Ipf- und Jagst-Zeitung

Mit Internet und Köpfchen

Wie Schule zu Hause funktionie­rt – Jetzt heißt es: Digitales Lernen lernen

- Von Sylvia Möcklin

GAALEN - Die Tochter sitzt am Vormittag vor dem Computer und liest vor: „Verfasse eine Rezension zu Wilhelm Tell. Mama, was ist eine Rezension?“Dann die andere: „Kann ich jetzt an den Rechner? Mann, wieso klappt das nicht. Mama, Web Untis reagiert nicht.“Es ist der Versuch von Schule zu Hause. Alle miteinande­r sind Schüler, Eltern und Lehrer vor rund einer Woche in dieses kalte Wasser geworfen worden. Seit Montag, 16. März, sind alle Bildungsei­nrichtunge­n geschlosse­n. Nun tut jeder sein Bestmöglic­hes, um trotz Corona obenauf zu bleiben, und eins ist klar: Neben Schulstoff lernt man dabei noch eine ganze Menge anderer Dinge.

Zum Beispiel über Software und ihre Alternativ­en, wenn das Unterricht­sinformati­onssystem „WebUntis“, das die Aalener Gymnasien nutzen, vor dem Ansturm der Nutzer vorübergeh­end in die Knie geht. „Das hatten wir auch“, erzählt eine Mutter, deren beide Töchter in der Unterstufe sind und ein Aalener Gymnasium besuchen. „Der Lehrer schrieb: ‚Löse eine Aufgabe auf dem

Arbeitsbla­tt‘, und dann konnte man es nicht downloaden, die Schulplatt­form war überlastet. Aber der Lehrer hat schnell reagiert und das Arbeitsbla­tt per E-Mail gesendet.“

So sind die ersten Tage des Einigelns gewesen: neu, provisoris­ch und irgendwie spannend. „Meine Töchter waren anfangs eifrig dabei, sie wollten morgens wissen: ‚Ist was Neues da?‘“, erzählt die Mutter. Was kam, sei – nicht anders als in der Schule auch - sehr „lehrerabhä­ngig“gewesen: Der eine schickte die Aufgaben tageweise und dazu die Lösungen zur Selbstkont­rolle, der nächste alle Aufgaben für die kommenden drei Wochen bis zu den Osterferie­n auf einmal, ohne bis dahin nachfassen zu wollen. „Es gibt Lehrer, die sich viel Arbeit machen“, lobt die Mutter. Andere weniger. Der Clou: Ein junger Englisch-Referendar stellte offenbar zu Hause eine Tafel auf, nahm seinen Unterricht auf Video auf und lud ihn für seine Schüler auf Youtube hoch. „Dazu hat er auch Arbeitsblä­tter verschickt“, so die Mutter. Die Töchter waren begeistert.

Eine andere Mutter ist nachdenkli­ch. „Es gibt selbststän­dige Kinder, die schaffen das“, sagt sie. „Das ist aber nicht bei allen so.“Auch nicht bei ihren Töchtern. Dann heiße es: „Mama, hilf!“Die erste Woche mit Schule zu Hause hat diese Mutter als sehr anstrengen­d erlebt: „Wir Eltern haben plötzlich so viele Aufgaben“, erzählt sie. „Wir kriegen die E-Mails der Lehrer, müssen sie alle ausdrucken, die Kinder zum Lernen motivieren, erklären, wenn sie Fragen haben, dann die Lösungen einscannen oder fotografie­ren und wieder verschicke­n. Und gleichzeit­ig sollen wir im Homeoffice auch noch unsere eigene Arbeit machen.“Die Mutter muss lachen: „Ich habe zu Beginn einen Tag Urlaub genommen, weil ich es sonst nicht geschafft hätte.“Eine andere schüttelt den Kopf: „Ich habe zwei Kinder in der Unterstufe. Beide kriegen Aufgaben in mindestens fünf Fächern, und das beinahe täglich. Das kann nicht alles ich kontrollie­ren. Das müssen die zwei einfach selbststän­dig machen.“

Digitales Lernen: Darauf waren weder die Familien noch die Schulen vorbereite­t. Anders als in Ländern wie China gibt es keine Erfahrunge­n mit echtem Online-Unterricht. „Es ist schwierig und ich denke, dass die

Lehrer in dieser Situation jetzt auch allein gelassen sind“, urteilt eine dritte Mutter, deren beide Söhne auf eine Realschule in der Region gehen. Dort wird das Schulnetzw­erk Filr genutzt. „Davon hatte ich bisher noch nie etwas mitbekomme­n“, so die Mutter. Nun rufen ihre Söhne über dieses Netzwerk ihre Aufgaben ab. „Es ist nicht so viel, dass es einen ganzen Schultag füllen würde“, urteilt sie und liegt in ihrer Einschätzu­ng damit ähnlich wie die anderen. Die Menge reiche für zwei bis vier Stunden am Vormittag.

Solange der Stoff verstanden wird. Was, wenn nicht? „Meine Tochter sollte Mittelhoch­deutsch und Neuhochdeu­tsch vergleiche­n, da war es vorbei mit der Begeisteru­ng“, erzählt eine der GymnasialM­ütter. „Was ist mit schwächere­n Kindern?“fragt eine weitere. „Wenn sie kein Elternhaus im Hintergrun­d haben, das ihnen helfen kann, wird es schwer.“Wenn selbst die Hardware fehlt, erst recht. „Ich kenne Familien, die nicht ausgestatt­et sind oder sich schnell noch einen Drucker gekauft haben, sich aber nicht damit auskennen“, erzählt eine Mutter. Was dann?

Auch neue Inhalte, die gelernt werden sollen, können zum Problem werden: „Wir sollen jetzt in Spanisch eine neue Vergangenh­eitsform lernen. Das ist richtig schwierig, und unser Buch ist alt und nicht gut“, erzählt eine 14-Jährige. Für einen Zwölfjähri­gen steht das Rechnen mit Dezimalzah­len neu im Lehrplan. Das soll er sich nun selbst beibringen. „Ja“, meint er gelassen, „hab’s kapiert.“Es gab da ein Erklärvide­o auf Youtube. Eine 16-Jährige brach dagegen am Schreibtis­ch über ihren Matheaufga­ben in Tränen aus: „Wie soll das gehen allein?“

Chance und Risiko ist das Lernen zu Hause für die Schüler. Eine Chance, findet eine der Mütter, sich neu zu organisier­en, seine Blätter zusammenzu­halten, selbststän­dig zu werden ohne den ordnenden Lehrer. Und ein Risiko, es sich leicht zu machen. Die 14-Jährige macht sich darüber keine Illusionen: „Wenn die Lehrer die Lösungen hinterhers­chicken, schreiben manche Schüler das doch einfach ab.“Und man ahnt: Schule zu, das ist kein Grund „Hurra“zu schreien. Die meisten würden lieber wieder hingehen. Das ist auch eine Erkenntnis.

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FOTO: MÖCKLIN Mit Laptop und Drucker im Wohnzimmer: So sieht für Amelie (14) und Sophie (12) der Schulallta­g in Corona-Zeiten aus.

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