„Die Menschen akzeptieren die strengen Vorgaben“
Niedersachsens Ministerpräsident Weil über Corona, den Föderalismus und die Krise der Autoindustrie
BERLIN - Stephan Weil verbreitet leichten Optimismus. Nach Ostern werde man hoffentlich feststellen, dass die aktuellen Kontakteinschränkungen einen „spürbaren Einfluss“auf den Verlauf der CoronaInfektionskurve nehmen, sagte Niedersachsens Ministerpräsident am Montag. Die Kontaktverbote krempeln auch die Arbeitstage des SPDPolitikers grundlegend um. Weil ist gewöhnlich viel unterwegs und sucht dabei den Kontakt zu den Leuten. Nun sitzt er tagelang in seinem Büro in Telefonkonferenzen. Auch das lange geplante Interview mit Mathias Puddig und Klaus Wieschemeyer kam nach coronabedingten Verschiebungen und Verlegungen nur noch telefonisch zustande.
Herr Weil, Sie waren vergangene Woche im Supermarkt. Wie waren Ihre Eindrücke?
Auf den ersten Blick ist alles normal, auf den zweiten Blick dann doch nicht. Der Markt hatte in der vergangenen Woche mehr Umsatz als in der Vorweihnachtszeit. Und man merkt bei den Gesprächen mit den Beschäftigten, dass sie sehr unter Druck stehen.
Wie geht es weiter?
Wir hoffen, dass sich die Lage beruhigt. Eigentlich müssten ja alle privaten Depots für Klopapier inzwischen aufgefüllt sein.
Klopapier gibt es also genug. Was ist mit den anderen Dingen des Lebens?
Wir haben objektiv keinen höheren Bedarf an Lebensmitteln, die Lebensmittelproduktion läuft und die Logistik auch. Im Moment machen wir uns die Probleme durch ein ungewöhnliches Kaufverhalten selber. Würden sich alle normal verhalten, hätten wir an dieser Stelle gar keine Schwierigkeiten. Wir haben derzeit genug echte Probleme. Wir brauchen nicht zusätzlich selbstgeschaffene.
Es gab viel Kritik am unterschiedlichen Vorgehen der Länder. Hat sich der deutsche Föderalismus überlebt?
Erst mal: Deutschland hat mit seinem föderalen System im internationalen Vergleich in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut abgeschnitten. Was Corona angeht, werden wir sicher in einem halben oder in einem Jahr einen internationalen Vergleich ziehen können. Stand jetzt behaupte ich, dass wir in Deutschland dann relativ gut dastehen werden. Die Sterberate ist in Deutschland mit etwa 0,3 Prozent bislang außerordentlich niedrig. Das deutet darauf hin, dass bei uns vieles gut funktioniert. Föderalismus ist für mich aber auch kein Selbstzweck. In einer Situation wie jetzt müssen wir auch versuchen, uns untereinander abzustimmen und so gut wie möglich auch gemeinsam vorzugehen.
Das hat am vergangenen Sonntag funktioniert?
Ja, wir haben uns mit allen 16 Ländern und mit der Kanzlerin auf weitere drastische Maßnahmen geeinigt. Es gelten jetzt überall sehr weitreichende Kontaktverbote. Man muss auch im Privaten die direkten Kontakte auf ein Minimum reduzieren, darf das Haus nur noch zu zweit verlassen oder im Familienverbund. Draußen werden Ansammlungen von mehr als zwei Personen aufgelöst, wenn es dafür keinen zwingenden Grund gibt, und wir haben zahlreiche Dienstleistungen verboten. Und zu meiner großen Erleichterung akzeptieren die Menschen diese strengen Vorgaben und halten sich daran.
Dennoch gibt es regionale Unterschiede …
Ja, das gehört dazu. Es gibt hochbelastete Bundesländer und welche, in denen das Virus einstweilen keine sonderlich große Rolle spielt. Der große Vorteil eines dezentralen Systems besteht in einer Lage wie der aktuellen darin, dass man schneller und flexibler auf örtliche Gegebenheiten eingehen kann. Dass dann regional unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, hat seine Gründe. Ich hoffe aber, dass wir die erzielten Fortschritte weiter vertiefen können und in den 16 Ländern möglichst einvernehmlich weiter vorgehen.
Gibt es Dinge, die Herr Weil in Hannover besser entscheiden kann als Herr Spahn in Berlin? Zumindest weiß Herr Weil hoffentlich besser Bescheid, was in seinem Land los ist, als ich das vom Bundesgesundheitsminister erwarten kann.
Seit Donnerstagabend ruht auch die Produktion bei Volkswagen. Was bedeutet das für die Industrie?
Das war eine ebenso schlechte wie auch aus zwei Gründen erwartbare Nachricht. Erstens sind die Lieferketten vor allem in Asien ins Stocken geraten. Zudem haben viele Menschen gerade andere Sorgen, als sich ein neues Auto zu kaufen. Es wird darauf ankommen, dass das Wirtschaftsleben möglichst rasch wieder beginnen kann und wir zu normalen Zeiten zurückkehren.
Wie lange wird das dauern?
Das Jahr 2020 wird in jedem Fall ein wirtschaftlich sehr schwieriges, ich erwarte eine Rezession. Gleichwohl müssen wir versuchen, Strukturen zu erhalten. Wir haben da ja Erfahrung. Vor etwas mehr als zehn Jahren hat Deutschland nach der Weltwirtschaftskrise ein beachtlich schnelles Comeback gefeiert. Warum? Weil es uns gelungen ist, Beschäftigungsbrücken zu bauen und Entlassungen zu vermeiden und so schnell wieder einzusteigen. Das ist auch dieses Mal unser Ziel.
Die Autoindustrie braucht sehr viel Geld für den Umstieg auf neue Antriebe. Ist das noch da?
Bei den Herstellern bin ich da zuversichtlich. Meine Sorge gilt in erster Linie den vielen kleinen und mittleren Zulieferern. Die waren schon vorher durch die Transformation sehr gefordert.
Wenn Sie versuchen, in die Zukunft zu schauen: Was werden wir aus dieser aktuellen Krise gelernt haben?
Ich hoffe sehr, dass wir gelernt haben werden, was wir an diesem Staat und an unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben und dass wir in einer solidarischen Gesellschaft leben, die zusammenhält, wenn es darauf ankommt. Noch vor wenigen Wochen gab es vielerorts sehr viel Egoismus und Individualismus. Und viele Menschen haben die Nase gerümpft, wenn sie über Politik, Politiker, den Staat und vieles andere gesprochen haben. Nun nehme ich wahr, dass die Menschen einander helfen und Rücksicht nehmen. Und der Staat nimmt sehr verantwortungsvoll enorm wichtige Aufgaben wahr und bekommt dafür in der Bevölkerung viel Anerkennung. Dafür bin ich dankbar, das motiviert.
Was könnte daraus folgen?
Ich hoffe, dass viele feststellen werden, dass die Merkels und anderen deutschen Politiker eine bessere Gewähr für ein sicheres Leben bieten als die Trumps, Johnsons und wie sie alle heißen mögen.
Man sagt, dass in Krisen Kanzler gemacht werden. Welcher SPDPolitiker ist aus Ihrer Sicht der bessere Krisenmanager: Arbeitsminister Hubertus Heil oder Finanzminister Olaf Scholz?
Ich habe im Moment den Kopf sehr voll. Aber diese Frage ist da gerade definitiv nicht dabei.
Auch von der Agenda gerutscht ist das Thema Energiewende. Liegt das Thema jetzt brach?
Es ist natürlich schade, dass dieses Thema, zu dem wir uns schon lange verabredet hatten, beim Ländertreffen vor zwei Wochen gar keine Rolle gespielt hat. Aber die Lage ist so, wie sie ist. Wir haben alle derzeit nur ein Thema. Aufgeschoben darf aber nicht aufgehoben sein. Wir wissen, dass Corona hoffentlich vorbeigehen wird, aber der Klimawandel bleibt. Da haben wir eine Menge Arbeit vor uns. Aber nicht jetzt.