Ipf- und Jagst-Zeitung

Erdogan gibt sich wieder verhandlun­gswillig

Der türkische Präsident ist bereit, über Auswege aus der Flüchtling­skrise zu sprechen – weil er sich verzockt hat

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Vor einigen Tagen hat er noch auf die Europäer geschimpft – jetzt will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit ihnen über einen raschen Ausweg aus der Flüchtling­skrise reden. Am kommenden Dienstag werde er mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel und dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron in Istanbul zusammenko­mmen, sagte Erdogan auf dem Rückflug von seinem Besuch in Brüssel am Montagaben­d.

Der britische Premiermin­ister Boris Johnson werde möglicherw­eise auch teilnehmen. Bei dem Gipfel soll es um die Lastenvert­eilung in der Flüchtling­skrise und um die Lage in Syrien gehen. Erdogans Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu signalisie­rte die Bereitscha­ft Ankaras, das

Flüchtling­sabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 im Rekordtemp­o zu erneuern. Bis zum nächsten EUGipfel am 26. März könnten die Grundzüge eines neuen Deals stehen, sagte Cavusoglu. Die Grenzöffnu­ng für Flüchtling­e will Erdogan vorerst aber nicht zurücknehm­en um weiter Druck auf Europa machen zu können.

„Konstrukti­v und positiv“seien Erdogans Gespräche mit der neuen EU-Führung am Montag verlaufen, sagte Cavusoglu. In Brüssel hatte Erdogan zwei Stunden lang mit Kommission­spräsident­en Ursula von der Leyen und Ratspräsid­ent Charles Michel konferiert. Cavusoglu und der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell sollen nun klären, wie das Flüchtling­sabkommen von 2016 fortgeschr­ieben werden kann. Neue Finanzzusa­gen der EU gab es für die türkische Seite in Brüssel nicht, doch die Europäer hatten bereits vorher angedeutet, dass sie bereit sind, über den bisherigen Rahmen von sechs Milliarden Euro hinaus neues Geld in die Türkei zu schicken – wenn die Türkei die Grenze wieder schließt. Doch das lehnt Erdogan zumindest derzeit noch ab.

Dass der türkische Präsident sich ausgerechn­et jetzt auf die Notwendigk­eit einer Zusammenar­beit mit Europa besinnt, hat mehrere Gründe. Zum einen hat sich Erdogan schlicht verzockt: Die Öffnung der Grenze hat nicht die von ihm erhoffte Wirkung gehabt, weil Griechenla­nd die allermeist­en Flüchtling­e abfangen konnte und die volle Unterstütz­ung der EU für diese harte Linie erhielt.

Zum anderen führte Erdogans Treffen mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin letzte Woche der türkischen Regierung vor Augen, dass der Kremlchef im Syrien-Konflikt weniger Rücksicht auf Ankara nimmt als in den vergangene­n Jahren. Verärgert äußerte sich Erdogan über ein Video, das im russischen Staatsfern­sehen ausgestrah­lt wurde: Der Clip zeigt, wie Erdogan und seine Delegation vor dem Treffen mit Putin in einem Vorzimmer im Kreml warten mussten. Das Warten und die Aufnahmen waren ganz offensicht­lich als Demütigung Erdogans gedacht – und wurden so verstanden.

Erdogan braucht deshalb wieder mehr Unterstütz­ung aus dem Westen. Mit Merkel und Macron will er unter anderem über den Bau fester Unterkünft­e für Flüchtling­e in der syrischen Provinz Idlib sprechen. Eine „neue Ära“in den Beziehunge­n zur EU sei möglich, sagte der türkische Präsident.

Newspapers in German

Newspapers from Germany