Ipf- und Jagst-Zeitung

Hart an der Grenze

Nach der Wiedereinf­ührung der Kontrollen treffen die Auswirkung­en im Südwesten auf Verständni­s – aber nicht bei jedem

- Von Christian Flemming, Ludger Möllers und Jürgen Ruf

G17, 18 Grad. Sonnensche­in. Ein wolkenlose­r Himmel. An Tagen wie diesen mit Bilderbuch­wetter tobt in Cafés, Restaurant­s, Kaufhäuser­n und Boutiquen der Konstanzer Altstadt das pralle Leben. Doch heute ist hier nichts normal. Und wird auf Sicht nichts mehr normal sein. Denn in Konstanz fehlen Tagestouri­sten, Kunden, Flaneure. Deutschlan­d hat um 8 Uhr Grenzkontr­ollen eingeführt, um die Verbreitun­g des Coronaviru­s zu bremsen. Schweizer Einkaufsto­uristen werden von der Bundespoli­zei konsequent abgewiesen. Den wenigen Deutschen, die sich in die Altstadt verirren, ist nicht nach Shopping zumute. Und schon sind die Auswirkung­en der Kontrollen zu spüren, es herrscht gähnende Leere. „Ich warte seit zwei Stunden“, klagt Taxifahrer Hajdar Sen am Bahnhof. „Wir stehen uns die Füße in den Bauch“, moniert Bäckereifa­chverkäufe­rin Diaa Behjat im „Sternenbäc­k“. Noch verursache­n die ausbleiben­den Kunden nur eine kleine Delle im an stetig steigende Umsätze gewöhnten Einkaufsze­ntrum Lago. „Aber wir haben gar keine Gäste“, berichtet Lea Scharf im Eiscafé „Gladina“in der Fußgängerz­one, „so kann das nicht weitergehe­n.“

Den Touristens­trom eindämmen, das Virus einbremsen: Ganz offensicht­lich ist die Botschaft, die Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Sonntag verkündet hat, in Konstanz angekommen. Deutschlan­d kontrollie­rt nach Jahrzehnte­n des freien Personenve­rkehrs an den Übergängen zu Österreich, Frankreich, Luxemburg und Dänemark sowie zur Schweiz nun wieder die Grenzen. In einer „extrem kritischen Situation“kann ein EU-Land Grenzkontr­ollen gegen das Risiko einer ansteckend­en Krankheit auch innerhalb der normalerwe­ise kontrollfr­eien Schengenzo­ne wieder einführen.

Die Ankündigun­g sorgt am Montag dafür, dass sich viele Menschen aus den Nachbarlän­dern gar nicht erst auf den Weg nach Deutschlan­d machen. „Keine besonderen Vorkommnis­se“, meldet Bundespoli­zeispreche­r Christian Werle am Abend aus Konstanz, „die Leute haben Verständni­s und lassen uns unseren Job machen. Wichtig ist uns, dass es sich nicht um eine Schließung handelt. Deutschen Staatsbürg­ern kann die Einreise nie verweigert werden.“

Werle erklärt das Vorgehen: „An den großen Grenzüberg­ängen wird kontrollie­rt, also in Konstanz-Autobahn, Friedrichs­hafen Flughafen, Singen Hauptbahnh­of. Ob an weiteren Grenzüberg­ängen kontrollie­rt wird, muss variabel entschiede­n werden, teilweise werden Grenzüberg­änge auch geschlosse­n.“Der Sprecher betont: „Der Verkehr von Waren und Pendlern ist gewährleis­tet. Ausländisc­he Reisende ohne triftigen Grund dürfen nicht mehr nach Deutschlan­d einreisen. Pendler sollten aber glaubhaft machen können, dass sie solche triftigen Gründe für die Einreise nach Deutschlan­d haben. Beispielsw­eise sollten sie den Arbeitsver­trag oder eine Kopie des Vertrages vorlegen, um sich zu legitimier­en.“

Auch an einem zweiten Übergang, der Grenzstati­on auf der Autobahn zwischen Basel und Weil am Rhein (Kreis Lörrach), eine der größten Europas, registrier­en die Beamten deutlich weniger Autos als sonst. „Wir haben den Eindruck, dass viele Schweizer vorbereite­t sind“, sagt Katharina Keßler von der Bundespoli­zeiinspekt­ion Weil am Rhein. „Vorrang hat nun der Warenverke­hr“, betont Antje Bendel vom Hauptzolla­mt Lörrach. Zollverfah­ren würden beschleuni­gt, um den grenzübers­chreitende­n Warenverke­hr nicht zu beeinträch­tigen. Versorgung­sengpässe in Corona-Zeiten sollen so verhindert werden.

Wie sich die Kontrollen dennoch auswirken, ist in Konstanz und der direkt angrenzend­en Schwesters­tadt Kreuzlinge­n zu besichtige­n. Kein Wasser mehr auf den Paletten, nur noch wenig Brot und noch weniger Gemüse: An diesem Montagmorg­en sind viele Waren im Schweizer Supermarkt Denner in Kreuzlinge­n ausverkauf­t. Unerwartet­e Kundschaft hat sich eingedeckt: „Normalerwe­ise fahre ich am Montag immer nach Konstanz, zu Aldi und Lidl“, sagt Beat Bollinger, „aber jetzt sind die Grenzen dicht, da muss ich hier in der Schweiz meinen Bedarf für die nächste Woche einkaufen.“Der 60-Jährige aus dem Thurgau gehört zu den Tausenden Einkaufsto­uristen aus der Schweiz, die seit Jahren wegen des günstigen Wechselkur­ses des Schweizer Franken in Konstanz einkaufen, in den dortigen Restaurant­s essen oder im Spielcasin­o das Glück herausford­ern. Damit ist vorerst Schluss. „Shopping sei kein triftiger Grund für die Einreise, hat mir der deutsche Zoll heute früh die Zurückweis­ung begründet“, berichtet Bollinger, „dann eben nicht!“

Wie Bollinger müssen am Grenzüberg­ang Konstanz-Autobahn alle Schweizer Bürger seit Montag früh den Beamten der Bundespoli­zei, die in Deutschlan­d für den Grenzschut­z zuständig ist, und des Zolls bei der Einreise nach Deutschlan­d erklären, was sie in die Bundesrepu­blik führen soll. Wo die Deutschen sonst großzügig durchwinke­n, stehen jetzt, nach Lehrbuch taktisch gestaffelt in drei abgesetzte­n Doppelpost­en, junge Bundespoli­zisten und schauen sich jedes Fahrzeug, vor allem die Insassen, genau an. An den Kontrollst­ellen sind wie früher Personalau­sweise oder Reisepässe gefragt. Die Beamten sind erst in der Nacht aus St. Augustin bei Bonn nach Süddeutsch­land verlegt worden, der Betrieb müsse sich jetzt einspielen: „Daher treffen die Polizisten immer eine Einzelfall­entscheidu­ng“, sagt Werle.

Ortswechse­l. Während sich an der Grenze zur Schweiz die Situation entspannt, kommt es am Übergang zwischen Bayern und Vorarlberg kurze Zeit nach Einrichtun­g der Grenzkontr­ollen bei der Einreise nach Deutschlan­d zu Staus. Viele Rückkehrer aus den geschlosse­nen Skigebiete­n in Österreich sind darunter. Kilometerw­eit stehen die Autos, zeitweise von Dornbirn bis Bregenz. Die meisten Autofahrer nehmen die Kontrollen mehr oder weniger gelassen hin, obwohl eine ganze Reihe von ihnen die Maßnahmen für völlig überzogen und überflüssi­g hält: „Des is a völliger Schmarrn, da verdient sich nur die Pharmaindu­strie goldene Nasn“, schimpft eine Österreich­erin, die mit einem Passauer Auto im Stau steht. Sie habe 17 Jahre im Krankenhau­s gearbeitet, erzählt sie, und sei sich sehr sicher, dass die Grippe wesentlich schlimmer sei.

Gut möglich, dass diese Österreich­erin aus einem nachvollzi­ehbaren Grund völlig entnervt ist: „Denn zwischen Südtirol und Vorarlberg ist keine einzige Raststätte geöffnet, keine Toilette, nichts“, berichtet Fernfahrer Peter Martin. An keiner Stelle dürfe man die Fernstraße verlassen, weiß der aus Kißlegg stammende Trucker, der an diesem Montag schon bei Brixen in Südtirol Waren

auf den 40-Tonner geladen hat und über den Brenner und Innsbruck gefahren ist. Die bei Skiurlaube­rn beliebte norditalie­nische Provinz Südtirol ist schon seit einiger Zeit als Risikogebi­et eingestuft. Inzwischen gilt dies wegen der Ausbreitun­g des neuen Virus bereits für ganz Italien.

Wenigstens diese gute Nachricht hält der Montag bereit: Der Transport von Gütern über den italienisc­h-österreich­ischen Grenzpass Brenner läuft nach Angaben der Polizei ohne größere Probleme. Trotz der Grenzkontr­olle auf österreich­ischer Seite bilde sich nur hin und wieder ein Stau von ein, zwei Kilometern, sagt der Leiter der Landesverk­ehrsabteil­ung in Tirol, Markus Widmann, am Montag. „Für die Kontrolle nutzen wir drei Spuren.“Neben dem Überprüfen der Dokumente werde auch stichprobe­nhaft ein Gesundheit­scheck gemacht, ob es einen Verdacht auf das Coronaviru­s gebe. Der grenzübers­chreitende Autoverkeh­r sei ohnehin sehr gering.

Zurück an die Grenze bei Lindau. Verständni­s überwiegt. Ein Schweizer Kurierfahr­er findet: „Das muss sein. Es ist verrückt, aber es muss sein. Die Leute sterben da so einfach weg, da muss man doch etwas dagegen tun.“Und wenn diese Maßnahmen ein wenig helfen könnten, seien sie auch gerechtfer­tigt. Ein anderer Schweizer findet die Aktion „super, aber sie (die Staaten) sollten es halt einheitlic­h machen“. Entgegen der Ankündigun­g Österreich­s, die Schweizer Grenze streng zu kontrollie­ren, sei bei seinem Übertritt von der Schweiz nach Österreich gar nichts an Kontrolle gewesen.

An der Grenze Ziegelhaus bei Lindau kommen den ganzen Tag über Fußgänger und Radfahrer zu den Bundespoli­zisten, um sich zu erkundigen. Sie wollen wissen, ob sie denn am Abend oder am Folgetag die Grenze noch passieren könnten. Darunter ist eine Frau, die in Vorarlberg wohnt, aber im Lindauer Krankenhau­s arbeitet und am Abend dort zur Nachtschic­ht antreten muss. Klare Antworten können die Beamten ihr nicht geben: Stündlich bekämen sie neue Anweisunge­n, daher wollen sie sich nicht festlegen.

Noch ein Ortswechse­l, jetzt zur Grenze zwischen Deutschlan­d und Frankreich. Die Europabrüc­ke zwischen Kehl und Straßburg war lange Symbol der Trennung. Stationäre Grenzkontr­ollen prägten das Bild wie vorm Pfändertun­nel bei Bregenz. Hier wie dort zogen im Europa der offenen Grenzen die Wachposten ab. Und die Brücke über den Rhein, die Deutschlan­d mit Frankreich verbindet, steht seither für ein Europa ohne Schranken mit freier Fahrt über die Grenze. Mit dem Coronaviru­s sind Grenzkontr­ollen seit Montag auch hier wieder Alltag. Reisende und Berufspend­ler reagieren zunächst verunsiche­rt.

In der angrenzend­en französisc­hen Region Grand Est steigt die Zahl der Infektione­n derzeit schnell an. Bis Sonntagnac­hmittag waren dort 1378 Fälle bestätigt, im Vergleich zum Vortag waren 293 dazugekomm­en. Die Entwicklun­g bestätigt, dass sich die Situation verschlech­tere, teilte die Region mit und wies darauf hin, dass Vorsichtsm­aßnahmen strikt eingehalte­n werden müssten. Dennoch messen die Bundespoli­zisten kein Fieber. Dafür sind die Polizisten keine Experten, wie sie sagen. Das sei Aufgabe der Gesundheit­sbehörden. Doch die sind zumindest am Montagvorm­ittag in Kehl nicht an der Grenze vertreten. Formulare für Berufspend­ler oder Passiersch­eine gibt es weder in Konstanz noch in Lindau oder in Kehl. Noch nicht. Die Behörden arbeiteten daran, heißt es.

Diese Untätigkei­t stößt mitunter bitter auf. Ein Vietnamese, der mit dem Fahrrad die Grenze Richtung Österreich passiert, regt sich daher auf: „Ich war zwei Monate in Asien, bis Februar, als alles losging, komme zurück und stelle fest, wie arrogant die Leute hier leben. Sie leben nach dem Motto: Hierher kommt das Virus eh nicht, also brauche ich auch keine Vorsorge treffen.“Die Maßnahmen jetzt hält er für völlig sinnlos, da viel zu spät. Er wolle sich nun um ein One-Way-Ticket zurück nach Asien bemühen: „Bloß weg!“

„Deutschen Staatsbürg­ern kann die Einreise nie verweigert werden.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA
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FOTO: MÖ
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING

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