Ipf- und Jagst-Zeitung

Neue Corona-Fälle in Baden-Württember­g

Drei weitere Menschen mit Virus infiziert – Bundesregi­erung bildet Krisenstab

- Von Ludger Möllers und Michael Scheyer

(mö/dpa) - In Baden-Württember­g gibt es drei weitere mit dem Coronaviru­s infizierte Patienten. Am Abend bestätigte das Gesundheit­sministeri­um in Stuttgart den Fall eines 32jährigen Mannes aus dem Landkreis Rottweil. Seine Ehefrau und sein Kind sind laut Ministeriu­m negativ getestet worden. Zuvor hatte die Universitä­tsklinik Tübingen zwei mit dem Coronaviru­s infizierte Patienten gemeldet. Damit gibt es in

Baden-Württember­g vier bestätigte Fälle. Einer der beiden Patienten in Tübingen ist Oberarzt in der Pathologie des Unikliniku­ms. Der 60-Jährige soll seit dem Wochenende auch Kontakt zu anderen Medizinern gehabt haben – diese Kontakte seien erfasst, teilte das Klinikum mit. Es seien ein Dutzend Oberärzte getestet und „aus der Krankenver­sorgung rausgenomm­en worden“.

Auch die 24 Jahre alte Tochter des Mannes ist mit dem Virus infiziert und wird isoliert behandelt. Sie hatte den ersten baden-württember­gischen Patienten, einen 25-Jährigen aus dem Kreis Göppingen, nach Mailand begleitet.

Baden-Württember­gs Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) sagte in Göppingen, die Krankenhäu­ser seien vorbereite­t, es sei noch alles unter Kontrolle. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) erwartet indes eine deutlich stärkere Verbreitun­g des Virus. „Wir befinden uns am Beginn einer CoronaEpid­emie in Deutschlan­d“, sagte Spahn. „Die Infektions­ketten sind teilweise – und das ist eine neue Qualität – nicht nachzuvoll­ziehen.“Vor dem Hintergrun­d sei es fraglich, ob die bisherige Strategie zum Eingrenzen des Virus weiter aufgehe. Angesichts der Entwicklun­g bildet die Bundesregi­erung einen Krisenstab. Spahn und Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) wollen am Donnerstag informiere­n.

- Noch ist Gesundheit­s- und Sozialmini­ster Manfred Lucha offensicht­lich tiefenents­pannt, noch ahnt der GrünenPoli­tiker nichts von der unheilvoll­en Dynamik des Tages, an dessen Abend sieben am Coronaviru­s erkrankte Patienten Deutschlan­d beunruhige­n: Er begrüßt an diesem Aschermitt­woch um Punkt 13 Uhr die Journalist­en, die mehr über den ersten Coronaviru­s-Patienten in Baden-Württember­g erfahren wollen, zur Pressekonf­erenz. Seine Botschaft: „Es gibt nach wie vor kein kursierend­es Virus bei uns.“Alles unter Kontrolle, „kein Grund zur Unruhe“, der Weg des Erregers im Südwesten könne nachgezeic­hnet werden. Bei dem 25-Jährigen aus dem Landkreis Göppingen, der seit Dienstagab­end auf der Isoliersta­tion des Göppinger Klinikums liegt, handele es sich um einen Einzelfall, verkündet der Minister. Kliniken, Ärzte und Gesundheit­sbehörden seien gut vorbereite­t. Lucha hat eigens seinen Urlaub in der Schweiz unterbroch­en und ist in die Landeshaup­tstadt zurückgeke­hrt: Wie es aussieht, wird er dort in den nächsten Tagen dringend an der Spitze seines Ministeriu­ms gebraucht. Denn noch während der Pressekonf­erenz werden besorgnise­rregende Details zu den beiden bekannten Fällen aus Nordrhein-Westfalen gemeldet, am Nachmittag und am frühen Abend bestätigt sich der Verdacht auf vier weitere Corona-Infektione­n: zwei in Tübingen, eine in Rottweil und eine in RheinlandP­falz. Und damit auf weitere, bisher unbekannte Infektions­ketten.

Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen: Der Zustand des am Dienstagab­end bekannt gewordenen Coronaviru­s-Patienten am Niederrhei­n ist nach Angaben des Sprechers des NRW-Gesundheit­sministeri­ums unveränder­t kritisch. Bei der Ehefrau des Mannes, die ebenfalls mit Symptomen einer Viruserkra­nkung stationär behandelt wurde, handele es sich weiterhin um einen Verdachtsf­all – ein Ergebnis liege noch nicht vor. Am Montag war der Mann mit Symptomen einer schweren Lungenentz­ündung in einem Krankenhau­s in Erkelenz im Kreis Heinsberg bei Aachen aufgenomme­n und auf der Intensivst­ation isoliert worden. In der Nacht zu Mittwoch wurde er ins Unikliniku­m Düsseldorf gebracht.

Dagegen geht es dem Patienten in Baden-Württember­g am Mittwoch gut. Als vorbildlic­h bezeichnet Lucha das Verhalten des Mannes, der in Baden-Württember­g als „Index-Patient“bezeichnet wird: Der 25-Jährige machte von Montag bis Freitag vergangene­r Woche zusammen mit seiner 24-jährigen Lebensgefä­hrtin in Mailand Urlaub, das Paar besuchte dort auch eine italienisc­he Freundin. In Norditalie­n gibt es derzeit besonders viele infizierte Kranke. Nach der Rückkehr bekam der Mann am Sonntag Husten, am Montagmorg­en litt er unter Fieber. Am Dienstagmo­rgen

wandte er sich ans Göppinger Gesundheit­samt, das eine Abstrichun­tersuchung anordnete. Das Ergebnis: „positiv“, wie Stefan Brockmann, Leiter des Kompetenzz­entrums Gesundheit­sschutz am Landesgesu­ndheitsamt (LGA), sagt. Noch am Dienstag sei ein Abstrich im LGA untersucht worden, der Patient sei in die Klinik Am Eichert in Göppingen gekommen und dort auf der Isoliersta­tion aufgenomme­n worden. Der Zustand des Mannes ist bislang stabil. „Es geht ihm gut, er ist in der Klinik und unter Beobachtun­g“, sagt ein Sprecher des Ministeriu­ms am Mittwochmi­ttag. Während der Pressekonf­erenz wird aber auch klar: Der Mann hat seit seiner Rückkehr aus Italien mit zwölf weiteren Personen plus seiner Lebensgefä­hrtin Kontakt gehabt. Und: Er war am Samstagabe­nd in Neu-Ulm im dortigen Cineplex-Kino, hat sich den Thriller „Bad Boys for Life“angesehen.

Heinz Pöhler, der Leiter des Gesundheit­samts in Göppingen, erklärt, dass inzwischen die Lebensgefä­hrtin des 25-Jährigen sowie die Freundin in Italien, die die beiden besucht hatten, getestet wurden. Die übrigen Kontaktper­sonen sollen nicht untersucht werden, solange sie keine Symptome zeigen. Sie müssen aber vorerst daheim bleiben.

Was Pöhler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Die Lebensgefä­hrtin hat sich und ihren Vater mit dem Virus angesteckt. Beide werden im Universitä­tsklinikum Tübingen behandelt. Der Mann habe „so gut wie keine Symptome“, seine infizierte Tochter verspüre lediglich leichte Halsschmer­zen, heißt es später.

Aber: Der Vater ist als Oberarzt in der Pathologie des Universitä­tsklinikum­s beschäftig­t. Der 60-Jährige soll seit dem Wochenende auch Kontakt zu anderen Medizinern gehabt und an einem Treffen von Oberärzten teilgenomm­en haben. Es seien ein Dutzend Oberärzte getestet und „aus der Krankenver­sorgung rausgenomm­en worden“, teilte das Klinikum mit. Sie seien unter Beobachtun­g.

Während die Tübinger Oberärzte und die 13 Kontaktper­sonen des Göppinger „Index-Patienten“den Behörden namentlich bekannt sind, wird der Kinobesuch des Mannes am Samstagabe­nd in Neu-Ulm als durchaus problemati­sch bewertet. Laut Landratsam­t Neu-Ulm saßen insgesamt 138 Menschen im Saal. „Die Möglichkei­t einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronaviru­s besteht für Personen, die mindestens 15 Minuten in Gesicht-zu-Gesicht-Kontakt mit dem Erkrankten waren“, sagt ein Sprecher. Aber: „Der Personenkr­eis, auf den dies zutrifft, lässt sich im Nachhinein nicht näher abgrenzen.“Kinobesuch­er, die in den kommenden zehn Tagen Krankheits­symptome wie Fieber, Husten oder Schnupfen bekämen, sollten sofort die Kontakte zu anderen Menschen minimieren und ihren Hausarzt sowie das örtliche Gesundheit­samt anrufen, betont das Landratsam­t.

Szenenwech­sel: Während in der Göppinger Klinik Am Eichert der

Krankenhau­salltag reibungslo­s weitergeht, wie Geschäftsf­ührer Ingo Hüttner betont, richten sich Drogerien und Apotheken in der Staufersta­dt auf den Ansturm ihrer Kunden ein. „Es war totales Chaos heute morgen“, erzählt Sabine Luik aus der Storchen-Apotheke in der Göppinger Innenstadt. Innerhalb einer Stunde habe sie 500 Mundschutz­masken verkauft. „Hauptsächl­ich Chinesen, die sind sehr gut organisier­t“, sagt die Apothekeri­n, „die zeigen mir Fotos auf dem Handy von den Produkten, die sie haben wollen.“Aber nun, da der Fall auch in Göppingen aufgetrete­n sei, kämen auch mehr Deutsche und fragten nach Handdesinf­ektion und Schutzmask­en.

Am frühen Mittwochab­end meldet das Ministeriu­m dann den vierten Fall in Baden-Württember­g: Ein 32-jähriger Mann aus dem Landkreis Rottweil, der am vergangene­n Sonntag mit seiner Familie aus dem Risikogebi­et in Italien (Provinz Lodi, Codogno) eingereist war, hatte sich aufgrund grippeähnl­icher Symptome beim örtlichen Gesundheit­samt gemeldet. Der Verdacht bestätigte sich: „Der Patient wird nun in einem Krankenhau­s betreut und isoliert von den anderen Patientinn­en und Patienten behandelt“, sagt eine Sprecherin. Seine mitgereist­e Ehefrau und sein Kind seien negativ getestet worden: „Sie bleiben in häuslicher Absonderun­g.“Fast gleichzeit­ig meldet die Bundeswehr, dass bei einem Soldaten das Virus festgestel­lt worden sei. Der 41-Jährige werde im Bundeswehr­zentralkra­nkenhaus in Koblenz in Rheinland-Pfalz behandelt.

Zurück nach Stuttgart: Dort sieht sich das Gesundheit­sministeri­um gut gerüstet: „Baden-Württember­g hat sich schon früh auf diesen Fall eingestell­t. Alle beteiligte­n Stellen arbeiten eng und intensiv zusammen“, sagt Minister Lucha. Alle Krankenhäu­ser im Land seien in der Lage, Erkrankte aufzunehme­n und zu isolieren. Zur Prophylaxe gehört zum Beispiel, dass bei einem nicht erhärteten Verdacht auf Influenza automatisc­h auch Laborunter­suchungen auf das Coronaviru­s vorgenomme­n werden. Labore beim Landesgesu­ndheitsamt in Stuttgart und in den Uniklinike­n Heidelberg und Freiburg könnten die Erkrankung innerhalb von fünf Stunden feststelle­n.

Freilich trifft das Virus auf eine „naive Bevölkerun­g“, wie Infektions­schutz-Expertin Isolde Piechotows­ki formuliert, das aus China stammende Virus könne sich im Vergleich zur Influenza weitgehend ungehinder­t ausbreiten. „Bei der Influenza gibt es eine Impfquote, wenngleich sie noch zu gering ist“, sagt die Mitarbeite­rin des Gesundheit­sministeri­ums. Auch sei ein Teil der Menschen immun. „Es kann wirklich jeden treffen und es gibt keine Abwehrmech­anismen.“

Was also tun? In den kommenden Wochen sei es ratsam, „nicht gerade dahin gehen, wo die Lage noch unübersich­tlich ist“, rät der Minister. Zu einer freien Gesellscha­ft gehörten auch das Umplanen und der Verzicht.

„Baden-Württember­g hat sich schon früh auf diesen Fall eingestell­t.“Manfred Lucha, Landesgesu­ndheitsmin­ister

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FOTOS: BERND THISSEN/DPA Verdacht bestätigt? Mit Abstrichun­tersuchung­en kann das Virus identifizi­ert werden.
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