Hart an der Grenze
Nach der Wiedereinführung der Kontrollen treffen die Auswirkungen im Südwesten auf Verständnis – aber nicht bei jedem
G17, 18 Grad. Sonnenschein. Ein wolkenloser Himmel. An Tagen wie diesen mit Bilderbuchwetter tobt in Cafés, Restaurants, Kaufhäusern und Boutiquen der Konstanzer Altstadt das pralle Leben. Doch heute ist hier nichts normal. Und wird auf Sicht nichts mehr normal sein. Denn in Konstanz fehlen Tagestouristen, Kunden, Flaneure. Deutschland hat um 8 Uhr Grenzkontrollen eingeführt, um die Verbreitung des Coronavirus zu bremsen. Schweizer Einkaufstouristen werden von der Bundespolizei konsequent abgewiesen. Den wenigen Deutschen, die sich in die Altstadt verirren, ist nicht nach Shopping zumute. Und schon sind die Auswirkungen der Kontrollen zu spüren, es herrscht gähnende Leere. „Ich warte seit zwei Stunden“, klagt Taxifahrer Hajdar Sen am Bahnhof. „Wir stehen uns die Füße in den Bauch“, moniert Bäckereifachverkäuferin Diaa Behjat im „Sternenbäck“. Noch verursachen die ausbleibenden Kunden nur eine kleine Delle im an stetig steigende Umsätze gewöhnten Einkaufszentrum Lago. „Aber wir haben gar keine Gäste“, berichtet Lea Scharf im Eiscafé „Gladina“in der Fußgängerzone, „so kann das nicht weitergehen.“
Den Touristenstrom eindämmen, das Virus einbremsen: Ganz offensichtlich ist die Botschaft, die Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Sonntag verkündet hat, in Konstanz angekommen. Deutschland kontrolliert nach Jahrzehnten des freien Personenverkehrs an den Übergängen zu Österreich, Frankreich, Luxemburg und Dänemark sowie zur Schweiz nun wieder die Grenzen. In einer „extrem kritischen Situation“kann ein EU-Land Grenzkontrollen gegen das Risiko einer ansteckenden Krankheit auch innerhalb der normalerweise kontrollfreien Schengenzone wieder einführen.
Die Ankündigung sorgt am Montag dafür, dass sich viele Menschen aus den Nachbarländern gar nicht erst auf den Weg nach Deutschland machen. „Keine besonderen Vorkommnisse“, meldet Bundespolizeisprecher Christian Werle am Abend aus Konstanz, „die Leute haben Verständnis und lassen uns unseren Job machen. Wichtig ist uns, dass es sich nicht um eine Schließung handelt. Deutschen Staatsbürgern kann die Einreise nie verweigert werden.“
Werle erklärt das Vorgehen: „An den großen Grenzübergängen wird kontrolliert, also in Konstanz-Autobahn, Friedrichshafen Flughafen, Singen Hauptbahnhof. Ob an weiteren Grenzübergängen kontrolliert wird, muss variabel entschieden werden, teilweise werden Grenzübergänge auch geschlossen.“Der Sprecher betont: „Der Verkehr von Waren und Pendlern ist gewährleistet. Ausländische Reisende ohne triftigen Grund dürfen nicht mehr nach Deutschland einreisen. Pendler sollten aber glaubhaft machen können, dass sie solche triftigen Gründe für die Einreise nach Deutschland haben. Beispielsweise sollten sie den Arbeitsvertrag oder eine Kopie des Vertrages vorlegen, um sich zu legitimieren.“
Auch an einem zweiten Übergang, der Grenzstation auf der Autobahn zwischen Basel und Weil am Rhein (Kreis Lörrach), eine der größten Europas, registrieren die Beamten deutlich weniger Autos als sonst. „Wir haben den Eindruck, dass viele Schweizer vorbereitet sind“, sagt Katharina Keßler von der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein. „Vorrang hat nun der Warenverkehr“, betont Antje Bendel vom Hauptzollamt Lörrach. Zollverfahren würden beschleunigt, um den grenzüberschreitenden Warenverkehr nicht zu beeinträchtigen. Versorgungsengpässe in Corona-Zeiten sollen so verhindert werden.
Wie sich die Kontrollen dennoch auswirken, ist in Konstanz und der direkt angrenzenden Schwesterstadt Kreuzlingen zu besichtigen. Kein Wasser mehr auf den Paletten, nur noch wenig Brot und noch weniger Gemüse: An diesem Montagmorgen sind viele Waren im Schweizer Supermarkt Denner in Kreuzlingen ausverkauft. Unerwartete Kundschaft hat sich eingedeckt: „Normalerweise fahre ich am Montag immer nach Konstanz, zu Aldi und Lidl“, sagt Beat Bollinger, „aber jetzt sind die Grenzen dicht, da muss ich hier in der Schweiz meinen Bedarf für die nächste Woche einkaufen.“Der 60-Jährige aus dem Thurgau gehört zu den Tausenden Einkaufstouristen aus der Schweiz, die seit Jahren wegen des günstigen Wechselkurses des Schweizer Franken in Konstanz einkaufen, in den dortigen Restaurants essen oder im Spielcasino das Glück herausfordern. Damit ist vorerst Schluss. „Shopping sei kein triftiger Grund für die Einreise, hat mir der deutsche Zoll heute früh die Zurückweisung begründet“, berichtet Bollinger, „dann eben nicht!“
Wie Bollinger müssen am Grenzübergang Konstanz-Autobahn alle Schweizer Bürger seit Montag früh den Beamten der Bundespolizei, die in Deutschland für den Grenzschutz zuständig ist, und des Zolls bei der Einreise nach Deutschland erklären, was sie in die Bundesrepublik führen soll. Wo die Deutschen sonst großzügig durchwinken, stehen jetzt, nach Lehrbuch taktisch gestaffelt in drei abgesetzten Doppelposten, junge Bundespolizisten und schauen sich jedes Fahrzeug, vor allem die Insassen, genau an. An den Kontrollstellen sind wie früher Personalausweise oder Reisepässe gefragt. Die Beamten sind erst in der Nacht aus St. Augustin bei Bonn nach Süddeutschland verlegt worden, der Betrieb müsse sich jetzt einspielen: „Daher treffen die Polizisten immer eine Einzelfallentscheidung“, sagt Werle.
Ortswechsel. Während sich an der Grenze zur Schweiz die Situation entspannt, kommt es am Übergang zwischen Bayern und Vorarlberg kurze Zeit nach Einrichtung der Grenzkontrollen bei der Einreise nach Deutschland zu Staus. Viele Rückkehrer aus den geschlossenen Skigebieten in Österreich sind darunter. Kilometerweit stehen die Autos, zeitweise von Dornbirn bis Bregenz. Die meisten Autofahrer nehmen die Kontrollen mehr oder weniger gelassen hin, obwohl eine ganze Reihe von ihnen die Maßnahmen für völlig überzogen und überflüssig hält: „Des is a völliger Schmarrn, da verdient sich nur die Pharmaindustrie goldene Nasn“, schimpft eine Österreicherin, die mit einem Passauer Auto im Stau steht. Sie habe 17 Jahre im Krankenhaus gearbeitet, erzählt sie, und sei sich sehr sicher, dass die Grippe wesentlich schlimmer sei.
Gut möglich, dass diese Österreicherin aus einem nachvollziehbaren Grund völlig entnervt ist: „Denn zwischen Südtirol und Vorarlberg ist keine einzige Raststätte geöffnet, keine Toilette, nichts“, berichtet Fernfahrer Peter Martin. An keiner Stelle dürfe man die Fernstraße verlassen, weiß der aus Kißlegg stammende Trucker, der an diesem Montag schon bei Brixen in Südtirol Waren
auf den 40-Tonner geladen hat und über den Brenner und Innsbruck gefahren ist. Die bei Skiurlaubern beliebte norditalienische Provinz Südtirol ist schon seit einiger Zeit als Risikogebiet eingestuft. Inzwischen gilt dies wegen der Ausbreitung des neuen Virus bereits für ganz Italien.
Wenigstens diese gute Nachricht hält der Montag bereit: Der Transport von Gütern über den italienisch-österreichischen Grenzpass Brenner läuft nach Angaben der Polizei ohne größere Probleme. Trotz der Grenzkontrolle auf österreichischer Seite bilde sich nur hin und wieder ein Stau von ein, zwei Kilometern, sagt der Leiter der Landesverkehrsabteilung in Tirol, Markus Widmann, am Montag. „Für die Kontrolle nutzen wir drei Spuren.“Neben dem Überprüfen der Dokumente werde auch stichprobenhaft ein Gesundheitscheck gemacht, ob es einen Verdacht auf das Coronavirus gebe. Der grenzüberschreitende Autoverkehr sei ohnehin sehr gering.
Zurück an die Grenze bei Lindau. Verständnis überwiegt. Ein Schweizer Kurierfahrer findet: „Das muss sein. Es ist verrückt, aber es muss sein. Die Leute sterben da so einfach weg, da muss man doch etwas dagegen tun.“Und wenn diese Maßnahmen ein wenig helfen könnten, seien sie auch gerechtfertigt. Ein anderer Schweizer findet die Aktion „super, aber sie (die Staaten) sollten es halt einheitlich machen“. Entgegen der Ankündigung Österreichs, die Schweizer Grenze streng zu kontrollieren, sei bei seinem Übertritt von der Schweiz nach Österreich gar nichts an Kontrolle gewesen.
An der Grenze Ziegelhaus bei Lindau kommen den ganzen Tag über Fußgänger und Radfahrer zu den Bundespolizisten, um sich zu erkundigen. Sie wollen wissen, ob sie denn am Abend oder am Folgetag die Grenze noch passieren könnten. Darunter ist eine Frau, die in Vorarlberg wohnt, aber im Lindauer Krankenhaus arbeitet und am Abend dort zur Nachtschicht antreten muss. Klare Antworten können die Beamten ihr nicht geben: Stündlich bekämen sie neue Anweisungen, daher wollen sie sich nicht festlegen.
Noch ein Ortswechsel, jetzt zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Die Europabrücke zwischen Kehl und Straßburg war lange Symbol der Trennung. Stationäre Grenzkontrollen prägten das Bild wie vorm Pfändertunnel bei Bregenz. Hier wie dort zogen im Europa der offenen Grenzen die Wachposten ab. Und die Brücke über den Rhein, die Deutschland mit Frankreich verbindet, steht seither für ein Europa ohne Schranken mit freier Fahrt über die Grenze. Mit dem Coronavirus sind Grenzkontrollen seit Montag auch hier wieder Alltag. Reisende und Berufspendler reagieren zunächst verunsichert.
In der angrenzenden französischen Region Grand Est steigt die Zahl der Infektionen derzeit schnell an. Bis Sonntagnachmittag waren dort 1378 Fälle bestätigt, im Vergleich zum Vortag waren 293 dazugekommen. Die Entwicklung bestätigt, dass sich die Situation verschlechtere, teilte die Region mit und wies darauf hin, dass Vorsichtsmaßnahmen strikt eingehalten werden müssten. Dennoch messen die Bundespolizisten kein Fieber. Dafür sind die Polizisten keine Experten, wie sie sagen. Das sei Aufgabe der Gesundheitsbehörden. Doch die sind zumindest am Montagvormittag in Kehl nicht an der Grenze vertreten. Formulare für Berufspendler oder Passierscheine gibt es weder in Konstanz noch in Lindau oder in Kehl. Noch nicht. Die Behörden arbeiteten daran, heißt es.
Diese Untätigkeit stößt mitunter bitter auf. Ein Vietnamese, der mit dem Fahrrad die Grenze Richtung Österreich passiert, regt sich daher auf: „Ich war zwei Monate in Asien, bis Februar, als alles losging, komme zurück und stelle fest, wie arrogant die Leute hier leben. Sie leben nach dem Motto: Hierher kommt das Virus eh nicht, also brauche ich auch keine Vorsorge treffen.“Die Maßnahmen jetzt hält er für völlig sinnlos, da viel zu spät. Er wolle sich nun um ein One-Way-Ticket zurück nach Asien bemühen: „Bloß weg!“
„Deutschen Staatsbürgern kann die Einreise nie verweigert werden.“