Ipf- und Jagst-Zeitung

Kunst zum Anbeißen

Die Ausstellun­g „Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst“in Basel verführt zum Naschen

- Von Hans-Dieter Fronz

unstwerke,G das weiß jedes Kind, soll man nicht berühren. Im Museum weist den Besucher manchmal ein Schildchen eigens darauf hin. Heute nehme ich – im Museum – ein Kunstwerk in den Mund. Ich lege es mir auf die Zunge. Lasse es seinen Geschmack entfalten. Und schlucke es hinunter. Kein Museumswär­ter schreitet ein. Auch die Umstehende­n sind zu sehr mit sich selbst beschäftig­t. Sie essen selber Kunst.

Wir sind im Tinguely Museum in Basel, wo Marisa Benjamin Häppchen zubereitet hat. Häppchen ist eigentlich zu viel gesagt. Es sind lauter Kleinigkei­ten, die Probiertel­ler mit jeweils zwei Stückchen ließen sich am besten als Nouvelle Cuisine der verschärft­en Art beschreibe­n. Auf die beiden Winzlinge auf meinem Teller – eine dunkle Beere und ein orangefarb­enes Fruchtstüc­kchen – hat Marisa Benjamin jeweils zierlichst­e Blumenblüt­enblätter appliziert. Das erste Kunstwerk, das ich mit Augen und Zunge genieße, sieht ansprechen­d aus und schmeckt ein wenig fruchtig, ein bisschen blumig, mit leicht erdiger Note im Abgang.

Nicht schlecht für den Anfang. Doch in der Ausstellun­g „Amusebouch­e“gibt es noch mehr zu sehen und zu kosten: Der Basler Parcours ist in Teilen eine veritable Degustatio­n. Dem Besucher, genauer: dem Teilnehmer einer „interaktiv­en Führung“, kredenzt das Museum Schokolade und Eiskonfekt, Sauerkraut­saft oder ein speziell gebrautes Bier. Der „gewöhnlich­e“Museumsgas­t geht an den meisten Stationen des Parcours gustatoris­ch leer aus.

Am Zuckerrohr­schnaps des brasiliani­schen Künstlerko­llektivs Opavivará! zu nippen, kostet einen Moment lang Überwindun­g: Die Spirituose sprudelt in einem Bidet, man kann sie in einem kleinen Plastikbec­her auffangen. Am Ende des Parcours darf sich auch der gewöhnlich­e Gast an der Pyramide aus Orangen am Boden vor dem Eingang der Schau, der identisch mit dem Ausgang ist, eine Südfrucht greifen und mit nach Hause nehmen.

Wie aber ist es, Kunst mit der Zunge zu genießen? – Um ehrlich zu sein: Die Sensation nutzt sich rasch ab, das Aha-Erlebnis eines vollkommen Neuen bleibt aus. Kunst schmeckt dann doch irgendwie bekannt

Kund gewöhnlich: der Zuckerrohr­schnaps leicht süßlich, Elizabeth Willings Lebkuchen an der Wand so, wie man es von Lebkuchen kennt. Das farblose Pflanzen- und Früchtedes­tillat von Claudia Vogels „Tastescape“überrascht mit einer angenehm duftig-frischen Note, ohne unsere Geschmacks­nerven in Aufruhr zu versetzen.

Dennoch ist „Amuse-bouche“sehensund erschmecke­nswert. Die Schau gehört zu einer Ausstellun­gsserie des Museums zu den fünf menschlich­en Sinnen. Die Präsentati­onen zum Geruchssin­n („Belle haleine“) und zum Tastsinn („Prière de toucher“) fanden schon 2015 und 2016 statt. Dass der Geschmacks­sinn für die Kunst überhaupt etwas hergibt, verdankt sich dem Umstand, dass seit der Moderne die Kunst kontinuier­lich ihre angestammt­en Grenzen überschrit­ten hat. So wie sie sich beispielsw­eise in der Interaktiv­ität auf den Tastsinn erweiterte, dehnte sie sich als Soundkunst auf den Bereich des Akustische­n aus.

Den Geschmacks­sinn machte nicht erst Roger Bürgel mit seiner Einladung des katalanisc­hen Molekulark­ochs Ferran Adrià zur Documenta 12 im Jahre 2007 zum Thema. Bereits in den Sechzigerj­ahren wurde in Daniel Spoerris Eat-Art-Aktionen Kunst kulinarisc­h. Der Schweizer ist in der Ausstellun­g unter anderem mit seinen berühmten Fallenbild­ern vertreten.

Selbstvers­tändlich kommt „Amuse-bouche“auch nicht ohne ein barockes Früchtesti­llleben aus. Der Anblick von Jan Davidsz. de Heems Gemälde lässt einem das Wasser im

Munde zusammenla­ufen. In Sam Taylor-Johnsons Video „Still-Life“hingegen ist der Verwesungs­prozess von Früchten im Zeitraffer dargestell­t – ein Sinnbild der Vergänglic­hkeit. An einer Stelle des Parcours schimmelt Dieter Roths „Literaturw­urst“vor sich hin – neben seinem „Großen Schimmelbi­ld“von 1969.

In „Ich kenne kein Weekend“schließt Joseph Beuys eine ReclamAusg­abe der „Kritik der reinen Vernunft“mit einer Maggiflasc­he kurz: Den hehren Geist blasphemis­ch mit dem leiblichen Bedürfnis. Auch das Organ und Emblem des Geschmacks­sinns, die Zunge, spielt in der Ausstellun­g eine Rolle: In Urs Fischers Installati­on „Noisette“(2007) schnellt sie beim Vorübergeh­en lasziv aus einem Loch in der Wand. Und für die Schweizeri­n Janine Antoni diente die Zunge sogar als Werkzeug, mit dem sie ein Selbstbild­nis aus Schokolade („Lick and Lather“, 1993) modelliert­e.

Heute steht die Kochkunst voll in Blüte oder – um im Bild zu bleiben – (nicht nur) im (Braten-)Saft. Der in Berlin lebende Nigerianer Emeka Ogboh verhandelt in seinem von ihm selbst gebrauten Strout-Bier Themen wie kulturelle Herkunft und soziale Identität. Und die demnächst anlaufende Ausstellun­g “Iss mich!” der Jungen Kunsthalle Karlsruhe führt den Imperativ der (durchaus ausbaufähi­gen) Kunst des Schmeckens offensiv bereits im Titel.

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FOTO: DANIEL SPEHR Bei der Ausstellun­g „Amuse-bouche“können die Besucher die Kunst nicht nur sehen, sondern auch schmecken – so etwa an der Installati­on „Pick-me-up (kinder)“von Elizabeth Willing.

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