Türkei fordert Überarbeitung des Flüchtlingspakts
Der Konstanzer Völkerrechtler Daniel Thym über das Flüchtlingsdrama in der Türkei – und mögliche Auswege
ISTANBUL (dpa) - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nach Gesprächen mit der EU gefordert, den Flüchtlingspakt von 2016 zu „aktualisieren“. Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte am Dienstag in Brüssel, man werde angesichts der „neuen Umstände“etwa in Syrien mit der EU besprechen, was zusätzlich getan werden könne. Erdogan und Cavusoglu hatten sich zuvor mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel getroffen. Anlass war Erdogans Entscheidung, Migranten nicht mehr von der Einreise in die EU abzuhalten. Daraufhin kamen Tausende an die Grenze zu Griechenland. Kommenden Dienstag möchte sich Erdogan zudem mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron in Istanbul treffen. Der Flüchtlingspakt vom März 2016 sieht vor, dass die Türkei gegen illegale Migration vorgeht. Ankara erhält im Gegenzug finanzielle Unterstützung.
RAVENSBURG - Griechenland schottet seit Tagen die EU-Außengrenze gegen Migranten ab. Ist das rechtens? Und wie kann in Zukunft noch das Asylrecht garantiert werden? Sebastian Heinrich hat darüber mit Daniel Thym gesprochen, Professor für Völkerrecht an der Uni Konstanz.
Herr Thym, die Bilder, die uns aus dem türkisch-griechischen Grenzgebiet in den vergangenen Tagen erreicht haben, sind dramatisch: Griechische Polizisten, die mit Tränengas beworfen werden, Migranten, die ihrerseits mit Tränengas traktiert werden. Es gibt unbestätigte Berichte über einen Migranten, der gestorben sein soll. Ist das, was die griechische Polizei getan hat, um Menschen von der Grenze abzuhalten, rechtens?
Die Europäische Union hat sich ja sehr komplizierte Asylgesetze gegeben, die über 28 Seiten ausmachen. Um es kurz zu sagen: Nicht alles, was die griechische Polizei gemacht hat, stimmt mit den Detailvorschriften überein.
Die griechische Regierung hat vergangene Woche beschlossen, einen Monat lang keine Asylanträge mehr entgegenzunehmen. Darf sie das?
So einfach darf sie es nicht. Es hängt aber stark davon ab, was man konkret unter dieser Aussetzung versteht. Asylrecht heißt sicher nicht, dass man alle Personen unbesehen ins Land lassen muss. Aber aus dem europäischen Asylrecht ergibt sich eben auch, dass man an der Grenze Asyl beantragen kann. Dafür muss die griechische Regierung irgendwelche Möglichkeiten bereitstellen – aber sie muss nicht ihre Grenzen aufmachen. Generell und über längere Zeit Asylanträge auszuschließen, das geht in jedem Fall nicht.
Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, hat Griechenland mehr Personal der EU-Grenzschutzbehörde Frontex und Patrouillenboote zugesagt. Was darf die Kommission im Bereich Asyl in einem Mitgliedsstaat eigentlich tun?
Normalerweise hat die EU nur Recht und Geld, aber keine Behörden außerhalb von Brüssel. Es gibt zwei Ausnahmen: Frontex und die europäische Asylbehörde EASO. Beide hat man in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. Nach wie vor handeln aber die griechischen Behörden, Frontex unterstützt nur. Aber genau darüber wird zu reden sein: Wenn wir sagen, wir wollen an der EU-Außengrenze einerseits Kontrolle und Sicherheit, andererseits ein Asylrecht und schnelle Verfahren, dann sollten Frontex und EASO deutlich mehr Befugnisse bekommen.
In Griechenland, von EU-Vertretern und manchen deutschen Politikern ist zu hören, dass die Menschen an der türkisch-griechischen Grenze ja gar keine Kriegsflüchtlinge seien. Lässt sich damit die Abschottung der EU-Außengrenze rechtfertigen?
Eigentlich ist im EU-Asylrecht vorgesehen, Asylbewerber ins Land zu lassen, dort ein möglichst schnelles Verfahren durchzuführen und sie dann bei Ablehnung wieder zurückzuführen. Das Problem ist: In Griechenland funktioniert das nicht. Das führt dazu, dass man sich auch an diese Regeln nicht mehr halten will und die Menschen gar nicht mehr ins Land lässt.
Was ist aus völkerrechtlicher Sicht vom Vorgehen der Türkei zu halten, die bewusst Schutzsuchenende an die Grenze lockt?
Das ist natürlich moralisch niederträchtig und sicherlich ein Grund, warum die EU so hart reagiert. Und rein rechtlich ist das sehr scheinheilig von Erdogan: Einerseits macht er die Grenze zu Syrien dicht, obwohl dort Menschen in Lebensgefahr sind. Und andererseits wirft er der EU vor, die Grenzen dicht zu machen – obwohl es da um Menschen geht, die in der Türkei relativ sicher sind.
Angesichts der Bilder an der türkisch-griechischen Grenze haben viele Menschen in Europa den Eindruck, das europäische Asylrecht sei nicht mehr viel wert – weil Menschen so aggressiv daran gehindert werden, Asyl in Europa zu beantragen. Steht es wirklich so schlecht um das Asylrecht?
Absolut. Das europäische Asylrecht ist in einer heiklen Situation. Es wird den Bach runtergehen, wenn die Staaten es nach Gutdünken ein- und ausschalten können. Das heißt aber auch: Wir müssen in den kommenden Monaten endlich über eine europäische Asylreform reden. Wir brauchen eine Reform, die in der Praxis auch funktioniert. Das heißt: Schutz für diejenigen, die Schutz brauchen. Aber auf der anderen Seite heißt das eben auch, dass diejenigen, die keinen Schutz brauchen, nicht in die EU gelassen werden.
Wie könnte eine solche Reform aussehen?
Verfahren an den Außengrenzen, die schnell und zuverlässig sind – während derer die Menschen ordentlich untergebracht werden. Aber die eben nicht dazu führen, dass auch Personen ohne Schutzbedarf in der EU bleiben.
Also Hotspots an der EU-Außengrenze?
Das sind die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen. Die EU-Kommission wird wohl nach Ostern Vorschläge genau in diese Richtung unterbreiten. Es geht um Hotspots, die funktionieren, mit ordentlichen Standards – nicht Elendslager wie Camp Moria auf Lesbos.
Ist es angesichts dieser Probleme richtig von der Bundesregierung, bis zu 1500 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen?
Es ist ein Signal, dass es nicht nur um Härte geht, sondern dass man auch ein bisschen Humanität zeigt. Aber es geht ja nur um relativ kleine Zahlen und um Menschen, die schon in Griechenland sind. Symbole können auch wichtig sein – aber es ändert nichts daran, dass die griechische Grenze geschlossen ist und man eine grundlegende Reform des europäischen Asylrechts angehen muss.