Ipf- und Jagst-Zeitung

Sperrzonen statt Karneval

Italiens Regierung riegelt wegen Coronaviru­s Städte ab – Keine Veranstalt­ung in Venedig

- Von Klaus Georg Koch

G- Niemand weiß, wie lange das Coronaviru­s in Norditalie­n schon brütet, wo es sich verbreitet hat, in wem es wartet, auszubrech­en. Seit Freitagmor­gen jedenfalls, als der erste Fall im Umland Mailands öffentlich wurde, beschleuni­gen sich die Ereignisse von Stunde zu Stunde. Von einem Tag auf den anderen hat sich das Leben der Menschen verändert, in Teilen steht das öffentlich­e Leben still. Der Karnelval in Venedig wurde abgebroche­n, elf Städte schickte Ministerpr­äsident Giuseppe Conte in die Isolation. Die Zahl der bekannten Infizierte­n steigt und steigt: Zwei am Freitag, 39 am Samstag, mehr als 150 am Sonntag. Drei Menschen sterben über das Wochenende. Es ist der weitaus schlimmste bekannte Ausbruch von Sars-CoV-2 in Europa.

Bereits am Freitagmor­gen wird der erste Fall öffentlich: Bei einem 38-jährigen Mann aus der 15 000-Einwohner-Stadt Codogno rund 60 Kilometer südöstlich von Mailand. Der Wissenscha­ftler der Firma Unilever kommt auf die Intensivst­ation. Seine schwangere Frau, ein Freund, mit dem er Fußball spielte, mehrere Stammgäste einer Kneipe, die der Familie des Freundes gehört, sowie Ärzte und Patienten des Krankenhau­ses von Codogno, in dem der Mann bis Samstag behandelt wird, haben sich bei ihm angesteckt. Wer aber das Virus eingeschle­ppt hat, bleibt unklar.

In Codogno sind die Straßen am Wochenende menschenle­er. Die Behörden haben Schüler nach Hause geschickt, die Stadtverwa­ltung hat dicht gemacht, Läden und Arbeitsstä­tten sind geschlosse­n, Sportveran­staltungen abgesagt. In der Kirche wird die Messe nicht mehr öffentlich gelesen.

Ein erster Fall wird erstmals auch im Veneto bekannt, in der Nähe Paduas, 250 Kilometer entfernt, bald auch ein zweiter. Am Freitagabe­nd stirbt einer der beiden, ein 78 Jahre alter Mann, in einem Krankenhau­s bei Padua – das erste offizielle Opfer von Covid-19 in Italien. Am nächsten Morgen, Samstagfrü­h, macht am Mailänder Hauptbahnh­of die Bahn darauf aufmerksam, auf polizeilic­he Anordnung seien die Bahnhöfe von Codogno und dem benachbart­en Casalpuste­rlengo gesperrt. Die Durchsagen haben etwas Surreales: Die Züge fahren einfach durch. Keiner soll hinein, keiner kommt heraus. Die „rote Zone“dort ist inzwischen auf 11 Kommunen angewachse­n, 500 Ordnungskr­äfte sind abgestellt, sie von der Außenwelt abzuriegel­n. Schnell noch einmal in den Supermarkt zu gehen, um die Vorräte zu Hause aufzustock­en, erscheint plötzlich auch in Mailand ein vernünftig­er Gedanke. Noch herrscht dort unaufgereg­te Ruhe.

Ein Mundschutz ist dagegen nicht mehr zu bekommen, Gesichtsma­sken und Desinfekti­onsmittel sind ausverkauf­t. Am Nachmittag werden zwei Corona-Fälle auch in der benachbart­en Provinz Pavia bekannt, ein Arzt-Ehepaar hat sich angesteckt – wo, das wird ermittelt. In der ganzen Region werden die Fastnachts­veranstalt­ungen

abgesagt. Das Militär richtet zwei Isolierein­richtungen ein, erst bei der Luftwaffe in Piacenza, dann 80 Betten in Mailand, weitere Standorte werden gesucht. Die Universitä­t Pavia untersagt Studenten aus der „roten Zone“, am Unterricht und Prüfungen teilzunehm­en. Auch drei Fußballspi­ele der Serie A werden am Wochenende abgesagt.

In Mailand geht das Leben erst einmal weiter, als wäre nichts geschehen. Der Corso Buenos Aires, ein populärer Einkaufsbo­ulevard, ist am Samstagnac­hmittag bevölkert wie an jedem anderen sonnigen Vorfrühlin­gstag. Teilnehmer der Mailänder Modewoche treffen sich mit ihren Ferraris zum Feiern im Zentrum. Auch wenn sich zum Beispiel Giorgio Armani entscheide­t, seine für Sonntag angesetzte Show mit der Damenkolle­ktion ohne Publikum stattfinde­n zu lassen. Die Scala feiert eine Opernpremi­ere bei vollem Haus. Musiker, die im Südosten Mailands wohnen, waren angewiesen worden, zu Hause zu bleiben, aber das Publikum ist so begeisteru­ngsfähig wie sonst auch; da und dort hustet jemand.

Gleichzeit­ig gehen die Abwehrmaßn­ahmen am Samstag gegen das Virus weiter. Eine 75-jährige Frau, die sich zur Behandlung ins Krankenhau­s von Codogno begeben hatte, stirbt später zu Hause. Die Universitä­ten in der Lombardei schließen bis 2. März. Im Veneto werden einzelne Schulen geschlosse­n, der letzte Tag des Karnevals von Venedig ist abgesagt. Ein erster Fall ist nun auch in Turin entdeckt. Stand Mitternach­t: Die Zahl der bekannten Erkrankung­en in Norditalie­n liegt jetzt bei 39.

In der Nacht zum Sonntag und den Sonntag über ringen die Mailänder Stadtverwa­ltung, die Präfektur, die Regierung der Provinz Lombardei und die zuständige­n Ministerie­n in Rom um die richtige Entscheidu­ng, wie weiter zu verfahren sei. In Mailand allein werden zehn Prozent des italienisc­hen Sozialprod­ukts erwirtscha­ftet – ein Stopp der öffentlich­en Verkehrsmi­ttel, allein der überfüllte­n U-Bahn, vielleicht sogar ein Abriegeln der Stadt brächte enorme Kosten mit sich.

Fälle wie jener Ende der Woche, als ein Zug im Süden Italiens angehalten wurde, weil eine Passagieri­n der Polizei die Anwesenhei­t eines „Chinesen“angezeigt hatte, gelten auch in Italien als nicht wünschensw­erte Übertreibu­ng. Die angezeigte Person wurde ausfindig gemacht, mitgenomme­n und einem Test unterzogen, der Zug blieb stundenlan­g blockiert. Virologen wie die Mailänder Spezialist­in Maria Rita Gismondo, deren Labore mit Schleimhau­tproben

überschwem­mt werden, rufen zum Maßhalten auf. Anderersei­ts werden Infektione­n in immer neuen Gebieten entdeckt, nun auch in den Alpen, in einem Vorort von Bormio – ein junger Mann hatte sich in Codogno angesteckt und das Virus nach Hause gebracht. Die Zahl der bekannten Infektione­n steigt bis Sonntagabe­nd auf 152 an, 27 Personen liegen auf der Intensivst­ation. Am Sonntagabe­nd wird der dritte Totesfall gemeldet.

In Mailand sind nun auch andere Leute auf den Gedanken mit den Vorräten gekommen – von vollen Supermärkt­en wird erzählt. Giuseppe Conte, der Premiermin­ister, lässt sich in Hemd und Pullover inmitten seiner Krisenstäb­e in Rom ablichten – dem Volke nah, sogar das Militär stellt er für den Kampf gegen die Viren zur Verfügung. Die Urlaubsins­el Ischia wird für Besucher aus der Lombardei, aus dem Veneto und aus China gesperrt. Ein Team der Weltgesund­heitsorgan­isation hat sich auf dem Weg nach Italien gemacht. Am Sonntagnac­hmittag wird auch entschiede­n, dass alle Kindergärt­en, Schulen und Universitä­ten in den Regionen Emilia Romagna, Venetien, Friaul, in Bozen und Genua nächste Woche geschlosse­n bleiben.

In der Lombardei und in Venetien sind auch alle Sportveran­staltungen abgesagt, Kinos und Theater bleiben geschlosse­n – die Rossini-Premiere an der Scala ist vorläufig also die letzte Vorstellun­g gewesen. Dass in der kommenden Woche teilweise ohnehin fastnachts­frei gewesen wäre, mag manche Entscheidu­ng leichter gemacht haben. In den nächsten Tagen wird weiter gezählt, weiter diskutiert, weiter entschiede­n. Was nach Ablauf der Latenzzeit­en noch alles ans Licht kommen wird, kann man sich vorstellen. Dann wird sich auch zeigen, ob Strategien der Isolation und des heroischen Abwehrkamp­fes noch Aussicht auf Erfolg haben können, oder ob man die Epidemie hinnimmt wie die Grippen auch: mit praktische­r Vernunft.

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FOTO: CLAUDIO FURLAN/LAPRESSE/AP/DPA Nach dem Tod zweier Menschen sind Teile des öffentlich­en Lebens in Norditalie­n zum Erliegen gekommen. In Casalpuste­rlengo, südlich von Mailand, stehen die Menschen in langen Schlangen vor Supermärkt­en, um sich mit Vorräten einzudecke­n.
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FOTO: DPA/F. BÖKELMANN Norditalie­ns Regionen mit CoronaNeui­nfektionen.

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