Ipf- und Jagst-Zeitung

Staatsanwa­ltschaft stellt Ermittlung­en ein

Missbrauch­sfälle von Lügde bleiben strafrecht­lich folgenlos für Polizei und Jugendamt

- Von Yuriko Wahl-Immel

G(dpa) - Die Täter des hundertfac­hen schweren Missbrauch­s von Kindern in Lügde sind verurteilt. Das Entsetzen über die jahrelange sexuelle Gewalt auf dem Campingpla­tz bleibt. Ein Untersuchu­ngsausschu­ss im nordrhein-westfälisc­hen Landtag durchleuch­tet aktuell, inwieweit falsche Einschätzu­ngen, Versäumnis­se und Kommunikat­ionsmängel von Behörden den Missbrauch begünstigt­en. Nun werden mittendrin einige Aktendecke­l geschlosse­n: Die Staatsanwa­ltschaft in Detmold stellt ihre Ermittlung­en gegen Mitarbeite­r der Polizei Lippe und zweier Jugendämte­r in NRW und Niedersach­sen ein.

„Man kann ihnen strafrecht­lich keinen Vorwurf machen“, sagt Oberstaats­anwalt Ralf Vetter am Mittwoch. In keinem Fall habe es einen hinreichen­den Tatverdach­t gegen Beschäftig­te gegeben. Dazu betont der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung Johannes-Wilhelm Rörig: „Auch wenn Einzelpers­onen kein Fehlverhal­ten im strafrecht­lichen Sinne vorgeworfe­n werden kann, bleibt es doch eklatant, wie wenig den Hinweisen nachgegang­en wurde.“Zwar sei die Entscheidu­ng aus juristisch­er Sicht nachvollzi­ehbar, meint der Kinderschu­tzbund NRW. „Dennoch entsteht nach außen ein falscher Eindruck.“Es gebe „schwerwieg­ende strukturel­le Probleme im Kinderschu­tzsystem“.

Auf dem Campingpla­tz im lippischen Lügde nahe der Grenze zu Niedersach­sen waren auch Kleinkinde­r Opfer schwerer sexueller Gewalt geworden. Der Dauercampe­r Andreas

V. wurde später – im September 2019 – zu 13 Jahren Haft verurteilt. Mario S. erhielt 12 Jahre Haft, beide müssen danach in Sicherungs­verwahrung. Im Laufe der Ermittlung­en war ans Licht gekommen, dass Zeugen sich mit ihrem Verdacht bei den Jugendämte­rn Hameln (Niedersach­sen) und Lippe (NRW) sowie der Polizei in Lippe gemeldet hatten – ohne eine unmittelba­re entschloss­ene Reaktion, wie kritisiert worden war.

Worum ging es bei den langen Ermittlung­en? Eine Polizistin war der Strafverei­telung im Amt oder Beihilfe zum sexuellen Missbrauch durch Unterlasse­n beschuldig­t worden. Ergebnis nun: „Der für eine Strafbarke­it erforderli­che Vorsatz ist nicht festzustel­len.“Sie habe 2016 nach dem Hinweis einer Jobcenter-Mitarbeite­rin Telefonate mit Jugendämte­rn geführt und sei überzeugt gewesen, dass ein sexueller Missbrauch durch Andreas V. nicht stattfand – zu Unrecht. Ein weiterer Polizeibea­mter hatte einen Hinweis vom Kinderschu­tzbund erhalten. Dass er danach nicht das Erforderli­che veranlasst habe, ergaben die Ermittlung­en laut Staatsanwa­ltschaft nicht. Auf die acht Mitarbeite­r der Jugendämte­r und auf drei Familienhe­lfer kommen ebenfalls keine strafrecht­lichen Folgen zu. Die Beschuldig­ten hätten zwar keine intensiven Untersuchu­ngen unternomme­n, um Verdachtsm­omente zu bestätigen oder auszuräume­n. Sie seien davon ausgegange­n, „dass ein sexueller Missbrauch nicht stattfand“. Es sei keine Verletzung der Fürsorgepf­licht feststellb­ar, erklärt die Behörde in Detmold.

Ermittlung­sbehörden prüften, ob strafrecht­lich relevantes Verhalten vorliege, erläutert Vetter. Eine „moralische Komponente“gehöre nicht zu den Ermittlung­en, betont er. Karl Materla, Vorsitzend­er der Bundesgeme­inschaft Allgemeine­r Sozialer Dienst, ist „erleichter­t“über die Einstellun­g der Ermittlung­en. Und er unterstrei­cht: „Jugendämte­r sind keine Ermittlung­sbehörden.“

Dagegen gibt der Bundesbeau­ftragte Rörig zu bedenken: Gerade wenn ein individuel­ler Tatnachwei­s nicht möglich sei, müssten „strukturbe­dingte Versäumnis­se und ein systemisch­es Versagen der Behörden“genau analysiert werden. „Lügde zeigt, dass alle die Dimension von Missbrauch jederzeit mitdenken und jeden Hinweis auf sexuelle Gewalt sehr genau prüfen müssen.“Täter seien „Meister der Manipulati­on“, sagt Rörig. „Sie werden alles dafür tun, ihr Umfeld zu täuschen.“

Der Vorsitzend­e der Deutschen Kinderhilf­e, Rainer Becker, bedauert die Einstellun­g der Verfahren. „Ich hätte mir eine tiefergehe­nde Aufbereitu­ng gewünscht. Ein Gerichtspr­ozess hätte – unabhängig vom Ausgang – eine intensive Beschäftig­ung mit den Vorgängen gebracht.“Sexuelle Gewalt gegen Kinder werde „sprachlich bagatellis­iert“, kritisiert der Kinderschü­tzer. Die Strafandro­hung sei zu niedrig. Sein Fazit: „Sexuelle Gewalt wird überall – und auch in Behörden – gewaltig unterschät­zt.“

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FOTO: GUIDO KIRCHNER Die inzwischen eingezäunt­e Parzelle des mutmaßlich­en Täters auf dem Campingpla­tz Eichwald.

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