Traum oder Trauma
Sebastian Vettel steht vor einem wegweisenden Ferrari-Jahr: Der Teamkollege unbequem, die Zukunft ungewiss
G40 gefahrene Rennen, 13 Jahre Formel 1, die jüngsten fünf bei Ferrari: Sebastian Vettel weiß, wovon er spricht. Vor dem Saisonstart 2020 diesen Sonntag in Melbourne (6.10 Uhr MEZ; RTL und Sky) wird der Wahl-Thurgauer aus Hessen so zitiert: „Teil des Abenteuers ist, dass wir geduldig sein müssen.“Ziel des Abenteuers ist der erste FahrerWeltmeistertitel für Ferrari seit 2007, der fünfte wäre das für Sebastian Vettel, seine Premiere in Rot. Ein Kindheitstraum. Womöglich gibt es nur noch diese eine, letzte Chance, ihn zu verwirklichen – der Vertrag des 32-Jährigen in Maranello läuft aus. Doch: Keineswegs ausgeschlossen ist ein böses Erwachen.
2019 hat Wegweisendes bereitgehalten für Sebastian Vettel: die Hochzeit mit Lebensgefährtin Hanna im Sommer, die Geburt des gemeinsamen Sohnes (nach zwei Töchtern) im Spätherbst. Der Motorsportler Vettel allerdings erlebte 2019 „kein tolles Jahr von meiner Seite“. Ein Sieg nur (in Singapur; der 53. seiner Karriere) sollte ihm gelingen, zweimal stellte er seinen Dienstwagen auf die Pole Position, Fünfter war er im WM-Klassement, so sehr – pardon – Mittelmaß wie das letzte Mal 2014. Dass Mercedes personell (Lewis Hamilton!), strategisch und technisch in einer eigenen Liga seine Kreise zog, mag niemanden überrascht haben. Wie Ferrari jedoch seinen hohen Ansprüchen hinterherfuhr, irritierte. Peinlich oft wies der Kommandostand der Scuderia Sebastian Vettel eine wenig hilfreiche Renntaktik zu, zu viele (Fahr-) Fehler unterliefen dem viermaligen Weltmeister selbst. Zu spät im Jahr brachte der SF90 Geschwindigkeit zumindest auf die Geraden, die langsamen Kurven blieben Problem, mangels Anpressdruck, mangels Haftung. Das nervöse Heck nahm Vertrauen ins Auto, das Vertrauen in Teamchef Mattia Binotto litt ganz offensichtlich darunter, wie unbeholfen-schlecht der manche Vettel-Zwistigkeit mit Charles Leclerc moderierte.
Der Monegasse – jung, frech, begabt, schnell – entpuppte sich alsbald als unbequem kompromissloser Herausforderer, wo Vorgänger Kimi
Räikkönen loyal zuarbeitende Zweitkraft gewesen war. Die Bilanz des 22-Jährigen: zwei Siege (Spa-Francorchamps und Monza), acht weitere Podien, siebenmal Pole Position, 246 Führungsrunden. Das Qualifikationsduell gewann der Jüngere 12:9, bei zehn der 17 Rennen, die er und Sebastian Vettel beendet hatten, lag der Deutsche vorn. Rein rechnerisch aber war Charles Leclerc übers Jahr um 0,129 Sekunden je absolvierter Rennrunde schneller. Und im Schlussklassement der bessere Ferrari-Chauffeur: WM-Vierter, Sieger nach Punkten (264:240). Hitzigst zuweilen das Gegeneinander auf der Strecke, zum Tiefpunkt geriet São Paulo, geriet die Kollision fünf Umläufe vor Ultimo – im Kampf um Platz vier. Zwei Ausfälle waren die Folge und bemühte Diplomatie in der Schuldfrage. Vor allen Mattia Binotto blieb damals im Ungefähren: „Für mich war das einfach eine dumme Aktion.“
So etwas soll es 2020 nicht mehr geben, genauso wenig wie einen
Nummer-1-Status. Nochmals der Teamchef: „Beide sind Topfahrer. Man muss beide so akzeptieren, wie sie sind. Ich respektiere sie auch als Menschen und versuche, ihnen die Individualität zu lassen.“Heißt künftig also? „Sie werden auf demselben Level beginnen, sie können beide darum kämpfen, vorne zu sein.“Das Wort „Degradierung“kommt nicht über Sebastian Vettels Lippen („Ich sehe es nicht so, dass einer runterund einer aufgewertet wurde“), wohl aber weiß er: „Das Leben mit Charles wird 2020 sicher nicht einfacher.“Dass Ferrari den Leclerc’schen Kontrakt am Tag vor Heiligabend vorzeitig bis Ende 2024 verlängert hat, entkräftet diese These nicht wirklich fundamental.
Inwieweit das Leben mit dem SF1000, dem Nachfolgemodell des SF90, einfacher wird, ist nach den sechs Vor-Saison-Testtagen offen. „Einige extreme Konzepte“weiß Teamchef Binotto „unter seiner Haut“; maximalen Abtrieb haben sich
Ferraris Ingenieure zur Maxime gemacht. Bisheriger Eindruck, leicht zugespitzt: Kurven hui, Gerade pfui – dort also, wo man im Herbst Tempo gutmachte, fehlt es heute. Das nährt einen bösen Verdacht brisant: den zu hoher Benzin-Einspritzmengen in Saisonhälfte zwei. Mit einer nicht näher benannten „Einigung“mit Ferrari hat der Automobil-Weltverband FIA vor wenigen Tagen Ermittlungen diesbezüglich abgeschlossen – irritierend. So irritierend wie die Testzeiten jetzt. Als sei der Antriebsstrang 2020 nicht mehr so stark wie der 2019 ...
Nicht die besten Voraussetzungen für einen Saisonstart im Sinne des Kindheitstraums. Zumal mit ungeklärter Zukunft. „Mein Denken“, hat Sebastian Vettel diese Einlassung erst eben gekontert, „kreist nicht um einen neuen Vertrag, sondern um Lösungen, den Wagen schneller zu machen.“Ach, richtig – das außerdem noch: „Ich bin überzeugt, dass ich meine Leistung bringen werde, der Rest wird sich dann zeigen.“