kaputt und krank. Historiker sehen klare Parallelen zwischen den Näherinnen im Bangladesch des 21. Jahrhunderts und den Arbeitern in der britischen Textilindustrie im 19. Jahrhundert: beide Gruppen Opfer von Kapitalismus und Globalisierung, beide Gruppen Opfer der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit. Eine Geschichte der Ausbeutung.
Zugleich ist es eine Geschichte der Emanzipation. Sich von traditionellen Erwartungen und Rollenbildern abnabeln, Geld verdienen,
Entscheidungen treffen, für sich selbst Verantwortung tragen – die Jobs in den Fabriken bieten Frauen eine Chance, in einer patriarchalischen Gesellschaft wie Bangladesch ihr eigenes Leben zu leben. „Ohne die Textilindustrie wären die Frauen in diesem Land heute nicht so weit, wie sie sind“, sagt Nazma Akter, eine Gewerkschafterin in Dhaka, die als Mädchen selbst in Textilfabriken arbeitete. „Früher ging eine Frau nie ohne einen Mann auf die Straße, und wenn es nur der kleine Sohn war“, sagt Akter. „Heute ist es normal, dass eine Frau in der Stadt allein unterwegs ist, dass sie selbst für sich sorgt, dass sie sogar ihre Angehörigen auf dem Land unterstützt.“
Taslima: Stämmig und klein, rundes Kindergesicht, schmale Augen, die Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Antora: Zierlich, schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, ein dicker Zopf baumelt ihren Rücken hinab, schwarz glänzend und fest geflochten. Die beiden sind Cousinen, 20 oder 21 Jahre alt, genau wissen sie es nicht, Geburtsurkunden waren in Bangladesch der 1990er-Jahre noch selten. Taslima und Antora tragen lockere Hosen, knielange Tuniken, dünne Schals, Taslima in Pink und Schwarz, Antora in Blau und Gelb.
Sie wohnen in einem Haus, das sie sich mit zwei Familien teilen, es riecht nach frischer Wäsche und gebratenen Zwiebeln. Taslima und Antora haben ein gemeinsames Zimmer, petrolblau gestrichen, Doppelbett, ein Schrank mit Gläsern, Geschirr, Plastikblumen. Ein Kühlschrank, ein kleiner Wandfernseher, eine wuchtige Nähmaschine. In einer Ecke stehen zwei kleine Koffer, an einem rosa Plastikspiegel klemmen Fotos, leicht verbogen und vergilbt. Im Monat zahlen sie 5000 Taka, rund 54 Euro, für Zimmermiete und Strom, 1500 bis 2500 Taka geben sie für Essen,
Rikscha-Fahrten, Arztrechnungen aus, zweimal im Jahr kaufen sie Schuhe und Schmuck. „1000 bis 2000 Taka schicken wir jeden Monat an unsere Eltern“, erzählt Taslima. „Etwa 3000 zahlen wir auf unsere Sparkonten ein“, sagt Antora. „Irgendwann habe ich so viel Geld, dass ich mir eine große Wohnung leisten kann. Oder ich mache eine Reise in den Süden, ans Meer.“
Ein früher Freitagmorgen am Busbahnhof Mohakhali, noch im Dunkeln startet der Bus nach Kishoreganj. Als der Fahrer die Ladetüren zuknallt, scheint kein Strohhalm mehr hineinzupassen, aus den Gepäckfächern quellen Plastiktüten, Taschen, Körbe, die Fahrgäste teilen sich zu dritt oder viert einen Doppelsitz, Taslima und Antora schreiben WhatsApp auf ihren Smartphones. Entlang der Strecke stehen zig Nähbetriebe, manche flache Baracken, andere mehrere Stockwerke hoch, bei Gazipur geht es links in einen Industriepark, die grössten Textilhersteller des Landes haben dort in den vergangenen Jahren riesige Fabriken gebaut.
Als der Bus am Ortsschild von Kishoreganj vorbeifährt, holen Taslima und Antora lange Tücher aus den Rucksäcken und verhüllen sich, Antora lässt nur die Augen frei. Am Marktplatz warten ihre Familien, die Mütter weinen, die
Geschwister küssen sich, die kleinen Mädchen hängen den großen Schwestern Kränze aus gelben Blüten um den Hals, tanzen um sie herum. Die Familien wohnen in einem Dorf, vom Marktplatz eine knappe Stunde zu Fuß. Am Weg liegen Reisfelder und Bananenwäldchen, kleine Jungs treiben Kühe und Ziegen durch braunes Gras, Frauen hacken Feuerholz.
Taslimas Vater arbeitet als Landwirt wie seine vier Brüder. Früher hatte er drei Kühe und ordentliche Reisernten, manchmal so viel, dass er ein paar Sack auf dem Markt verkaufte. Zwei Kühe sind weg, die Familie brauchte Geld. „Mit dem Reis wird es immer schlechter“, sagt der Vater. „Der Monsun ist jedes Jahr stärker, er schwemmt die Pflanzen weg, oder sie verfaulen im zu hohen Wasser.“Wie wichtig ist das Geld, das Taslima jeden Monat nach Hause schickt? Der Vater schweigt, schaut auf seine Hände. Die Haut sieht aus wie Leder, auch im Gesicht, Ende 40 ist er. Taslima und Antora verdienen als Arbeiterinnen in einer Nähfabrik so viel, wie ihre Väter als Bauern nie in ihrem Leben verdient haben und nie mehr verdienen werden. Ohne die Hilfe der Töchter könnten ihre Familien nicht überleben.
Taslima und Antora servieren riesige Schüsseln mit Reis, Huhn, Fisch, Salat, Saucen, stundenlang haben sie gekocht. Nach dem Essen verteilen sie Geschenke. Sandalen und Medikamente für die Eltern, Stifte, Schulhefte, ein Fußball für die Geschwister, Ohrringe für die Oma. Die kleinen Brüder wollen auf den Smartphones der großen Schwestern spielen, Antora schaut sie an, eine kleine Kopfbewegung, sofort sind die Jungs still.
Auf dem Land ist das Leben eines Mädchens vorgezeichnet. Heirat mit 15, 16, den Partner suchen die Eltern aus, nach der Hochzeit lebt die Frau in der Familie ihres Mannes, die dafür eine möglichst hohe Mitgift erwartet. „Es ist gut, unabhängig zu sein, bevor man heiratet“, sagt Antora. „Außerdem ist das Leben in Dhaka zwar sehr hart, du musst jeden Tag kämpfen. Aber es hat auch viele Vorteile. Denn du hast mehr Freiheit, du bist nur ein Mädchen von vielen. Im Dorf stehst du immer unter Beobachtung, alle reden über dich. Mach dies, tu das, mach dies nicht, tu das nicht, so geht es hier den ganzen Tag.“Taslima lächelt. „Heute“, sagt sie, „sind die Leute im Dorf neidisch, weil wir unseren Familien Geld schicken und Geschenke mitbringen.“– „Manchmal fühle ich mich nicht mehr wie ein Mädchen“, sagt Antora. „Manchmal fühle ich mich so stark wie ein Mann.“