„Angst macht Menschen egoistisch“
Die Psychologin Zrinka Sosic-Vasic erklärt, was hinter Hamsterkäufen und Ausgrenzung Infizierter steht – Eine Analyse unserer dünnhäutigen Zivilisation
- Gut möglich, dass Börsenmakler von der vergangenen Woche noch ihren Enkeln erzählen werden, von einem schwarzen Montag, der drei Tage später von einem noch schwärzeren Donnerstag getoppt worden ist. „Das habe ich trotz meiner langen Karriere noch nie erlebt“, werden sie sagen oder einfach nur „CoronaCrash“. Tatsächlich hat die vergangene Woche gute Chancen, in die Börsengeschichte einzugehen. Eine, in der die Wallstreet in New York wegen der Panikverkäufe von Aktien zeitweise gleich zweimal den Handel aussetzen musste, um die unkontrollierbare Abwärtsspirale zumindest für einen Moment zu stoppen. In der der Deutsche Aktienindex einbrach, wie seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr. Geht jetzt also die Welt unter?
Zrinka Sosic-Vasic glaubt das nicht. Sie ist nicht nur leitende Psychologin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Ulm, sondern auch Chefin des dortigen Aus- und Weiterbildungsinstituts für Verhaltenstherapie und angewandte Psychologie. Sie hat unter anderem studiert, wie der Mensch im Angstmodus tickt. Sie sagt: „Ich prognostiziere, dass wir alle in einem Jahr sehr cool mit Corona umgehen werden.“Die Art, wie manche Menschen auf Bedrohungen wie die aktuelle Virusepidemie reagieren, ist für die Wissenschaftlerin trotzdem psychologisch gut zu erklären. Und dabei geht sie weit in der Entwicklungsgeschichte zurück, als die Verhaltensmuster „Flucht“oder „Angriff“überlebenswichtig waren, um schnell aus der Gefahr zu kommen. Das Problem: „Unter diesen Programmen nimmt die Fähigkeit, rational und überlegt zu handeln, ab.“
Das Ergebnis sind Reaktionen wie zum Beispiel diese: In einer Ravensburger Apotheke berichten Angestellte von Kunden, die ausfallend werden, weil Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken ausverkauft sind. Supermarktangestellte schildern Jagdszenen an Nudel- und Klopapierregalen, wo sich Hamsterkäufer um die letzten Vorräte balgen – während der Handel sich bislang auf die erhöhte Nachfrage einstellt und es faktisch nach wie vor alles in ausreichender Menge zu kaufen gibt.
Die Psychologin sieht darin derzeit aber noch kein Massenphänomen: „Ich denke, man muss die augenblickliche Situation relativieren. Ich persönlich habe nicht den Eindruck, dass wir eine kollektive Panik erleben. Wir müssen Angst und Sorge von Panik abgrenzen. Die Auseinandersetzung mit möglichen Gefahren, das Durchspielen von Szenarien ist ganz normal und kann durchaus sinnvoll sein.“
Angst entstehe immer dann, wenn etwas Neuartiges auftrete. „Und dann ist ein Virus auch noch etwas Unsichtbares, nicht zu Greifendes, das sich zunächst unserer Kontrolle entzieht.“Eine Situation, wie sie aktuell mit Corona herrsche. „Wir tendieren allerdings dazu, Gefahren zu überschätzen“, sagt Zrinka Sosic-Vasic. Andererseits sei es so, dass Angst nicht nur ansteckend sei, sondern auch einer gewissen Gewöhnung unterliege, was allerdings bei neuartigen Gefahren länger dauere, wenn die Risiken zunächst schwer einzuschätzen seien.
Überhaupt ist gerade der Mensch in der westlichen Welt nicht gewohnt, dass Gefahren auftreten, die er nicht sofort beherrschen kann. Wenn in den Medien dann auch noch Bilder von Ärzten in Schutzkleidung gezeigt würden, wecke das starke Emotionen und könne das „Grunderleben von Sicherheit“erschüttern, weil wir zum ersten Mal seit langer Zeit mit etwas konfrontiert seien, das nicht unserer Kontrolle unterliege, erklärt Sosic-Vasic. Dass solche Sorgen auf die Stimmung drücken, sei vollkommen nachvollziehbar.
„Extrem wird es dann, wenn manche Menschen die Umstände so alarmieren, dass aus Angst Panik wird.“Betroffene erleben laut der Psychologin heftigen Stress. Das Denken ist vermindert, das ganze Leben vollständig von der Gefahr eingeengt und auch sehr ungewöhnliche Reaktionen erklärbar: etwa die Berichte von Personal in Arztpraxen und Krankenhäusern, dass Patienten nicht nur Desinfektionsmittel aus dem Spender klauen, sondern auch Toilettenpapier mitgehen lassen.
Allerdings: Nicht jeder der hamstert, ist gleich von Panik getrieben. Die Psychologin sagt: „Angst ist sozial ansteckend.“Entwicklungsgeschichtlich sei es sinnvoll gewesen, genau zu schauen, was die soziale Gruppe macht. Wenn die sich angstvoll verhalte, so neige auch das Individuum dazu. „Gemeinsam lässt sich Gefahr besser beherrschen“, erklärt Sosic-Vasic. In der Praxis bedeutet das aber auch, dass leere Regale erst recht zu Hamsterkäufen führen und dadurch eine Spirale in Gang kommt. „Aus psychologischer Sicht handelt es sich bei diesem schädlichen Gruppenprozess um eine sich selbsterfüllende Prophezeiung“, sagt die Wissenschaftlerin. Ist das Regal leer, muss an den Gerüchten von Mangel ja etwas dran sein. Also kauft man selbst auch mehr, um diesen Mangel ja nicht zu erleben. Und weil die erhöhte Nachfrage irgendwann tatsächlich dazu führt, dass Hersteller und Handel nicht schnell genug darauf reagieren können, wird der Mangel dann doch ganz real – zumindest zeitweise.
Und wie erklärt die Psychologin die Fälle von Ausgrenzung, ja gar Mobbing, von Verdachtsfällen oder Infizierten? Aus Lindau ist folgender Fall bekannt geworden: In der Zeitungsredaktion meldet sich ein Familienvater, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde und seither mit seiner Familie in Quarantäne lebt. Der Mann sieht sich seit Bekanntwerden der Infektion Anfeindungen ausgesetzt, weil er und seine Familie in Südtirol beim Skifahren waren. Obwohl zum Zeitpunkt der Reise sowie kurz nach der Rückkehr die Region noch gar nicht als Risikogebiet
eingestuft war und damit jeder Vorwurf von vornherein hirnrissig ist. Zrinka Sosic-Vasic hat für dieses unzivilisierte Verhalten eine Erklärung: „Menschen werden unter Angst egoistisch.“Dann stehe im Vordergrund, sich selbst und die Familie in den Mittelpunkt zu stellen. „Grob gesagt, das eigene Überleben zu sichern und die Seinigen von der Gefahr abzugrenzen.“Erkrankte auszugrenzen und von der Gruppe zu entfernen, passe in das evolutionäre Muster der Menschheit: „Früher war es sinnvoll, jemanden auszugrenzen, der krank war. Dann hat man ihn aus der Höhle geschmissen.“Heute leben wir zwar nicht mehr in Höhlen, doch die alten, emotionsgesteuerten Gehirnzentren übten noch heute ein Veto aus und überstimmten bisweilen die Hirnareale, die für rationales und überlegtes Handeln zuständig seien. Demnach ist die zivilisatorische Schicht nur sehr dünn, die uns von archaischem Verhalten trennt. Und diese Schicht platzt bei manchen Menschen unter dem Einfluss von Corona auf.
Wie also handeln in Zeiten, da sich manche kaum mehr trauen auch nur zu räuspern, geschweige denn zu hüsteln – aus Angst, wegen eines leichten Schnupfens gleich unter Corona-Verdacht gestellt zu werden. Wie kann man sich selbst konditionieren, um nicht in die Angst- oder gar Panikfalle zu tappen? Der Rat der Psychologin: „Aus der Angst lieber eine Sorge machen.“Denn dabei bleibe die Denkfähigkeit intakt, das schütze vor überzogenen Reaktionen. Wichtiger Bestandteil dieser Strategie sei es, eine realistische Risikoabwägung vorzunehmen – individuell abgestimmt auf die eigene Lebenssituation. Und sich dann entsprechend zu verhalten. Gehöre ich zu einer Risikogruppe? Spüre ich überhaupt Symptome? Zrinka SosicVasic sagt: „Wenn wir sinnvolle Vorkehrungen treffen, gewinnen wir auch das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit zurück.“Das richtige Handeln im Augenblick bedeute zum Beispiel: häufigeres Händewaschen ja, Mundschutztragen aber eher nein. Oder: normaler Lebensmittelvorrat ja, palettenweise Nudeln in der Garage bunkern nein.
Ihre tägliche Arbeit mit psychisch Kranken beschreibt die Psychologin als nicht dramatisch anders in Zeiten von Corona. „Es ist alles etwas komplizierter, weil wir natürlich im klinischen Umfeld besonders auf Hygiene achten, auch weil wir als Mediziner oder Pfleger natürlich gesund bleiben müssen.“Menschen mit psychischen Erkrankungen litten aber nicht zusätzlich durch die Angst vor dem Coronavirus. „Das ist in unserem Alltag nicht zu beobachten.“